Initialzünder gesunder und pathologischer Entwicklungen
Treibstoffe gesunder und pathologischer Entwicklungen
Der Mensch ist als Kind hilflos ausgesetzt. Dann ist er in der Lage, ein Bild von sich zu entwerfen. Im nächsten Schritt vergleicht er sich mit anderen. All das kann dazu führen, dass er ein Leben lang mit der Bestätigung seines Wertes beschäftigt ist. Vieles, was er dazu tut, verursacht seelische Erkrankungen.
Psychische Erkrankungen sind nicht nur Folge problematischer Bedingungen. Sie sind zugleich missglückte Strategien, um problematische Bedingungen zu überwinden.
Selbsterkenntnis ist bei der Mehrzahl seelischer Erkrankungen die wesentliche Grundlage zur Heilung. Das gilt vor allem für alle psychogen bedingten Störungen, in nachgeordneter Form aber auch für psychotische Erkrankungen. Psychogen bedingte Störungen werden durch unangemessene Urteile über die Wirklichkeit verursacht. Aus irrigen Urteilen heraus, wird problematisch gehandelt.
Sozialphobisch reagierende Menschen sind überzeugt, dass jede Abwertung ihrer Person mit allen Mitteln zu verhindern ist. In der Folge versuchen sie, anderen keinerlei Gelegenheit zu geben, sie kritisch zu beurteilen. Der Sozialphobiker geht vorsorglich auf Distanz, um zu verhindern, dass andere sich von ihm distanzieren könnten.
Bei psychotischen Erkrankungen kommt es nicht nur zu Trugwahrnehmungen. Vielmehr führen Trugwahrnehmungen zur Verkennung der Wirklichkeit, was in der Folge weitere Störungen verursacht. Zu erkennen, welche Wahrnehmung trügerisch und welche verlässlich ist, ist Voraussetzung dafür, dass sich der Psychotiker in der Wirklichkeit orientieren kann.
Psychotische Erkrankungen werden durch körperliche Faktoren verursacht.
Körperliche Faktoren als Auslöser psychiatrischer Störungen können eindeutig identifiziert werden. Zu nennen sind...
Fragt man nach dem konkreten Substrat psychogener Störungen so sind die unverarbeiteten Erfahrungen bzw. das seelische Trauma zwar etablierte Begriffe, wie es von der Erfahrung zur Störung kommt, wird aber erst klar, wenn man sich deutlich macht, dass Erfahrungen zu Urteilen, Bewertungen und Vorstellungen führen. Was tatsächlich psychogen krank macht, sind nicht die traumatisierenden Erlebnisse, sondern die irreführenden Urteile über die Struktur der Wirklichkeit, die im Anschluss an die Erfahrungen durch kognitive Prozesse hervorgebracht und ins Selbst- und Weltbild übertragen werden. Von dort aus, aus seinem irrigen Selbst- und Weltbild heraus wird der Neurotiker psychisch krank. Der Kranke lebt im Irrtum, der Gesunde mit der Wirklichkeit.
Macht man sich klar, dass der pathogen wirksame Faktor bei der Mehrzahl der Erkrankungen in Fehlurteilen liegt, die zu untauglichen Handlungen führen, wird die Bedeutung der Selbsterkenntnis offensichtlich. Um gesund zu werden, muss der Kranke dreierlei erkennen:
Die notwendige Selbsterkenntnis kann auf dem Wege der Selbsthilfe erreicht werden. Niemand hindert den Menschen daran, Verantwortung für sich zu übernehmen, sich selbst zu betrachten und weise zu werden. Ein Psychotherapeut kann bei diesem Prozess aber eine große Hilfe sein. Ein guter Therapeut ist in der Lage, den Prozess der Selbsterkenntnis dramatisch zu beschleunigen. Das ist seine wichtigste Aufgabe.
die biographische Entwicklungsgeschichte im Hinblick auf die Ausbildung des Selbstwertgefühls
die psychologischen Manöver, die das Individuum anwendet um...
Das Verständnis der biographischen Grundlagen ist der erste Schritt. Sobald ein Individuum erkennt, durch welche Umstände sein Selbstwertgefühl in der Kindheit geschwächt wurde, erkennt es auch, dass eventuelle Defizite kein unverrückbares Schicksal sind, sondern durch die eigenen seelischen Reaktionen auf die äußeren Umstände entstanden.
Im zweiten Schritt gilt es, problematische Reaktionen zu identifizieren. Problematisch sind Reaktionen, die das Selbstwertgefühl zwar vor Schaden bewahren sollen und es kurzfristig auch tun, die es langfristig aber eher untergraben.
Man kann das Leben als Folge von Ursachen betrachten; oder als einen zielgerichteten Prozess. Die materialistische Weltsicht geht davon aus, dass es eine Folge physikalischer Ursachen ist. Der Materialist vermutet, dass Elementarteilchen bestimmte Eigenschaften haben, die dazu führen, dass sich beim Zusammentreffen vieler Elementarteilchen Strukturen bilden, die sich durch eine Kettenreaktion komplexer Interaktionen zu Atomen, Planeten, Molekülen, Zellen, Biotopen und schließlich zu bewussten Individuen auftürmen, ohne dass eine Zielsetzung mit der Entstehung all dessen verknüpft wäre. Für den Materialisten ist die Evolution blind. Sie ist eine Kette von Zufällen. Sie geschieht, so wie eine Kugel Abhänge hinabrollt, wie Wasserdampf nach oben steigt und Wolken bildet. Niemand kann beweisen, dass der Materialist sich irrt.
Wer die immanente Dynamik des eigenen Daseins betrachtet, kann zu einer anderen Vermutung kommen. Seine individuelle Entwicklung erscheint ihm womöglich als ein derart komplexes Sinngefüge, dass er kaum glauben kann, dass all das nur ein Spiel blinder Zufälle ist, das in einem ebenso blinden Universum ohne Ziel und Verstand vonstattengeht. Er wird glauben, dass das Leben nicht nur in eine Zukunft gestoßen wird, die einst im Abgrund endet, sondern dass das Leben ein Ziel verfolgt. Eine Antwort auf die Frage, welche Zielsetzung dem Leben dabei inneliegen könnte, ist leicht zu finden.
Leben besteht aus Strukturen, die einen in sich abgestimmten Zusammenhang bilden, der danach strebt, seinen Bestand entgegen jener Kräfte aufrechtzuerhalten, die ihn infrage stellen. Das Leben versucht, widerstrebenden Kräften überlegen zu sein. Überlegenheit heißt dabei: über sich selbst bestimmen zu können. Das Leben strebt aus der Unterworfenheit in die Freiheit. Sein Ziel ist, sich aus den Begrenzungen zu befreien, denen es unterworfen ist.
Bei der Behebung psychiatrischer Symptome macht es Sinn, diese Grundtendenz des Lebens im Auge zu behalten. Selbst das Wort beheben ist Ausdruck dieser Grundtendenz. Psychiatrische Symptome werden behoben, indem sich das Individuum über die Bedingungen erhebt, die die Symptome verursachen. Leben heißt: Ursachen nicht als bestimmend anzuerkennen. Die Psychiatrie dient der Entfaltung des Lebens. Sie dient der Befreiung des Menschen aus vorläufiger Knechtschaft. Dient sie anderem, missversteht sie das Leben an sich.
Der Mensch ist eine besondere Form des Lebens. Mehr als alle anderen Spezies ist sich der Mensch als Individuum seiner selbst bewusst. Der Einzelne weiß, dass es ihn als Einzelnen gibt. Er erkennt sich als besondere Einheit, die im Umfeld eigene Ziele verfolgt. Sämtliche Ziele, die der Einzelne verfolgt, lassen sich dem Grundthema des Lebens zuordnen. Es sind Varianten und Etappen des Versuchs, sich der Fremdbestimmung durch Faktoren zu entziehen, die sich seiner Selbstbestimmung widersetzen. Das letzte Ziel ist die Überwindung des Todes. Was den Tod überwunden hat, ist freigesetzt. Es ist allen Bedingungen überlegen, die über es bestimmen könnten.
Alle Organe lebender Organismen bezwecken dasselbe. Sie dienen der Sicherstellung und Erweiterung der jeweils erreichten Selbstbestimmung. Augen sehen Ressourcen oder Gefahren. Beine laufen darauf zu oder davon weg. Hände ergreifen oder wehren ab. All das dient dazu, den Bestand einer Struktur zu bewahren, die ein bis dahin erreichtes Maß an Selbstbestimmung verkörpert. Die Sexualorgane dienen einem transzendenten Zweck. Sie sorgen dafür, dass bislang entwickelte Möglichkeiten zur Selbstbestimmung über den Tod des Individuums hinaus auf neue Individuen übertragen werden.
Auch die Psyche hat die Qualität eines Organs, das der Selbstbestimmung des Individuums dient. Sie besteht aus zwei Komponenten:
Dem halten wir den Grottenolm entgegen. Der Grottenolm ist blind. Warum? Weil es in seinem Habitat zu dunkel ist, um etwas zu sehen. Deshalb haben sich seine Augen zurückgebildet. Die gleiche Erfahrung wie der Grottenolm macht der Teilnehmer eines Russischkurses an der Volkshochschule Paderborn. Die Fähigkeit, die er sich einst erwarb, löst sich im Nichts auf, falls sie niemals angewendet wird. Die Natur ist ökonomisch. Was keinen Zweck erfüllt, wird gar nicht erst entwickelt. Was seinen Zweck verliert, wird eingestampft.
Wenn das Bewusstsein keine Bühne des freien Willens wäre, warum sollte es dann entstehen? Wenn es so ist, dass der Turmbau der Menschenwelt allein durch bedingte Reflexe vonstattengeht, wozu sollte die Natur dann eine Instanz erschaffen, die sich bloß einbildet, zum Turmbau etwas beizutragen? Wenn das bewusste Ich nicht zur Freiheit fähig ist, ist es so überflüssig wie Augen beim Grottenolm.
Das Bewusstsein ist seinerseits eine besondere Instanz:
Es ist die Instanz, die Leid erkennbar macht. Leid signalisiert dem Individuum, dass es Bedingungen unterworfen ist, die seiner Übereinstimmung mit sich selbst und damit dem Leben widersprechen. Leid fordert das Individuum dazu auf, etwas an seiner Lage zu verändern.
Das Individuum sucht einen Weg durch die Wirklichkeit. Dabei wird es keineswegs nur von Ursachen bedrängt durch die Gegenwart nach vorne gestoßen. Sein Erleben ist nicht bloß kausal bedingt. Sein Erleben ist auf die Zukunft ausgerichtet. Es ist final. Es verfolgt ein Ziel. Sein Ziel ist das Ziel des Lebens an sich: sich über begrenzende Kräfte hinwegzusetzen.
Bei diesem Gang durch die Wirklichkeit ist all sein Tun mit grundsätzlichen Themen verwoben, die es zu handhaben hat:
der existenziellen Vorgabe der beiden Pole des Psychologischen Grundkonflikts: Zugehörigkeit und Selbstbestimmung
In den wissenschaftlichen Entscheidungsgremien hat Theorie E derzeit die Nase vorn. Im Vertrauen auf die Schwarmintelligenz der Mehrheit schließen wir uns also ihren Vertretern an und fragen uns im Hinblick auf das Wesen bepelzter Affen, womit sich der nackte Affe soziodynamisch am meisten beschäftigt. Und richtig: Wie der Affe verwendet der Mensch einen großen Teil der Kraft, die nach der Befriedigung seiner körperlichen Grundbedürfnisse übrigbleibt, mit der Bestimmung, Steigerung und Bestätigung seines Rangs in der Gruppe. Das emotionale Echo dieses Rangs ist das Selbstwertgefühl.
Nachdem eben an erster Stelle die Polarität des Psychologischen Grundkonflikts aufgeführt wurde, kann man fragen, warum im zweiten Schritt der Betrachtung zunächst das Selbstwertgefühl aufgegriffen wird. Es ist so, weil der Frage nach dem Wert des Individuums bei der Behebung psychischer Probleme oberste Priorität zukommt.
Psychisches Leid zu beheben heißt, das Individuum nach oben zu heben. Das setzt voraus, dass das Individuum es wert ist, oben zu sein. Im Umkehrschluss heißt das:
Die Psychologie spricht von Selbstwertgefühl bzw. seiner Kehrseite, dem Minderwertigkeitsgefühl. Versucht man, diese Gefühlsqualitäten in sich zu orten, findet man nichts Spezifisches. Vielmehr ist es so: Seelisches Wohlbefinden und intaktes Selbstwertgefühl sind eins. Seelisches Unbehagen und Minderwertigkeitsgefühl sind ebenfalls eins.
Wenn von Gefühlen des Wertes bzw. des Unwertes die Rede ist, hat man eine Bewertung bereits vorausgesetzt. Insofern entpuppen sich Selbstwertgefühl und Minderwertigkeitsgefühl als Resultate von Urteilen. Das Gefühl ist der Nachklang eines Urteils, das der Einzelne über seinen Wert fällt. Dabei ist Folgendes festzuhalten:
Ein bedingtes Selbstwertgefühl ist an persönliche Qualitäten und soziale Positionen gebunden. Es ist instabil, weil es auf Zurücksetzungen der Person, also Zurücksetzungen des relativen Selbst, reagiert. Es ist instabil, weil die Umstände, von denen es abhängt, ihrerseits instabil sind.
Gitta ist mit 29 Oberärztin an der Klinik. Klaus ist 48 und Assistenzarzt in Gittas Abteilung. Er kommt sich minderwertig vor.
Klaus' Kollege Bertram ist ebenfalls Assistenzarzt im gleichen Haus. Er ist viel flotter drauf als Klaus und bei Schwester Mathilde beliebter. Auch Bertram gegenüber fühlt Klaus sich minderwertig.
Die Minderwertigkeitsillusion ist das Kernproblem des seelisch kranken Menschen. Wer unter der Illusion vermeintlicher Minderwertigkeit steht, kann sich nicht das Recht zusprechen, den Platz oberhalb bedrückender Bedingungen in Anspruch zu nehmen, der ihn vom Leid befreit. Da das Streben nach der Überwindung begrenzender Bedingungen das wesensbestimmende Motiv des Lebens ist, kann der vermeintlich Minderwertige nicht mit dem Leben gehen. Stattdessen konzentriert er sich auf den Versuch, den illusionären Makel abzustreifen; um sich auf ein späteres Leben vorzubereiten, das in Wirklichkeit bereits stattfindet. Oder er empfindet das Leben als eine Gefahr, die ihn jederzeit zu demütigen droht, sodass er sich nicht einmal für späteres Leben vorbereitet, sondern sich gegen das Leben sträubt.
Das Werturteil kann nur als Hypothese oder als Fiktion bestehen. Fassen wir Wert als Hypothese auf, so glauben wir, dass sich die Berechtigung, es zu tun, dereinst erweisen wird: spätestens in einem Jenseits, das den Wert diesseitiger Erscheinungsformen objektiv bestimmt. Könnte die Hypothese niemals bestätigt werden, bliebe uns nur übrig, den Wert des Individuums als notwendige Fiktion zu postulieren; denn selbst, wenn der Wert des Individuums nur eine Fiktion wäre, hätte der Verzicht darauf üble Konsequenzen. Ohne vorauszusetzen, dass das Individuum an sich einen unbedingten Wert hat, gibt es keine Schranke vor der Barbarei. Im Umkehrschluss heißt das: Eine Kultur ist umso barbarischer, je weniger sie das Individuum respektiert. Es bleibt viel zu tun.
Er ist ein wertvolles Mitglied der Gemeinschaft. Das klingt zunächst gut. Das Leben findet vorwiegend in Gemeinschaft statt. Innerhalb solcher Gemeinschaften ist es tatsächlich so, dass der eine dem anderen in dieser oder jener Disziplin überlegen ist. Unterschiedliche Fähigkeiten zur Bemessung des Wertes beizuziehen, ist jedoch ein Leichtsinn, vor dem man sich hüten sollte. Er führt dazu, dass man Unterlegenheit mit Minderwertigkeit verwechselt. Der Begriff der Minderwertigkeitsillusion soll auf diesen Irrtum aufmerksam machen. Der Mensch neigt dazu, die Erfahrung der Unterlegenheit in ein Gefühl der Minderwertigkeit umzumünzen, das ihn in der Folge lähmt oder zu schädlichen Reaktionen verleitet, statt ihn aus der Gewissheit unverlierbaren Wertes zum Erwerb neuer Fähigkeiten anzuregen.
Das Menschenleben findet in Gemeinschaft statt. So hieß es gerade eben. Während sich ein Schildkrötenjunges ab Geburt auf eigene Faust durchs Leben schlägt, ist das Menschenkind auf Gemeinschaft angewiesen. Gemeinschaften anzugehören ist ein psychologisches Grundbedürfnis, das bis ans Ende seiner Tage Thema eines jeden Menschen bleibt. Die Frage, wie er Zugehörigkeit gestaltet, bestimmt einen großen Teil seiner seelischen Aktivität.
Zusammenhang
Soll ich mich auf der Party zu der Gruppe stellen, zu der ich gehören möchte? Oder werde ich mich dort blamieren? Sich blamieren heißt, sich als unwert zu erweisen. Dazuzugehören erfordert den Mut, sich dazuzugesellen. Je sicherer man sich seines Wertes ist, desto eher wird man den Mut dazu haben.
Dazuzugehören setzt etwas Wesentliches voraus: dass man es wert ist, es zu tun. Während die Zugehörigkeit des Säuglings davon abhängt, von seinen Eltern als Wert erkannt zu werden, werden spätere Zugehörigkeiten zu weiteren Gemeinschaften nicht nur von außen bestimmt, sondern vor allem vom Urteil des Einzelnen über sich selbst. Hält sich der Einzelne für wertvoll, wird er kaum zögern, sich Gemeinschaften anzuschließen, mit denen er Übereinstimmung sucht. Zweifelt er an seinem Wert, schreckt er zurück. Er hat Angst, dass er beim Versuch, sich der Gemeinschaft anzunähern, als minderwertig eingestuft und abgewiesen wird.
Immerhin: Egal wie minderwertig sich einer vorkommen mag, zu irgendwelchen Gemeinschaften gehört er allemal:
Überall dort, wo man dazugehört, nimmt man Ränge und Positionen ein. Offizielle Ränge werden durch konkrete Hierarchien zugeteilt, inoffizielle ergeben sich durch Sympathien, die man sich erwirbt. Sie entsprechen dem Respekt, den man innerhalb der Gemeinschaft genießt. Das Selbstwertgefühl ist eng mit den Positionen verknüpft, die man in Gemeinschaften innehat; und zwar in beiderlei Richtung:
Zugehörigkeit setzt Wert voraus. Sie fördert zugleich das Gefühl, ihm zu entsprechen. Je besser ihm Zugehörigkeit gelingt, desto leichter fällt es dem Einzelnen, sich positiv zu bewerten. Je positiver er sich bewertet, desto unbefangener gehört er dazu.
Die Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen, ist das Merkmal der Überlegenheit. Der König regiert im schlimmsten Fall für seine Untertanen absolut. Der Leibeigene kann nicht einmal über seinen Körper bestimmen, geschweige denn über das, was er über den König sagt. Die Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen, besteht aus zwei Komponenten:
Während Zugehörigkeit bereits Ursprung des Lebens ist, und damit dessen Ausgangspunkt, ist Selbstbestimmung sein Ziel. Was den lebenden Organismus von einem toten Gegenstand unterscheidet, ist seine Fähigkeit, sich der ausschließlichen Fremdbestimmung durch physikalische Kräfte zu entziehen. Dazu setzt er auf Eigenaktivitäten, die darauf abzielen, genau das zu tun. Die Pflanze saugt Wasser auf, damit sie nicht vertrocknet. Sie ist so konstruiert, dass sie genau das kann. Der Vogel spannt seine Flügel auf, damit er nicht vom Himmel fällt.
Stopp, wird jetzt die eine Hälfte aller Wissenschaftler rufen. Die Eigenständigkeit des Organismus sei ebenfalls nur Folge blinder Kräfte der Physik, Folge von Kräften, deren Komplexität sich aber erst in den verwinkelten Konstrukten offenbart, die als lebendige Organismen aus der physikalischen Kettenreaktion entstehen und bloß noch nicht so weit verstanden sind, als dass ein Mathematiker ihr Verhalten im Voraus bis aufs Jota genau berechnen könnte.
So mag es sein. Wer weiß? Trotzdem gibt es zwischen einer toten Schildkröte und einer lebendigen einen unübersehbaren Unterschied. Die Tote wird von den Wellen an Land gespült. Die Lebendige paddelt mit den Flossen, damit genau das nicht geschieht. Die lebendige Schildkröte versucht, über den Leib, der sie ausmacht, selbst zu bestimmen; egal, ob der Impuls, es zu tun, sobald man ihn zu den ursprünglichsten Kräften der Physik zurückverfolgt, blind endet oder in einem Auge, das das Wasser und die Freiheit, dem das Paddeln zustrebt, sieht.
Statt uns mit der endgültigen Klärung der Frage erfolglos abzumühen, stellen wir zunächst eine Arbeitshypothese auf, für die eine Menge spricht und die für das Ziel, psychische Erkrankungen zu verstehen und durch schieren Verstand zu beheben, ausreicht. Wir behaupten, dass der Selbstbestimmungsdrang der paddelnden Schildkröte etwas Eigenständiges ist, das tatsächlich über die Fremdbestimmung durch blinde Kräfte hinausgreift. Das Wesen des Lebens ist weder Irrtum noch Selbstbetrug. Das Leben irrt nicht nur umher. Es sucht und findet.
Was uns zur Hypothese ermutigt, ist die weichenstellende Bedeutung, die der Selbstbestimmung des Einzelnen im Menschenleben zukommt. Der Mensch kommt als hilfloses Bündel zur Welt und beginnt, sich von dort aus zu entwickeln. Das Ziel jeder Entwicklung ist stets mehr zu können als zuvor. Das Kind lernt laufen, sprechen, lesen, rechnen, Rad fahren, komplexe Ziele anzupeilen und Misserfolge zu verkraften. Alles, was es lernt, dient dazu, sich zu verselbständigen. Wie weit es dabei kommt, macht sein Schicksal aus.
Das Selbstbewusstsein des Individuums bringt es mit sich, dass sich der Mensch nicht nur ein Bild davon macht, wie er ist, sondern auch eins, wie er gerne wäre: das Ich-Ideal. Mit welchen Eigenschaften er dieses ideale Ich auszustatten wünscht, ist nicht schwer zu erraten. Es sind positive Eigenschaften, die einem damit ausgestatteten Ich in der Welt einen hervorragenden Platz verschaffen würden. Wenn wir die Attribute groß, stark, schön, frei, beliebt, bewundert, gesund, mutig, erfolgreich und gut gelaunt zusammensetzen, liegen wir bei der Beschreibung des üblichen Ich-Ideals nicht falsch. Wer diese Attribute dauerhaft in reiner Form sein Eigen nennen könnte, wäre gewiss versucht, sich als glücklichen Menschen zu bezeichnen, der unbehelligt von Angst, Scham und Schuld durchs Leben ginge. Allein: Wo ist der Mensch, der diesem Ideal entspricht?
Das Ich-Ideal ist ein wichtiges Instrument der Psyche. Da sich das Individuum Mensch im Gegensatz zum Exemplar Tier aus bewusster Zielsetzung heraus zu etwas zu entwickeln versucht, braucht es einen Bauplan, der dem Architekten anzeigt, was verwirklicht werden soll.
Das Ich-Ideal ist aber nicht nur willkommenes Werkzeug. Es wird, wie alle Ideale, schnell zu einem Übel. Denn: Wer sich dem Ideal verschreibt, hat den ersten Schritt zur Abwertung des Realen bereits getan.
Damit droht er eine Lawine in Gang zu setzen, die ihn ein Leben lang vor sich herjagt. Die Abwertung des Realen schürt eine Minderwertigkeitsillusion, zu deren Abwehr sich das Ich-Ideal immer dreister empfiehlt. Der Erniedriger des Realen rühmt sich als dessen wohlmeinender Förderer und Schutzpatron. Je weniger jemand das Reale, das er ist, wertschätzt, desto vermessener wird das Ziel, das er glaubt, zur Überwindung seines Makels erreichen zu müssen. Da vermessene Ziele die Gefahr des Scheiterns umso mehr erhöhen, je vermessener sie sind, kommt ein Teufelskreis in Gang. Den vermeintlich Minderwertigen treibt sein Ehrgeiz in immer neue Niederlagen, deren Dornen seinen Ehrgeiz weiter anstacheln.
Der hat Komplexe
So hieß es in den 60-er und 70-er Jahren, wenn sich einer schwer damit tat, seinen Mitmenschen unbefangen entgegenzutreten. Der Begriff Komplex verwies auf Freuds bzw. Adlers Theorien. Freud hatte vom Ödipuskomplex gesprochen, Adler vom Minderwertigkeitskomplex. Jemandem "Komplexe" zuzuschreiben, hatte jedoch einen abwertenden Beigeschmack. Vielleicht ist das ein Grund, warum der Begriff Minderwertigkeitskomplex heute weitgehend durch das spröde narzisstische Defizit verdrängt wurde.
Wir greifen auf: Der Mensch kommt als hilfloses Bündel zu Welt. Das ist kein Zuckerschlecken. Es ist das Schicksal eines Pflegefalls, dessen Befinden ständig erneut ins Unbehagen kippt und der für alles und jedes der Hilfe eines anderen bedarf. Wann dem Kind seine Lage bewusst wird, wissen wir nicht. Irgendwann dämmert ihm jedoch: Ich bin klein, schwach, ohnmächtig und dem Gutdünken unzuverlässiger Menschen ausgeliefert. Die anderen können und dürfen mehr als ich.
Die Erkenntnis, dass andere mehr können und dürfen, ist unvermeidlich. Der Erkenntnis folgen regelhaft Urteile, die für die Psychodynamik der weiteren Entwicklung weichenstellend sind: Die anderen können und dürfen nicht nur mehr. Als Könner spielen sie wichtige Rollen. Sie sind befugt, es zu tun. Sie gelten mehr. Sie sind bedeutender als ich. Sie nehmen sich Dinge heraus, zu denen ich nicht in der Lage bin. Ich bin ihnen nachgeordnet. Was nachgeordnet ist, ist minderwertig.
Vielleicht ist das Wort Minderwertigkeitsgefühl bei der Beschreibung des frühkindlichen Selbstbilds fehl am Platz. Es fällt jedoch nicht schwer, Begriffe zu finden, die die Fakten beschreiben und das Urteil Minderwertigkeit zumindest bahnen: Unterlegenheit, Unzulänglichkeit, Insuffizienz. Dass es Eltern und älteren Geschwistern als jüngstes unterlegen ist, wird kein Kind lange übersehen. Dass seine Fähigkeiten unzulänglich sind, um zu tun, was es gerne täte, ebenso wenig. Und es wird diese Tatsachen als Missstände deuten, die zu überwinden sind.
Mit der Entstehung des Selbstbilds wird das Kind die Ursachen der Missstände nicht nur in seiner Befindlichkeit, sondern in seinen Eigenschaften verorten. Von da ab liegt in seinen Augen nicht nur eine missliche Lage vor, in die es ohne Verschulden hineingeraten ist. Vielmehr empfindet es sich selbst als defizitär. Aus dem bloßen Missstand wird ein Makel. Es erlebt sich als mit dem Makel einer Unterlegenheit behaftet, die nicht nur seinen Zustand beschreibt, sondern dessen Behebung zu seinem persönlichen Anliegen wird. Aus schuldloser Befindlichkeit wird eine Aufgabe, der es sich zu stellen hat. Das Kind wird für sich verantwortlich.
Da Unterlegenheit als Missstand gedeutet wird, ist leicht nachzuvollziehen, dass sie das Selbstwertempfinden nach unten drückt. Es ist daher plausibel, im Umkehrschluss von einem existenziell vorgegebenen Minderwertigkeitsgefühl zu sprechen, das das Leben jedem Menschen als Initialzünder weiterer Entwicklungen in die Wiege legt. Je nachdem, wie es nach der Initialzündung weitergeht, können die Entwicklungen kreativ oder problematisch sein. Kreative Entwicklungen führen zu selbstbestimmten Individuen, die ihr Leben grundsätzlich bejahen. Problematische Entwicklungen sind solche, die psychiatrische Erkrankungen bahnen. Sie bringen Erwachsene hervor, die mit sich und dem Leben im Unreinen sind.
Die natürliche Unzulänglichkeit, die ins Minderwertigkeitsgefühl übergeht, ist jedoch nicht nur eine homogene Mitgift, mit der jedes Exemplar der Spezies Mensch gleichermaßen von einer Stammesgeschichte ausgestattet wird, die ihn zum hilflosen Nesthocker bestimmt hat. Ab Geburt werden Faktoren wirksam, die das Gefühl bei vielen betonen.
Kinder sind von ihrer körperlichen Ausstattung her nicht gleich. Die einen strotzen vor Kraft und Gesundheit. Andere bleiben hinter dem Optimum zurück. Sie starten mit einem Handicap. Stellen sie oberflächliche Vergleiche an, bleibt ihr Selbstwertgefühl schnell auf der Strecke.
Das primäre Minderwertigkeitsgefühl wird durch biologische Lasten und psychosoziale Feldkräfte ausgeformt. Manche Bedingungen vertiefen es. Andere gleiche es aus.
Der Weg von der umfassenden Unzulänglichkeit des Säuglings zur teilweisen Autonomie des Erwachsenen ist schwer genug. Noch schwerer wird er, wenn das Neugeborene mit biologischen Lasten behaftet ist, die ihm die Stellungnahme zu den Anforderungen der Wirklichkeit zusätzlich erschweren. Solche Lasten können fünf Kategorien zugeteilt werden:
Während die Beeinträchtigung organischer Funktionen durch Missbildungen und Krankheiten offensichtlich ist, hemmen nachteilige Normvarianten verdeckter. Bei Kindern mit schmächtigem oder pummeligem Körperbau, mit abstehenden Ohren, Trichterbrust, Überbiss oder insgesamt unvorteilhaftem Erscheinungsbild sind die Organfunktionen intakt. Sie treffen in der Außenwelt jedoch eher auf Ausgrenzung. Sie werden schneller zu Zielscheiben allfälliger Abwertungstendenzen des Umfelds, was ihre soziale Integration erschwert. Für alle biologisch belasteten Kinder gilt: Es fällt ihnen schwerer, ein positives Selbstbild zu entwickeln, das dem Vergleich mit anderen standhält.
Von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung des Selbstbilds sind die sozialen Umstände mit denen das Kind konfrontiert wird. Dabei sind natürliche Konstellationen von psychosozialen Faktoren zu unterscheiden.
Bei den natürlichen Komponenten handelt es sich um existenzielle Vorgaben, die unabhängig von individuellen Eigenheiten der Bezugspersonen gegeben sind.
Natürliche Konstellationen sind vor allem die spezifischen Positionen in der Geschwisterreihe; ebenso wie das Geschlecht. In einem Zeitalter, in dem die Auflösung der elterlichen Beziehung kein Tabu mehr ist, kommen auch die Patchwork-Familie sowie die alleinerziehende Mutter bzw. der alleinerziehende Vater gehäuft als Konstellationen vor, die ungeachtet der Individualität der beteiligten Personen weitreichende Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes haben können.
Die Bedeutung des Geschlechts ist zum einen physiologisch. Die biologisch vorgegebenen Rollen, die die Natur den Geschlechtern zuweist, beeinflussen zweierlei:
das bevorzugte Spektrum an Lösungsansätzen, das zur Überwindung der Unterlegenheit zum Einsatz kommt
Zum anderen kommen beim Geschlecht auch psychosoziale und kulturelle Faktoren zum Tragen, vor allem, wenn dem weiblichen Geschlecht aus patriarchalischen Traditionen heraus eine Minderwertigkeit zugeschrieben wird, die zu einer systematischen sozialen Benachteiligung und zur Einschränkung seiner Selbstbestimmungsrechte führt.
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätten es Einzelkinder im Leben besonders leicht. Sie können die volle Dosis der elterlichen Fürsorgekraft für sich in Anspruch nehmen; ohne dass je ein Konkurrent erscheint, der vom Kuchen etwas haben will. Eigentlich müsste sich ihr primäres Minderwertigkeitsgefühl unter dem Trommelfeuer ungeteilter Zuwendung, Fürsorge und Förderung rasch ins Gegenteil wenden. Nicht selten ist es so; zumindest an der Oberfläche.
Nicht selten empfinden sich Einzelkinder wie Prinzen und Prinzessinnen, die fraglos davon ausgehen, dass ihnen immer alles zusteht. Ohne sich dessen bewusst zu sein, entwickeln sie ein Selbstbild, dem der Status unangefochtener Wichtigkeit ebenso selbstverständlich anzuhaften scheint, wie die Tapete der Wand in ihrem voll ausgestatteten Kinderzimmer.
Der Schein trügt. Einzelkind zu sein ist nicht nur Privileg. Es ist auch Hypothek. Das Selbstwertgefühl des Einzelkindes mag durch Überdüngung ins Kraut geschossen sein. Seine besondere Lebenslage webt aber verdeckte Sollbruchstellen ein, die seinen Startvorteil leicht zunichtemachen. Ein paar Überlegungen verdeutlichen das.
Kindern immer vorteilhafte Bedingungen zu bieten, ist keineswegs für sie vorteilhaft. Es hält ihnen roborierende Erfahrungen vor, die die Kraft von innen stärken.
Einzelkinder haben keine Konkurrenten. Das heißt aber auch: Sie haben keine Sparringspartner, an deren Widerstand sie üben können, auch dann ihren Platz zu behaupten, wenn er in Frage gestellt wird.
Zudem sind Geschwister nicht nur Sparringspartner, bei denen die Chance besteht, erfolgreich zu rivalisieren. Geschwister sind zugleich Bündnispartner, vor allem in Abgrenzung gegen übermächtige Eltern. Ein Geschwisterkind dämpft das Gefühl, den Eltern allzu hilflos ausgesetzt zu sein. Zur Not findet man bei Bruder und Schwester Verständnis und Leidensgenossenschaft. Und man hat jemanden, mit dem man Geheimnisse teilen kann.
Hätte das Kind Geschwister, könnte es sich mit Schwächeren vergleichen, also mit jemandem, der ihm selbst ähnlicher wäre. Seine Unterlegenheit spränge ihm weniger ins Auge. Der Kontrast wäre abgestuft, sodass es sich mit größerer Gelassenheit daranmachen könnte, ihn auf lange Sicht zu überwinden.
Das jüngere Kind eines Geschwisterpaares erlebt den Abstand zum älteren womöglich als einholbar. Das ältere erlebt sich nicht mehr als schwächstes Glied in der Kette. Es kann sich im Bezug zum jüngeren überlegen fühlen. Für beide bedeutet das: Ihr Minderwertigkeitsgefühl wird abgeschwächt.
Die Spanne zwischen den realen Leistungsmöglichkeiten des Kindes und überhöhten Erwartungen, die im Raume stehen, kann dazu führen, dass es eine tiefe Unzulänglichkeit empfindet, obwohl es einen guten Schnitt erreicht; oder dem Schnitt sogar überlegen ist. Sich trotz enttäuschter Eltern ungebrochen wert zu fühlen, kann eine hohe Hürde sein; vor allem, wenn das Kind die Erwartungen der Eltern durch seine eigenen sogar noch überbot.
Jedes erstgeborene Kind wächst zunächst als Einzelkind auf. Dann wird es jäh vom Thron gestürzt. Von heute auf morgen wird ihm ein Konkurrent aufs Auge gedrückt, der vom Kuchen der mütterlichen Fürsorge 80% absorbiert. Für das Selbstwertgefühl des Erstgeborenen kann das dramatische Folgen haben. Erschien ihm die Bedeutung seiner Person bislang als ein Attribut, das ihm wie Haut, Nase, Mund und Ohren anhaftet, erkennt es nun, dass soziale Bedeutung eine Beigabe ist, die ihm jederzeit entzogen werden kann. Genau das führt ihm seine Ohnmacht vor dem Dasein erneut vor Augen.
Da Ohnmacht kaum je als Wert empfunden wird, schürt der Zwang, aus der bislang genossenen Sonderrolle abzudanken, nicht nur das Gefühl, ausgesetzt zu sein. Der Abstieg wird auch als Beleg einer Minderwertigkeit gedeutet; und zwar umso mehr sich das Kind bis zum Abstieg mit seiner privilegierten Rolle gleichgesetzt hatte. Ein anderer ist den Eltern etwas wert. Ich bin es nur noch nebenbei.
Je nach Lage der Dinge kann das zu zwei unterschiedlichen Mustern führen:
Das entthronte Einzelkind deutet die Tatsache, nun einem Unterlegenen überlegen zu sein, als Bestätigung eines höheren Wertes. Dann wandelt sich die Entthronung in eine Beförderung auf der Stufenleiter der sozialen Hierarchie. Das Kind kann die Möglichkeiten der neuen Rolle für seinen Fortschritt nutzen.
Die Position des jüngsten Kindes ist anders als die aller zuvor geborenen. Weder erlebt es jemals den Status des Einzelkindes noch wird es jemals durch einen jüngeren Konkurrenten bedrängt. Die Menge an stützender Zuwendung, die ihm als Jüngstem zukommt, ist eine sichere Rente, die im Regelfall ohne jähe Abstürze entlang seiner zunehmenden Selbständigkeit kontinuierlich abnimmt. Das ist recht gut zu verkraften.
Die Selbstwertregulation des Jüngsten steht vor einer besonderen Aufgabe. Anders als die früher Geborenen, bleibt es in der familiären Rangordnung immer an letzter Stelle; es sei denn, es gelingt ihm, ältere Geschwister einzuholen. Anders als die früher Geborenen wird es niemals erleben, durch die Geburt eines jüngeren Kindes ohne eigenes Zutun in die Position eines zumindest relativ Überlegenen versetzt zu werden. Alles, was das Jüngste an Rang hinzugewinnt, muss es aus eigener Kraft erreichen.
Dass es auf eine Ordnung trifft, die von sich aus niemals etwas dafür tut, um es aus der untersten Rangposition zu entlassen, kann das jüngste Kind dazu bringen, bestehende Ordnungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Das kann dazu führen, dass es sich aus überkommenen Ordnungen befreit oder, dass es sich endlos an ihnen reibt.
Nicht selten entwickelt das jüngste Kind besonderen Ehrgeiz. Von älteren Geschwistern werden jüngere oft nicht ernstgenommen. Es mag sein, dass Ältere dem Jüngsten freundlich begegnen, aus ihrer Sicht ist dessen Unterlegenheit aber unübersehbar. Und das soll in der Regel auch so bleiben. Kein älteres Kind hat ein Interesse daran, überholt zu werden. So kommt es häufig vor, dass das Jüngste aus verschiedenen Gründen von den Aktivitäten der Älteren ausgeschlossen wird. Das kann seinen Antrieb steigern, nach oben vorzustoßen.
Obwohl es in Europa nur noch selten vorkommt: Es gibt kinderreiche Familien. In solchen Familien gibt es nicht nur ein, zwei oder drei Kinder. Wie man weiß, können es fünf, sieben oder zehn sein. Der Werdegang des Unterlegenheitsgefühls in solchen Konstellationen ist kaum je so einfach zu skizzieren, wie es in den bisherigen Ausführungen versucht wurde. Eins kann man aber sagen: Durch elterliche Überfürsorge verwöhnt werden Kinder aus solchen Familien nicht. Es kommt daher nur selten vor, dass sie mit einem überdüngten Selbstwertgefühl ins Erwachsenenalter entlassen werden, wo sie dann auf eine Missachtung ihrer Bedeutung treffen, deren Ausmaß sie sich bislang gar nicht vorstellen konnten.
Kinder aus kinderreichen Familien sollten daher gut darauf vorbereitet sein, ihr Selbstwertgefühl nicht durch erhöhte Ansprüche ans Umfeld ins Wanken zu bringen. Die meisten hatten genügend Gelegenheit, sich in der Kunst zu üben, zwischen Stärkeren und Schwächeren eine passende Position einzunehmen.
So einfach wie das klingt, sind die Dinge im konkreten Fall allerdings nicht. Im Spannungsfeld einer rivalisierenden Kinderschar unter der Aufsicht grenzwertig überforderter Eltern, kommt so manches Selbstwertgefühl unter die Räder. Je mehr Kinder es gibt, desto weniger können die Eltern individuelle Bedürfnisse eingehend beachten. Die Botschaft: Passt euch an, macht uns nicht noch mehr Sorgen, als wir sowieso schon haben, schwebt über jedem Esstisch; wie die Lampe, die die Szenerie beleuchtet und deren Licht sich alle teilen müssen.
Eine kinderreiche Familie ist in der Regel auch finanziell im Nachteil. Während Einzelkinder aus bürgerlichem Haus im Alltag mit statusentsprechender Mikroelektronik ausgerüstet sind und im Urlaub ferne Länder bereisen, reicht es bei den Kinderreichen oft nur zur Grundausstattung. Auch das kann Minderwertigkeitsgefühle schüren, die ihr Auftreten in der Öffentlichkeit gehemmt erscheinen lässt.
Doch wohlgemerkt: Das muss kein Nachteil sein. Wenig gehabt zu haben, macht es leichter, mehr als bisher zu bekommen. Arme Eltern kann man leicht übertrumpfen, reiche nur schwer. Langfristig hängt das Selbstwertgefühl von Kindern auch davon ab, ob sie den ökonomischen Status ihrer Eltern aus eigener Kraft erreichen oder nicht. Eine Bergmannstochter, die den Doktortitel macht, kann leichter damit zufrieden sein, als eine Professorentochter, die dasselbe tut.
Durch Tod oder Trennung kann ein Kind wichtige Bezugspersonen verlieren. Ein solcher Verlust droht die Grundangst des Daseins zu steigern.
Trennt sich eine Mutter von einem gewalttätigen Partner, ist das für die Kinder meist ein Segen; zumindest, wenn es sich bei der Mutter um eine stabile Persönlichkeit handelt, die die Herausforderung, ihre Kinder nun allein zu erziehen, mit Engagement und sozialer Kompetenz zu meistern weiß. Viele Trennungen sind aber keineswegs eindeutig zum Vorteil der Kinder. Oft trennen sich Eltern, weil sich die Partnerschaft als weniger erfüllend erweist, als zu Beginn erhofft. In der Regel wird dabei über den Kopf der Kinder hinweg entschieden. Über den Kopf der Kinder hinweg zu entscheiden, ist ein drastischer Hinweis auf ihre Nachrangigkeit. Wenn bei der Trennung dem Wohlbefinden des Elternteils, das sich trennt, mehr Bedeutung bekommt, als dem Wohlbefinden der Kinder, ist das eine Zurücksetzung, die deren Minderwertigkeitsgefühl verstärkt.
Der frühe Verlust eines Elternteils ist nicht nur ein Trauma, dass die seelische Entwicklung Betroffener punktuell belastet. Er leitet nahtlos in ein Bezugssystem über, bei dem der übriggebliebene Elternteil steigenden Lasten ausgesetzt wird.
Ist nur noch ein Elternteil da, der sich um die Bedürfnisse der Kinder kümmern kann, steht der Appell an die Kinder im Raum, ihre Bedürfnisse zurückzustellen, um die alleinerziehende Mutter bzw. den alleinerziehenden Vater nicht zu überlasten. Ein solcher Appell kann direkt ausgesprochen werden oder er ist der Körpersprache des Alleinerziehenden als stumme Mahnung zu entnehmen.
Die Mahnung, sich zurückzunehmen und auf die Erfüllung eigener Bedürfnisse zu verzichten, taucht in den meisten Fällen schon vor dem konkreten Verlust auf...
oder, weil die Beziehung der Eltern schon im Vorfeld durch jene Konflikte, die schließlich zur Trennung führten, schwer belastet war und sich die Kinder instinktiv zurücknahmen, um nicht durch eigene Ansprüche weiteres Öl ins Feuer zu schütten.
Bleibt die Botschaft Nimm dich zurück auf Dauer bestehen, kann ein Verhaltensmuster verinnerlicht werden, das es den betroffenen Kindern unmöglich macht, ihre Bedürfnisse unbefangen zu vertreten. Versuchen sie es, wird der Elan prompt durch Schuldgefühle ausgebremst. Das Introjekt Meine Bedürfnisse sind nicht so wichtig, kann die Minderwertigkeitsillusion verstärken.
Neben der existenziellen Notlage, die Verlust und Alleinerziehung mit sich bringen, kann es psychosoziale Effekte geben, die die Minderwertigkeitsillusion vertiefen. Kinder vergleichen sich untereinander. Kommt das eine aus einem intakten Elternhaus, das andere aus einem zerbrochenen, kann das von den benachteiligten Kindern als persönlicher Makel erlebt werden.
Selbst wenn dem nicht so ist und Kinder aus der Tatsache, nur mit einem Elternteil zusammenzuleben, keine Minderwertigkeit ableiten, kommen rein ökonomische Faktoren hinzu. Es liegt in der Logik der Sache, dass in einer intakten Familie mehr elterliche Energien zur Verfügung stehen, um finanzielle Mittel herbeizuschaffen. Kinder Alleinerziehender müssen oft auf materielle Güter verzichten, deren Besitz eine Frage des sozialen Ansehens ist. Normale Kleider zu tragen statt Markenklamotten, ein billiges Smartphone zu haben statt das neueste Flaggschiff einer Firma, deren Gewinnmarge parallel zum Glauben ihrer Kundschaft wächst, sich durch den Erwerb ihrer Produkte aufzuwerten, kann es benachteiligten Kindern erschweren, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Eine Verklärung der Bedürfnislosigkeit kann die Folge sein. Ein Meister des Verzichts zu werden, ist eine Strategie, das Selbstwertgefühl kompensatorisch zu steigern. Ein bitterer Beigeschmack wird dieser Strategie nur selten fehlen. In der Vorgeschichte depressiver Persönlichkeiten sind solche Umstände oft zu finden.
Es hat sie schon immer gegeben: Kinder, die sich auf Stiefmütter bzw. Stiefväter einstellen mussten. Bringen solche Bezugspersonen Kinder von früheren Partner mit, ist die Patchworkfamilie vollständig. Bevor eine Patchworkfamilie entstehen kann, mussten die Kinder bereits Härten oder Verluste ertragen. Diese Härten wurden gerade eben aufgeführt:
Das Wichtigste zuerst: Viele Patchworkfamilien sind für Kinder ein besseres Umfeld als das, das sie bis dahin erlebten. Jedes Patchwork steigert das Angebot an Bezugspersonen. Jede Bezugsperson mehr bereichert das Feld kommunikativer Möglichkeiten. Stiefeltern sind keineswegs immer so lieblos wie die sprichwörtliche Stiefmutter in Grimms Märchen. Nicht jedes Stiefkind wird zum Aschenputtel. Nachdem sie sich an die neue Situation gewöhnt haben, gedeihen viele Kinder im Patchwork besser als in einer rudimentären Kleinstfamilie. Sie machen mit Stiefeltern positive Erfahrungen, die ihre leiblichen Eltern ihnen nicht bieten.
Trotzdem ist nicht zu leugnen, dass ein Patchwork besondere Herausforderungen mit sich bringt. Einverstanden: Auch die leiblichen Eltern kann man sich nicht aussuchen. Auch leibliche Eltern muss ein Kind hinnehmen, wie sie nun mal sind. Die Zuweisung leiblicher Eltern ist als schicksalhafte Fügung aber oft leichter hinzunehmen als die Zuweisung eines Stiefvaters oder einer Stiefmutter, bei der betroffene Kinder bewusst erfahren, dass ihre Meinung dabei nur wenig zählt und sie bei der Wahl nichts zu melden haben.
Ebenso wenig wie arrangierte Ehen grundsätzlich ins Unglück der Übergangenen führen, führt die ungefragte Zuweisung eines Stiefelternteils regelhaft zum Unglück der betroffenen Kinder. Dass der Begriff stiefmütterlich im Duden steht und dort mit Vernachlässigung, Zurücksetzung und Lieblosigkeit in Verbindung gebracht wird, zeigt jedoch an, dass Stiefkinder die Gegenwart eines Stiefelternteils oft genug als eine Zwangsbeziehung empfinden, die sie nur widerwillig ertragen.
Geschwister untereinander sind immer auch Konkurrenten. Sie konkurrieren um das begehrte Gut der elterlichen Anerkennung. Schon in der klassischen Familie spielen solche Konkurrenzen eine große Rolle bei der Entwicklung des Selbstwertgefühls. Kinder, denen es schlechter als anderen gelingt, die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen, erleben sich häufig zurückgesetzt. Sie verinnerlichen in der Folge ein Selbstbild mit narzisstischem Defizit. Bin ich, so wie ich bin, tatsächlich in Ordnung? Das ist eine Frage, die schwerer mit ja zu beantworten ist, wenn Eltern die Bejahung ihrerseits von der Erfüllung ihrer Erwartungen abhängig machen.
In der Patchworkfamilie sind die Verhältnisse noch komplizierter. Dort kann es Stief- und Halbgeschwister geben. Leibliche Eltern neigen dazu, sich eigenen Kindern gegenüber in besonderer Weise verpflichtet zu fühlen. Kommt es zu Konflikten, fällt es ihnen schwer, unparteiisch zu bleiben. Selbst wenn Eltern eine hohe soziale Kompetenz erreichen, kann ihre Kompetenz vom Spannungsfeld verwickelter Loyalitäten und aufschießender Eifersucht überfordert sein. Die Gefahr, dass sich Kinder zurückgesetzt fühlen, steigt dem entsprechend.
Solche Fragen können zu asymmetrischen Bündnissen führen. Hat ein Kind einen anderen Vater als drei Halbgeschwister, kann es in eine Außenseiterrolle geraten. In manchen Patchworkfamilien stammen Kinder nicht nur aus drei Beziehungen - der neuen Beziehung des Paares und einer jeweils früheren -, sondern aus mehreren früheren Beziehungen der Partner. Das Netzwerk verschiedener Loyalitäten kann unübersichtlich werden. Dafür zu sorgen, dass sich jedes Kind als ebenbürtig angenommen und wertgeschätzt empfindet, erfordert eine Menge Weisheit.
Die verschiedenen existenziellen Konstellationen, in denen der Mensch seine ersten und damit prägenden Erfahrungen macht, bieten bereits jede Menge Gelegenheit, beim Versuch zu scheitern, das primäre Unterlegenheitsgefühl kreativ zu meistern. Als wäre das nicht schon genug, mutet uns das Leben darüber hinaus die psychologischen Besonderheiten unserer Mitmenschen zu. Und die haben es oft in sich. Die Selbstwertregulation eines Kindes muss nicht nur Antworten auf strukturelle Vorgaben finden, sondern auch auf die jeweilige Individualität seiner Eltern und aller übrigen Bezugspersonen, die wesentlich in sein Leben eingreifen.
Da es ebenso viele Individualitäten wie Individuen gibt, können hier nur einige Grundmuster skizziert werden, die später Psychotherapien mit Gesprächsstoff beliefern. Zu nennen sind:
Das Kind davon abzuhalten, sich in Gefahr zu begeben, gehört zu den zentralen Aufgaben der Mutterschaft. Nun ist es aber so, dass keine Entwicklung weit führen wird, wenn man den Gang in die Gefahr übermäßig verhindert.
Sich in der Gefahr zu bewähren und Hindernisse aus eigener Kraft zu überwinden, ist nicht nur notwendig, um sich aus Abhängigkeiten zu lösen, es ist auch die Hefe, die den Teig dazu bringt, sich zu heben. Der Teig, um den es hier geht, ist das Selbstwertgefühl.
Gründe, die dazu führen, dass Mütter ihre Kinder übermäßig behüten, gibt es genug.
Nicht jede Mutter verfügt über ein stabiles Selbstwertgefühl. Am eigenen Wert zu zweifeln, führt zu verstärkter Lebensangst. Schnell wird die eigene Angst vor den Gefahren des Lebens mit der Angst vor einem Scheitern des Kindes multipliziert und das Produkt in der Mutterrolle ausagiert.
Apropos Schutz: Kaum jemand wird daran zweifeln, dass die Mutterrolle einer Frau zur Ehre gereicht; selbst wenn der Ehrerbietung nicht selten eine manipulative Tendenz inneliegt. Die Anerkennung, die eine Mutter qua Mutterschaft in Anspruch nehmen kann, ist oft so verführerisch, dass viele kein Interesse daran haben, dass der kindliche Bedarf an Bemutterung unter eine kritische Grenze sinkt.
Neben dem psychologischen Vorteil, den es haben kann, sich in der Mutterrolle wie in einer unverlierbaren Heimat einzurichten, kann auch ein soziales Interesse im Vordergrund stehen. Je unselbständiger Kinder sind, desto logischer folgt daraus, dass das Erwerbsleben keine Ansprüche an die Mutter zu stellen hat. Wir wissen, dass das Erwerbsleben die Frau nicht nur mit Selbstverwirklichung oder gar Karriere beglückt. Es bedroht sie auch mit Mühsal und Terminkalender. Honi soit qui mal y pense. Beschämt sei, wer es für unverzeihlich hält, wenn manche Mutter beim Verlassen der Behüterinnenrolle und beim Gang zum Arbeitsamt lieber zwei kleine als vier große Schritte macht.
Ungeachtet der Gründe, die eine Mutter dazu bewegen, Kinder durch übermäßigen Schutz und ständige Warnungen vor der Außenwelt an die Kinderstube zu binden, kann die übermäßige Verbundenheit das Kind dabei stören, ein freier Mensch zu werden, der auf seine Fähigkeiten vertraut. Das Selbstwertgefühl des Muttersöhnchens steht auf wackeligen Beinen, sobald es im Umfeld Gleichaltriger als solches abgestempelt ist. Wer nicht geübt hat, Gefahren einzugehen und Scheitern zu ertragen, kommt sich minderwertig vor, wenn er Wagemutige entsprechende Taten vollbringen sieht. Ein Kind, das nicht auf Bäume klettern darf, weil sich die Eltern fürchten, ist ein Kind, das nicht dazugehört.
Schwerpunkte
Mutterschaft | Behütung vor Gefahr |
Vaterschaft | Begleitung durch Gefahr |
Ein weiterer Archetypus elterlichen Problemverhaltens kann unter der Überschrift Tyrannischer Vater beschrieben werden. Obwohl die Gesellschaft seit ein paar Jahrzehnten vom Irrglauben abrückt, ein guter Vater habe zu allererst Gehorsam einzufordern, sind Väter, die sich durch Wutausbrüche, Drohgebärden und Gewalt hervortun, kaum aus der Welt zu schaffen. Viele Väter sehen in der Familie keine organische Einheit, in der sich Kräfte verweben, sondern eine Hierarchie, in der man entweder herrscht oder unterworfen wird.
Kein Vater mit gesundem Selbstwertgefühl wird sein eigenes Fleisch und Blut zu Untertanen degradieren. Bei Vätern, die es trotzdem tun, kann man davon ausgehen, dass sie versuchen, eigene Minderwertigkeitsgefühle durch die Herabsetzung anderer zu beheben.
Der Nutzwert dieser Strategie ist für den Täter gering; denn wer seine eigenen Kinder herabsetzt, setzt auch den Teil seiner selbst herab, den er den Kindern vererbt hat. Im Gegensatz dazu ist der Schaden für die Opfer oft groß. Die Unterordnung, die ständig erzwungen wird, wird schnell in ein Weltbild übernommen, dem die Idee der Ebenbürtigkeit aller fremd ist. Wer die Ebenbürtigkeit aller aber nicht voraussetzt, läuft Gefahr...
Es scheint so, als sei das Heer tyrannischer Väter seit den 70-er Jahren geschrumpft. Der jugendliche Protest gegen alte Gesellschaftsstrukturen, der musikalisch vom Rock 'n' Roll begleitet wurde, hat Wirkung gezeigt. Die Liberalisierung des Eherechts und der Moralvorstellungen hat die Zahl der Familien vermindert, in denen unglückliche Paare nur deshalb zusammenleben, weil eine Trennung aus gesellschaftlichen Gründen nicht infrage kommt.
Die Zahl praktizierender Tyrannen ist geschrumpft, weil...
In jedem Manne...
... steckt ein Kind. Sobald wir dem Sprichwort Glauben schenken, ergeben sich zwei Fragen.... oder...
Parallel zur Abnahme väterlicher Tyrannen scheint die Zahl jener Väter gestiegen zu sein, die die Übernahme väterlicher Aufgaben auch dann vermeiden, wenn das Kind schon auf der Welt ist. Zwischen der Abnahme einerseits und der Zunahme andererseits gibt es einen Zusammenhang. Klar: Je leichter Väter flüchten können, desto eher werden sie es tun. Früher hieß es: Sie ist schwanger. Jetzt wird geheiratet. Heute heißt es: Sie ist schwanger. Mal schauen, ob wir auch dann noch zueinanderpassen, wenn die Pflicht den Spaß zu überwuchern droht.
In der Folge fehlt im Leben vieler Kinder eine klar erkennbare Vaterfigur. Entweder, weil sich Väter ganz entziehen oder, weil sie formal zwar bei der Stange bleiben, sich im Rahmen der neu entstandenen Familie aber eher wie große Kinder als wie junge Väter gebärden. Pflichtgefühl klingt altmodisch. Ansprüche zu erheben, gefällt dem Zeitgeist besser.
Kinder, deren Väter sich nach positivem Schwangerschaftstest auf ihre Selbstverwirklichung besinnen, sind nicht nur nicht reif genug, Verantwortung zu übernehmen, sie wollen es oft auch gar nicht werden. Die immanente Botschaft an die Kinder lautet: Du bist es mir nicht wert, als dass ich für dich auf etwas verzichte. Das Introjekt des Kindes heißt allzu oft: Ich bin es nicht wert, dass jemand ein Opfer für mich bringt.
Weniger krass mögen die Folgen sein, wenn der Vater immerhin im Haushalt verbleibt. Wenn er dabei aber stets den Weg des geringsten Widerstands geht, wird er weder der Rolle eines Partners noch der eines Vater gerecht. Oben haben wir die Rolle des Vaters als Begleiter durch Gefahren definiert. Jemand, der selbst die Herausforderungen des Daseins lieber vermeidet, wird dem Kind aber kaum je als ein glaubhafter Begleiter erscheinen.
Zu den Hypotheken, die das kindliche Selbstwertgefühl belasten, gehören chronisch leidende Eltern. Eltern können aus existenziellen oder aus psychologischen Gründen leiden.
Zu den existenziellen Gründen zählen äußere Faktoren sowie Schicksalsschläge, die die Kompensationsmöglichkeiten der Eltern überfordern und deren Lebensfreude nachhaltig senken. Zu nennen sind...
Zu den psychologischen Ursachen gehören schwerwiegende seelische Probleme der Eltern selbst. Viele Eltern verstricken sich durch unsachgemäße Versuche, ihre eigenen Selbstwertprobleme zu beheben, in Depressionen, Angsterkrankungen, Suchtprobleme, somatoforme Störungen und dergleichen mehr, sodass ihr ganzes Leben zu einem Jammertal gerät.
Dem Weltbild, das unter diesen Umständen von ihren Kindern verinnerlicht wird, fehlen oft Unbefangenheit und Zuversicht. Nicht die Möglichkeit, sich aus Unvermögen, Unterlegenheit und Fremdbestimmung herauszulösen, steht im Vordergrund, sondern die tragische Ohnmacht des Menschen vor der Übermacht des Schicksals. Der Pessimismus, der von einem solchen Weltbild ausgeht, entmutigt lösungsorientiertes Handeln. Wer keine überzeugenden Lösungen für die Herausforderungen des Daseins sucht, weil er gar nicht erst daran glaubt, dass sie zu finden sind, erlebt vermehrtes Scheitern. Jedes Scheitern ist eine Bedrohung des Selbstwertgefühls, die nur durch ein Jetzt erst recht in D-Dur abzuwenden wäre. Der Grundton chronisch leidender Eltern ertönt aber in Es-Moll.
Die größte Bedrohung des Selbstwertgefühls geht vom lieblosen Elternhaus aus. Gewiss: Auch leidende Eltern schaffen es nicht, ihre Kinder mit dem Maß an liebender Zuwendung zu versorgen, das die Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühles optimal unterstützt. Sie schaffen es aber nicht, weil sie es nicht wollen, sondern weil sie dermaßen vom eigenen Leid vereinnahmt sind, dass ihnen die Kraft dazu fehlt. Was Kinder bei leidenden Eltern erleben, ist ein Defizit an Liebe. Es ist aber nicht deren Gegenteil.
Als lieblose Eltern können nur solche gelten, die noch kränker als leidende sind. Leidende Eltern sind überfordert. Lieblose Eltern enthalten ihren Kindern nicht nur Wertschätzung vor, weil ihnen die Kraft dazu fehlt. Im Gegenteil: Sie setzen ihre Kraft dazu ein, ihre Kinder grob fahrlässig oder mutwillig abzuwerten. Die ganze Palette von Missbrauch, Gewalt, seelischer Grausamkeit und schwerer Vernachlässigung ist hier zu verzeichnen.
Lieblosen Eltern bloß mit dem moralischen Zeigefinger zu begegnen, erfasst das Problem nur oberflächlich. Wer seinen Kindern aus eigenem Vorsatz grob schadet, ist regelhaft mit einer schweren Persönlichkeitsstörung behaftet, der dissoziale Züge beigemischt sind. Bei paranoiden und/oder psychotischen Eltern sollte man mit der Behauptung eines Vorsatzes vorsichtig sein.
Die grundsätzliche Abwertung anderer, die das dissoziale Verhaltensmuster ausmacht, ist als hochpathogener Versuch auszumachen, den eigenen Mangel authentischen Selbstwertgefühls durch tätige Entwertung anderer aus der Welt zu schaffen. Der Dissoziale entwertet nicht nur in der Phantasie. Das macht auch manch anderer, wenn er mit dem Leben unzufrieden ist. Der Dissoziale sorgt dafür, dass andere seine Missachtung spüren. Erst wenn er den anderen wirksam kränkt, glaubt er seiner Missgunst Genüge zu tun.
Bei der paranoiden Verhaltensstruktur ist die Abwertung anderer eher beiläufig. Indem die paranoide Persönlichkeit die Ursache eines jeden Missstands bei anderen sieht, formuliert sie eine Aussage, die den Wert anderer infrage stellt: Mit mir ist alles in Ordnung. Du bist es, der falschliegt, der seinen Pflichten nicht nachkommt, mit dem etwas nicht in Ordnung ist. Wird diese Botschaft verinnerlicht, untergräbt auch sie das Selbstwertgefühl.
Wirkmechanismen der Abwertung
dissozial | mutwillig Der Dissoziale ist offensiv. Er setzt andere herab, weil er durch deren Herabsetzung konkrete Vorteile für sich zu erreichen versucht. |
paranoid | beiläufig Der Paranoide ist defensiv. Er wehrt Selbstwertzweifel ab, indem er anderen alle Schuld zuschreibt. Durch die Zuschreibung der Schuld wird der andere beiläufig herabgesetzt. |
Das Geschlecht hat bei der Überwindung der primären Unterlegenheit physiologische und psychosozial/kulturelle Bedeutung.
Bei Fischen und Vögeln ist es egal, welcher Part des Paares das Gelege bewacht und wer für die Brut gegebenenfalls Futter herbeischafft. Beim Menschen ist es nicht egal. Schwangerschaft und Stillfunktion sind Männern unmöglich. Deshalb gibt es eine Asymmetrie der Geschlechterrollen, die keine Emanzipation aus der Welt schaffen kann. Die unterschiedlichen Blutspiegel der geschlechtsrelevanten Hormone haben über Schwangerschaft und Stillzeit hinaus Einfluss auf das zwischenmenschliche Verhalten. Testosteron fördert Aggression und Konkurrenzbereitschaft. Oxytocin bahnt sanfte Umgangsformen. Die Unterschiede im Verhalten von Mann und Frau sind nicht nur kulturelle Artefakte. Wesentliche Teile davon sind existenzielle Vorgaben, denen man bereitwillig oder widerstrebend unterliegt.
Nicht nur Männer neigen dazu, expansive Taten, die sie unter dem Einfluss ihres Testosterons vollbringen, als höherwertig einzuschätzen, als die kommunikativen Leistungen von Frauen, die an der Infrastruktur der Gesellschaft weben. Einen Gipfel zu erklimmen, scheint großartiger zu sein, als zukünftigen Gipfelstürmern das familiäre Umfeld zu bieten, aus dem heraus sie zum Gipfelsturm ansetzen. Das hat vor allem in der Vergangenheit dazu geführt, das spezifisch weibliche Know-how geringzuschätzen, so wie es der Begriff Infrastruktur scheinbar nahelegt. Infra heißt lateinisch unterhalb. Aber nur wer beachtet, dass die Infrastruktur der Gesellschaft zugleich ihre Grundlage ist, kann den Wert des spezifisch Weiblichen erkennen, ohne dass er ihn durch die Forderung einer Frauenquote für jeden Höhenmeter aus einer Tiefe emporzuheben versucht, in der er sich gar nicht befindet.
Familiäre Umfelder, die den Rang der Geschlechter ungleich bewerten, erschweren es Frauen, das Gefühl der primären Unterlegenheit zu überwinden, dem jedes Kind unabhängig von seinem Geschlecht ab Geburt begegnet. Da Frauen bei der Überwindung von Minderwertigkeitsgefühlen weniger auf erkennbare Aggression setzen als Männer, benutzen sie beim Kampf um Überlegenheit subtilere Mittel. Das trifft für gemeinnützig-kreative Ziele, denen ihre Fähigkeiten dienen sollen, ebenso zu, wie für die egozentrisch-narzisstische Festigung ihres persönlichen Rangs.
Emanzipation kann inhaltlich umgesetzt werden. Das ist heute weitgehend der Fall. Der Begriff kann aber auch als Schlagwort missbraucht werden. Auch das ist heute der Fall. Trotz Emanzipation ist die rechtlich verbriefte Chancengleichheit keine Garantie dafür, dass jede Frau jeden Erfolg für sich verbuchen kann, der ihrem Lebensplan entspricht. Mit der Zulassung zum Wettkampf entstand auch die Gefahr des Scheiterns. Da der Mensch dazu neigt, die Ursache eines Scheiterns eher dem Hindernis anzulasten, als dem eigenen Unvermögen oder der mangelnden Willenskraft es zu überwinden, dient so mancher karrierebewussten Frau der Hinweis auf die vermeintliche Benachteiligung ihres Geschlechts als Stabilisator ihres Selbstwertgefühls. An mir lag es nicht, sondern an der Ungerechtigkeit der Welt. Die Projektion des Unerwünschten auf andere und anderes erspart es dem Selbstbild, vom Penthouse in Manhattan in eine Dreizimmerwohnung in Münster umzuziehen.
Genderkonforme Interpretationsblüten
Wir sind schwanger. Das ist eine Formulierung, die früher niemandem in den Sinn gekommen wäre. Ihr Gebrauch deutet entweder auf eine Neigung hin, Geschlechtsunterschiede aus weltanschaulichen Gründen zu verleugnen oder sie ist das Ergebnis der Furcht, als Individuum ohne sozialen Schutzmantel zu sich selbst zu stehen. Tatsächlich ist Schwangerschaft eine biologische Funktion des weiblichen Individuums. Sie kann ebenso wenig wie Bauchweh, Übergewicht oder Prostatabeschwerden sozialisiert werden. Ob es Sinn macht, Geschlechtsunterschiede derart aus der Welt zu deuten, mag jeder für sich selbst entscheiden.
Wir halten fest:
Wir halten außerdem fest:
Vier Pfeiler des Selbstwertgefühls
Ich kann...
Das Selbstwertgefühl bringt zum Ausdruck, ob sich das Individuum unterlegen oder überlegen fühlt. Fragen der Unter- bzw. Überlegenheit entstehen auf zwei Ebenen:
Daher ist klar, dass alles, was zu einer Zunahme technischer oder psychosozialer Fähigkeiten führt, geeignet ist, das Selbstwertgefühl zu heben.
Zu den alltagspraktischen Techniken gehören:
Zu den psychosozialen Fähigkeiten gehören:
Die verschiedenen Ebenen des Lebens sind ineinander verzahnt. Deshalb verweben sich technische und psychosoziale Fähigkeiten miteinander. Sich an einem Spiel zu beteiligen, beinhaltet oft dreierlei: Man muss die formalen Spielregeln kennen. Man muss kooperieren und man muss konkurrieren können.
Bei einer idealen Entwicklung wählt das Kind ausschließlich zielführende Methoden, um sein Minderwertigkeitsgefühl auszugleichen. Allein: Das Leben ist sehr komplex. Die Umstände, denen ein Kind begegnet, sind ihrerseits kaum je ideal; falls man den Begriff ideales Umfeld überhaupt definieren kann. Viele Kinder sind nicht nur mit körperlichen Schwächen konfrontiert, die sie gegenüber dem Durchschnitt ihrer Altersgenossen zurücksetzen, jedes Kind hat vielmehr auch Antworten auf die Persönlichkeit seiner Bezugspersonen sowie die Vorgaben des kulturellen Klimas zu finden, in dessen Widersprüche und Ungereimtheiten es hineingeboren wird. Besonders die Persönlichkeiten seiner Bezugspersonen können es dem Kind erschweren, ausschließlich zielführende Methoden zu wählen.
Wohlgemerkt
Die Sehnsucht des Menschen nach einer heilen Welt ist groß. Es ist daher verführerisch zu glauben, ein jedes Kind würde sich auf gerader Linie zu einem "perfekten" Erwachsenen entwickeln, träfe es in seiner Kindheit ausschließlich auf ebenso "perfekte" Eltern. Man könnte meinen, ein derart vom Schicksal begünstigtes Kind würde automatisch nur zielführende Methoden wählen, sodass es zum 18. Geburtstag ohne Umweg und ohne jede Schramme an die Pole-Position fährt. Das ist ein Trugschluss.
Es ist ein Trugschluss, weil kein Kind mit der Weisheit auf die Welt kommt, zielsicher zwischen zielführenden und problematischen Methoden zu unterscheiden. Es ist ein Trugschluss, weil selbst "perfekte" Eltern außerstande wären, die Früchte ihrer Lebenserfahrung durch eine begnadete Pädagogik 1:1 auf ihre Kinder zu übertragen.
Das Leben ist kein Schulunterricht, in dem Lehrer Schülern die richtige Grammatik einer Fremdsprache beibringen könnten. Das Leben ist ein Experiment, in dem jedes Individuum nur einen Weg gehen kann, den niemand vor ihm bereits gegangen ist. Vieles vom Wesentlichen, das gelernt werden kann, kann nur gemäß dem Prinzip Versuch-und-Irrtum verstanden werden. Auch in einer "idealen" Welt mit lauter "idealen" Eltern werden sich Kinder daher wehtun und sich und anderen Sorgen machen. Eltern haben im Guten wie im Bösen großen Einfluss auf den Werdegang ihrer Kinder. Ihr Einfluss wird aber auch überschätzt.
In Anbetracht der riesigen Aufgabe, die das Leben Kindern stellt, sich nämlich aus völligem Unvermögen zu wachsender Selbstbestimmtheit fortzuentwickeln, greift das Kind nach allen Möglichkeiten, die sich bieten. Erweist sich eine Methode als geeignet, ihm ein Quäntchen Selbstbestimmung zu verschaffen, wird sie solange angewandt, wie sie nützlich zu sein scheint. Die Methode wird aufgegeben, sobald etwas erkennbar Besseres entwickelt ist.
Solange das Kind nicht laufen kann, kriecht es auf allen vieren. Sobald es laufen kann, wird die Methode des Kriechens als bevorzugtes Mittel zur Fortbewegung aufgegeben und nur noch in besonderen Fällen angewandt: um den Monitor mit der Steckdose unter dem Schreibtisch zu verbinden.
In vielen Fällen ist eindeutig zu orten, der Einsatz welcher Methode der angestrebten Autonomie am besten dient. Laufen ist effektiver als Kriechen. Wer die Technik des Laufens erlernt, wendet im Anschluss eine Methode an, die man den zielführenden zuordnen kann. Doch selbst das Laufen ist nicht ohne Risiko. Wer laufen kann, stürzt womöglich in einen Abgrund, den er kriechend nicht hätte erreichen können.
Ähnlich ist es mit dem Sprechen. Bedürfnisse durch unartikuliertes Geplärr zu verkünden, reicht anfangs in der Regel aus. Beherrscht man jedoch die Technik des Sprechens, wachsen der Kommunikation beachtliche Möglichkeiten zu. Aber auch die Sprache kann nicht sicherstellen, dass ihr Einsatz den Sprecher stets aus Unterworfenheit befreit. Im Gegenteil: Sagt man am falschen Ort das Richtige, kann es durchaus sein, dass man auf Nimmerwiedersehen hinter Gittern verschwindet.
Diese einfachen Beispiele belegen, dass selbst Methoden, für deren Einsatz die meisten Argumente sprechen und deren Gebrauch daher grundsätzlich anzuraten ist, das Risiko enthalten, ganz andere Ergebnisse zu erbringen, als erwartet. Das liegt an der ungeheuren Komplexität der Wirklichkeit.
Grenzen der Pädagogik
Kinder sind keine Festplatten, auf die man schreiben könnte, was man will. Keine Pädagogik, die eine ideale Gemeinschaft zum Ziel hat, hat Aussicht auf Erfolg. Utopia bleibt eine Welt, die es nicht geben kann, weil die Wirklichkeit keiner Norm entspricht, sondern ihre Einzigartigkeit zum Ausdruck bringt. Den Einfluss von Eltern zu überschätzen, führt in die Irre, weil der Glaube an die allseits wohltuende Wirkmacht der Pädagogik Erzieher dazu verführt, ihre Zöglinge übermäßig mit vermeintlich unersetzlichem Einfluss zu bedrängen.
Die Komplexität dieser Wirklichkeit macht es aus, dass sich nicht nur die Zahl rein technischer Ansätze zu ihrer Bewältigung im hohen Zahlenraum verliert, sondern auch die Zahl der Möglichkeiten zur Lösung psychosozialer Probleme. Welcher Ansatz dabei der Optimale ist, ist im Vorfeld kaum jemals auszumachen. Viele, die der Mensch ergreift, erweisen sich erst spät als problematisch.
Bekommt ein Kind das erste Mal im Leben einen Hund zu Gesicht, kann es...
Wird einem Kind im Kindergarten von einem anderen ein Spielzeug streitig gemacht, kann es...
Egal, welche Methode das Kind wählt, es wählt sie in der Absicht, die Situation damit zu meistern. Zu meistern heißt: zu verhindern, eine Niederlage zu erleiden und sicherzustellen, dass es als Gewinner neuer Freiheit aus dem Ablauf hervorgeht. Da ihm niemand im Vorfeld verlässlich sagen kann, welche Methode die Beste ist, ist es darauf angewiesen, Methoden auszuprobieren und aus dem Ergebnis abzuleiten, welche als Beste erscheint. Das Maßband, das dabei zum Einsatz kommt, besteht aus Unbehagen und Wohlgefühl.
Führt ein Verhalten dazu, dass sich das Kind während und/oder nach seiner Ausführung wohlfühlt, hat das Muster die Chance, als Schablone übernommen zu werden. Ein Wohlgefühl tritt ein, wenn der Ablauf zu einer Steigerung des Selbstwertgefühls führt. Das Selbstwertgefühl ist eng mit der Erfahrung der Selbstwirksamkeit verbunden.
Unter A und B wird darauf hingewiesen, dass es zwei Phasen gibt, die auf ihre Gefühlsqualität hin beurteilt werden:
Welcher Phase das Kind mehr Bedeutung beimisst, bestimmt wesentlich darüber mit, ob es später einmal eher zielführende oder eher problematische Methoden zur Regulation seines Selbstwertgefühls anwenden wird. Während der Ausführung vieler Verhaltensweisen können Gefühle auftreten, die nur mit Willenskraft zu durchleben sind: zum Beispiel Angst, Mühsal, Langeweile, Ungeduld, Zweifel am Sinn der Aktion. Erst nach Abschluss der Handlung wird jedoch das Ergebnis sichtbar und erst wenn das Ergebnis vorliegt, kann beurteilt werden, ob es dem Selbstwertgefühl tatsächlich guttut.
Zwei Strategien
zielführend | Überwinde Minderwertigkeitsgefühle, indem du Überlegenheit erreichst. |
problematisch | Vermeide Minderwertigkeitsgefühle, indem du nichts tust, was dich an deine Unterlegenheit erinnert. |
Bei der Anwendung zielführender Methoden nimmt das Kind vorübergehend unangenehme Gefühle in Kauf. Es ist bereit, für die Bestätigung seiner Selbstwirksamkeit Opfer zu erbringen. Kinder, die eher zu problematischen Mustern neigen, deuten unangenehme Gefühle als Signale ihrer Unterlegen- und damit Minderwertigkeit. Sie neigen dazu, die Erfahrung genau solcher Gefühle zu vermeiden, weil sie zunächst einmal verunsichern. Die Methoden, die sie anwenden, um die Konfrontation mit ihren Minderwertigkeitsgefühlen abzuwehren, sind problematisch. Sie sind problematisch, weil sie nicht zu nachhaltigen Lösungen führen, sondern unangenehme Gefühle kurzfristig aus dem Blick verdrängen.
Psychopathologische Syndrome können als Resultate problematischer Strategien zur Bewältigung des primären Minderwertigkeitserlebens verstanden werden. Ihre Untersuchung in der Psychotherapie zählt zu den wirksamsten Methoden zur Lösung seelischer Probleme. Im Folgenden soll versucht werden, dysfunktionale, also untaugliche Strategien zu beleuchten, die mit spezifischen psychiatrischen Syndromen in Verbindung stehen.
Bei der Beschreibung problematischer Muster macht es Sinn, zwei Blickwinkel einzunehmen. Aus dem einen erkennt man allgemeine Muster, die so häufig sind, dass sie von der überwiegenden Zahl aller Menschen ausgiebig angewendet werden. Aus dem anderen Blickwinkel erkennt man Syndrome, also typische Symptomenkonstellationen, die sich zu den bekannten psychiatrischen Diagnosen verdichten. Beide Blickwinkel nacheinander einzunehmen, ermöglicht es, die häufigsten problematischen Strategien zur Regulation des Selbstwertgefühls deutlich zu erkennen.
Viele übergreifende Muster werden in der Psychiatrie auch als Abwehrmechanismen bezeichnet. Abwehrmechanismen sind potenziell pathogene Manöver, die in wechselnder Ausprägung bei den meisten psychiatrischen Erkrankungen nachweisbar sind. Andere Muster sind so selbstverständlich in der Normalpsychologie verankert, dass sie gar nicht erst als potenziell pathogene Manöver konzipiert werden; z. B. Vereinfachung und Vermeidung. Auch diese Verhaltensstrategien können ihrem Wesen nach jedoch als Abwehrmechanismen aufgefasst werden. Übergreifende Muster, die im Rahmen der Selbstwertregulation eine wichtige Rolle spielen sind...
Die Beurteilung des eigenen Wertes beruht zum überwiegenden Teil auf Vergleichen. Das Individuum vergleicht sich mit einem Soll, das es für sich selbst festlegt: dem Ich-Ideal. Es vergleicht sich vor allem aber auch mit anderen. Beide Vergleiche können ungünstig ausfallen. Im einfachsten Fall gesteht sich das Individuum, das sich nach dem Vergleich im Nachteil sieht, seine Unterlegenheit ein. Dann kann es entscheiden, ob es sie hinnimmt oder ob es sich darum bemüht, sie zu überwinden.
Meinem Wesen entspricht es, schicke Klamotten zu tragen. Nur wenn mir das gelingt, bin ich mit dem Anspruch an mein Leben im Reinen.
Zu den Objekten, die das Ich an sich binden möchte, gehören materieller Besitz ebenso wie begehrte Bezugspersonen. Man nennt sie auch Selbstobjekte (Kohut 1973).
Sich Unterlegenheit einzugestehen ist schon schwer genug. Sie als Element des eigenen Wesens anzunehmen, ist unter Umständen noch schwerer. Glaubt das Individuum weder im Stande zu sein, seine Unterlegenheit zu überwinden noch sie hinnehmen zu können, kann es sein, dass es sein Ich-Ideal abwertet oder jene, die es sich selbst gegenüber im Vorteil sieht.
Das Beispiel vom Fuchs, der unerreichbare Trauben für sauer erklärt, beleuchtet, wie Abwertung funktioniert, die sich gegen das Ich-Ideal und gegen Objekte richtet, die aus ihm heraus beansprucht werden. Im Grunde wertet der Fuchs zweierlei ab:
Dem Fuchs wird es nicht viel schaden, wenn er Trauben, die zu hoch hängen, abwertet und seinen Wunsch, sie zu genießen, als nutzlos abtut. Anders liegt der Fall, wenn jemand eine Ausbildung machen möchte, aber daran zweifelt, ob er sie schaffen kann. Wertet er sein Ziel ab, um die Herausforderung und die Gefahr des Scheiterns zu vermeiden, kann das tragisch sein. Statt den Versuch zu wagen und am Problem zu wachsen, betäubt er sein Minderwertigkeitsgefühl mit der Behauptung, dass sich nur Spießer solche dummen Ziele setzen. Wahrscheinlich wird er erfolgreiche Leute später zu Spießern erklären.
Leute zu Spießern erklären... Schon sind wir bei der Abwertung anderer. Statistisch gesehen fallen Vergleiche mit anderen zu 50% unerfreulich aus. Weise Leute nehmen das hin oder zum Anlass, sich mehr anzustrengen. Wer ist aber stets weise? So kommt es, dass das Minderwertigkeitserleben, das durch den Vergleich mit Bessergestellten ausgelöst werden kann, durch deren Abwertung gemildert wird. Wenn ich schon nicht so gut bin, wie der andere, erkläre ich den anderen für schlechter. Das senkt den erlebten Kontrast und das Schamgefühl, das dem Kontrast entspringen könnte.
Da der Abwertung immer etwas Boshaftes inneliegt, können Abwertungen jedoch großen Schaden anrichten. Sie tun das auf breiter Front. Mal mehr zum Schaden dessen, der sie betreibt, mal mehr zum Schaden dessen, den sie treffen.
Gelingt es jemandem nicht, seine abwertende Tendenz anderen gegenüber zu verheimlichen oder betreibt er sie sogar in aller Offenheit, so wird das Reaktionen nach sich ziehen. Entweder geht das Umfeld zu ihm auf Abstand oder es geht durch Abwertungen seinerseits zum Gegenangriff über. Im ersten Fall verliert der Täter Verbündete, im zweiten gewinnt er Gegner. Beides ist kein gutes Geschäft. Der Gewinn an Selbstwertgefühl, den er durch die Abwertung einstreichen will, wird durch Verluste zunichtegemacht, die der Abwertung folgen. Sowohl der Entzug an wohlmeinenden Kontakten als auch die reaktive Gegenabwertung durch andere, schaden dem Selbstwertgefühl. Wer sein Selbstwertgefühl durch die Abwertung anderer stützt, baut auf Sand.
Die destruktive Potenz der Abwertung wird allenthalben sichtbar:
Wer hat noch nicht von Paarkonflikten gehört, die zu endgültiger Zerrüttung führen, weil sich die ehemals liebenden Partner in symmetrischer Eskalation wechselseitig abwerten? Geschieht das, ist klar: Die Liebe war bedingt. Sie hing von der Bestätigung eines brüchigen Selbstwertgefühls von außen ab. Und als in der Komplexität des partnerschaftlichen Zusammenlebens die Bestätigung nicht nahtlos aufrechterhalten wurde, sprang ein Zündfunke aus dem strauchelnden Selbstwertgefühl, der eine Kettenreaktion auslöste, die die Kontrahenten nicht mehr stoppen konnten.
Der gleiche Prozess ist auf gesellschaftlicher Ebene zu beobachten. Kommt es durch gesellschaftliche Veränderungen zu einer Zuspitzung der Polarität rivalisierender politischer Lager, kann auch hier die kritische Grenze zu einer kaum noch kontrollierbaren Kettenreaktion überschritten werden. Die wechselseitigen Abwertungen der gegensätzlichen Lager zerrütten den Konsens derart, dass der schaudernde Beobachter zu fürchten beginnt, dass ihm die liebgewonnene Ordnung bald um die Ohren fliegt.
Politische Lager sind oft so von ihrer Tugend oder ihrem Recht überzeugt, dass ihnen die Abwertung der jeweils anderen unbedenklich erscheint. Nicht selten ist es noch schlimmer: Die Abwertung des Gegners wird für eine eigenständige Tugend gehalten, die das eigene Engagement für die gute Sache unterstreicht.
Abwertungen können in zwei Kategorien eingeteilt werden: defensive und offensive. Es ist logisch, dass defensive Abwertungen weniger schädlich sind. Als defensiv kann die Abwertung der Trauben durch den Fuchs betrachtet werden oder die stille Abwertung protziger Karossen und deren Besitzer.
Kontraste
Selbstwertgefühl |
Selbstwertgefühl |
Vor hellem Hintergrund wirkt mausgrau dunkel. Vor dunklem Hintergrund wirkt mausgrau hell. Wer abwertet, färbt andere dunkel, um heller zu erscheinen.
Während defensive Abwertungen dem Schutz eines wankenden Selbstwertempfindens dienen mögen, zielen offensive Abwertungen auf dessen Steigerung ab; und zwar auf Kosten anderer. Als typisches Beispiel einer offensiven Abwertung ist der Rassismus zu nennen. Oft wertet der Rassist nicht nur im Stillen ab. Vielmehr benutzt er die Abwertung um einen Angriff zu rechtfertigen, dessen Ziel handfeste Vorteile und die Aufblähung seines Selbstwertgefühls durch eroberte Machtpositionen ist.
Offensiv abwertend sind aber nicht nur Rassisten, die ihre Botschaften explizit zu verbreiten suchen. Auch viele im Lager ihrer erklärten Gegner sind es:
Die These sei gewagt: Auch im Lager der Antirassisten gibt es eine Menge rassistisches Abwertungspotenzial. Zwecks Stabilisierung des eigenen Selbstwertgefühls wird seine Existenz aber verdrängt oder auf den Gegner projiziert.
Die Funktion der Verdrängung als Mittel zur Steigerung des Selbstwertgefühls ist offensichtlich. Der Mensch neigt dazu, eher den Splitter im Auge des anderen zu sehen, als den Balken im eigenen. Etwas zu verdrängen heißt etwas zu übersehen, und zwar nicht aus Unvermögen, sondern mit regulativer Tendenz. An sich selbst zu übersehen, was Minderwertigkeitsgefühlen Vorschub leisten könnte, ist eine Taktik, die wohl jeder praktiziert und zwar bei gleichzeitiger Verdrängung, dass er es tut. Denn nur der, der ignoriert, dass er ignoriert, kann ungehindert ignorieren. Einen Ignoranten, der sich eingesteht, ignorant zu sein, gibt es nicht.
So probat das Mittel der Verdrängung unliebsamer Selbstanteile zur Stabilisierung des Selbstwertempfindens erscheinen mag, tatsächlich ist es Pfusch am Bau. Ein stabiles Selbstwertgefühl bedarf echten Selbstbewusstseins. Wer Aspekte seiner selbst aus dem Bewusstsein verdrängt, ist logischerweise seiner selbst nicht bewusst. So bleibt das Selbstwertgefühl auf tönernen Füßen stehen, auch wenn das durch die Verdrängung erzielte Selbstgefallen in Mimik, Gestik und Selbstbild so lieblich wie eine Harfe erklingt. Mein Gott, bin ich schön, dachte der Nacktmull nachdem er den Spiegel zerbrach.
Vorschlag
Bei der Beschreibung der Wirklichkeit wird hier von Komplexität gesprochen. Das geschieht in bewusster Abgrenzung zum Begriff kompliziert. Der Begriff kompliziert klingt nach Komplize. Und richtig: Beide Begriffe sind etymologisch miteinander verwandt. Komplizen hecken komplizierte Pläne aus, um andere übers Ohr zu hauen. Die Wirklichkeit als kompliziert einzustufen, bringt ihren Erzeuger daher in Verdacht unlauterer Machenschaften. Das muss nicht sein. Besser ist es, von Komplexität zu sprechen. Wir wissen, dass großartige Bauwerke aus einfachen Bestandteilen bestehen können ohne dass es einfachen Geister, wie wir welche sind, gelingt, die Struktur zu durchschauen.Eine komplexe Wirklichkeit kann auch entstehen, wenn der Baumeister das Einfachste zu ihrem Aufbau verwendet, das ihm zur Verfügung steht: sich selbst. Der eine Baumeister der Wirklichkeit hat keine komplizierte Welt erschaffen, sondern eine von erhabener Komplexität. Dass wir sie nicht verstehen, liegt nicht daran, dass er gemeinsam mit einem Komplizen - welchem denn auch - etwas ausgeheckt hat, um uns zu täuschen, sondern weil uns der Mut fehlt, so einfach zu sein, dass der Klang in uns klingt. Wir sind es, die die Komplexität mit unserer Kompliziertheit betrüben, weil wir glauben, wir müssten schlauer als der Einfachste sein.
Es wird daher vorgeschlagen, dem Himmel nichts Böses zu unterstellen, sondern das Böse als ein Werk derer zu betrachten, die sich ihres Wertes nicht sicher sind.
Wir alle vereinfachen. Was bleibt uns sonst übrig? Der Mensch gilt zwar als die intelligenteste Spezies auf Erden und was er technologisch alles auf die Reihe bringt, ist schier unglaublich. Trotzdem steht er vor der Komplexität der Wirklichkeit so dumm wie Hasenbrot. Um sich über die Runden zu helfen, vereinfacht er.
Resultat der Vereinfachung sind zum Beispiel die Allgemeinbegriffe: Tisch, Haus, Baum etc. Letztlich sind all diese Begriffe auf das gerade noch Begreifbare reduzierte Abstraktionen, denen keine Wirklichkeit entspricht. Es gibt Millionen Tische, Häuser und Bäume, die sich alle unterscheiden, den Tisch, das Haus und den Baum, der eins zu eins dem jeweiligen Begriff entspricht, gibt es aber nicht.
Noch schlimmer ist es mit abstrakten Begriffen, jenen nämlich, denen überhaupt nichts Objektivierbares gegenübersteht: Liebe, Großzügigkeit, Gerechtigkeit... Wer kann dafür eine Definition formulieren, die die geringste Aussicht hätte, als allgemeingültig akzeptiert zu werden?
Im Alltag leben wir aber so, wüssten wir genau, was Liebe und Gerechtigkeit bedeuten. Warum tun wir das? Weil es das Selbstwertgefühl päppelt, sich für jemanden zu halten, der Dank eindeutiger Sichtweisen der Wirklichkeit überlegen ist. Der Durchblicker kann meinen, dass es für Selbstwertzweifel keinen Anlass gibt. Damit der Glaube daran, ein Wissender zu sein, leichter fällt, muss man die Komplexität der Wirklichkeit auf das Maß zurechtstutzen, dass in den Hohlraum zwischen den Ohren passt.
Lästige Minderwertigkeitsgefühle tauchen vor allem in Situation auf, in denen Schwäche oder Unvermögen sichtbar werden könnten. Was liegt also näher, als das Problem des Selbstwertgefühls zu beheben, indem man verdächtige Situationen vermeidet. Wer nichts mehr tut, bei dem er scheitern könnte, kann Schwierigkeiten nicht mehr unterliegen. Problem gelöst? Kurzfristig ja, auf Dauer nicht.
Krankheitsgewinn
Eine wesentliche Wurzel psychogener Erkrankungen ist der Selbstwertzweifel. Die Symptomatik der Erkrankungen verursacht zugleich einen Krankheitsgewinn, der direkt an der Selbstwertregulation ansetzt. Unter einem Krankheitsgewinn versteht die Psychologie einen Vorteil, der die Nachteile einer Erkrankung begleitet; z. B. Schonung.
Während sich der gesunde Mensch vor allem mit dem beschäftigt, was er in der Welt vorfindet, beschäftigt sich der psychisch Kranke vor allem mit sich und seinen Symptomen. Somit weist er seiner Person eine Sonderstellung zu, die sie aus dem Hintergrund heraushebt. Der Sonderstellung entspricht eine simulierte und im selben Zuge überwertige Bedeutung, die als Ersatz für ein authentisches Selbstwertgefühl dient. Die Selbstbeschäftigung führt zu einer Abkehr von der gefürchteten Außenwelt, wo Niederlagen drohen.
Woran wächst der Mensch? Wodurch bekommt er Selbstvertrauen? Durch Schwierigkeiten, die er meistert oder zumindest mit einem blauen Auge übersteht. Wer aber nichts mehr wagt, damit nirgendwo sein Unvermögen sichtbar wird, wagt auch nichts mehr, woran er sich bewährt. Kurzfristig mag die Vermeidung das Selbstwertgefühl stabil halten. Langfristig untergräbt sie es. Spätestens, wenn alle anderen Kinder auf Bäume klettern, bleibt das übervorsichtige allein zurück und kann nur hoffen, dass man ihm von oben ein paar Kirschen zuwirft.
Weil es den Kern trifft, sei es mal eben wiederholt
Zu den wichtigsten Aufgaben des Therapeuten gehört es, Patienten aufzuzeigen, wie sie ihr Selbstwertgefühl durch problematische Methoden, es stabil zu halten, untergraben und damit ihren Lebensmut vermindern. Heilsam ist der Einsatz zielführender Methoden.
Eins ist klar: Nicht jede Vermeidung kann als problematisch gelten. Sonst wären alle seelisch Gesunden tot. Vermeidet es jemand, den Gschöllkopf zu besteigen, können verschiedene Motive dahinter stecken.
Ob eine Vermeidung als neurotisches Muster zur Regulation des Selbstwertempfindens dient oder dem gesunden Menschenverstand, ist von Fall zu Fall zu entscheiden. Vermeidet man eine neurotische Vermeidung, kann das zielführend sein.
Dabei ist klar, dass beide Komponenten wechselseitig aufeinander einwirken. Konkrete Taten entspringen dem Weltbild. Selbst- und Weltbild werden durch Taten und deren Resultate geformt und verändert.
Die klassische Verhaltenstherapie strebt primär eine Optimierung jener Handlungsweisen an, die konkret auf die äußere Wirklichkeit Einfluss nehmen. Verhalten soll funktionieren. Das heißt: Es soll erfolgreich eingreifen.
Tiefenpsychologische Therapeuten fokussieren, wie ihr Name es schon sagt, eher die tiefer liegenden Merkmale des Individuums. Sie interessieren sich primär für das, was hinter dem sichtbaren Verhalten verborgen liegt. Das sind Selbst- und Weltbild sowie die innerseelischen Manöver, die der Gestaltung beider Bilder dienen.
Selbstverständlich zielt auch die tiefenpsychologische Therapie nicht nur darauf ab, das Selbstbild zu verändern. Dem veränderten Selbstbild soll funktionales Verhalten entspringen. Selbstverständlich bleibt die Verhaltenstherapie heute nicht beim bloßen Verhalten stehen. Als kognitive Verhaltenstherapie deckt auch sie Kognitionen, also Sichtweisen auf. Diese Sichtweisen sind nichts anderes als Komponenten des Selbst- und Weltbilds.
Jeder Mensch wendet im Umgang mit der Wirklichkeit Abwehrmechanismen an; viele davon in problematischer Weise. Trotzdem landet nicht jeder beim Psychotherapeuten. Offensichtlich kann man auch dann ein normales Menschenleben führen, wenn nicht jedes Manöver, das man bei der Regulation seines Selbstwertgefühls zum Einsatz bringt, der Weisheit letztem Schluss entspricht. Es reicht, dass der Median zielführender und problematischer Verhaltensweisen näher am Pluspol liegt.
Erst wenn der Einsatz problematischer Muster eine kritische Grenze übersteigt, wird der Schaden offensichtlich. Sobald das geschieht, hat der Patient die Chance, dass der Hausarzt seine Beschwerden als psychisch bzw. psychosomatisch einstuft und ihn zum Spezialisten überweist. Da jeder Mensch seelische Eigenheiten aufweist, die man einer diagnostischen Kategorie des ICD, also der Internationalen Klassifikation der Krankheiten zuordnen kann, hat er beim Spezialisten kaum eine Chance, ohne Diagnose davonzukommen. Gottlob sind die meisten Patienten froh darüber, weil eine Diagnosestellung signalisiert, dass man die Ursache eines Leidens gefunden hat und die Chancen auf dessen Behebung steigen.
Ausnahmen
Nicht alle Patienten sind froh, wenn der Psychiater eine Diagnose stellt. Psychosomatisch erkrankte sowie hypochondrische und paranoide Menschen fühlen sich von der Psychiatrie oft unverstanden. Die Paranoiden gehen davon aus, dass nicht sie krank sind, sondern die Welt böse. Hypochondrisch und psychosomatisch Erkranke glauben oft, dass man die körperliche Ursache ihres Leidens bloß übersieht. Manchmal haben sie Recht.
Selbstbewusst spricht die Psychiatrie von Diagnosen, also vom Durchblick, den sie angeblich hat. Der Begriff Diagnose geht auf Griechisch dia [δια] = durch und gnosis [γνωσις] = Erkenntnis zurück. Er suggeriert, dass man die Verbindung von Symptom und Ursache durchblickt und daraus eine klar definierte Krankheitsentität herleiten kann. Manchmal trifft das zu.
Tatsächlich werden bei vielen Problemen aber nur Symptome erkannt und unter dem Etikett einer vermeintlich feststehenden Erkrankung zusammengefasst. Tatsächlich können die meisten psychiatrischen Diagnosen bislang nur als Syndrome aufgefasst werden. Syndrome sind Gefüge bestimmter Symptome, die auffällig oft gemeinsam auftreten. Sie werden in den Symptomlisten der ICD aufgeführt.
Über die Ursachen dieser Syndrome herrscht keine Einigkeit. Die biologische Psychiatrie ordnet den meisten Symptomen sogenannte Transmitterstörungen zu; also Ungleichgewichte in der Konzentration spezifischer Botenstoffe, die zwischen den Hirnzellen Reize übertragen. Die Wirksamkeit der Psychopharmaka rechtfertigt ihren Denkansatz.
Andere Denkansätze interessieren sich für psychogene Ursachen. Dabei hat die Psychiatrie viele Theorien hervorgebracht, deren Aufgabe es ist, kausale Verkettungen anschaulich zu machen. Auch hier besteht keine Einigkeit. Im Wissen, dass damit keinesfalls alles erklärt werden kann, untersucht die vorliegende Arbeit die Bedeutung der Selbstwertregulation bei den typischen psychiatrischen Syndromen. Sie kommt dabei zu Erkenntnissen, die in der praktischen Arbeit mit seelisch Erkrankten hilfreich sind.
Zwischen den Symptomen der ADHS und der Selbstwertregulation gibt es eine enge Wechselwirkung. Symptomatik und Minderwertigkeitsgefühl schaukeln einander auf.
Zunächst besteht die Erkrankung in einer erhöhten Ablenkbarkeit durch äußere oder innere Reize. Resultat sind Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen. Beide Symptome erschweren die soziale Einbindung. Nicht nur, dass der schulische Erfolg behindert wird, das Umfeld reagiert außerdem mit Ungeduld, Kritik und Ausgrenzung. Sowohl der Misserfolg bei der sozialen Konkurrenz als auch die Rückmeldungen des Umfelds verstärken das Minderwertigkeitsgefühl. Um die gefühlte Minderwertigkeit auszugleichen, strebt das Kind nach raschen Erfolgen. Es hat keine Geduld, auf Erfolge zu warten. Stellen sich Erfolge nicht sofort ein, wendet es sich neuen Zielen zu. Es verzettelt sich in verschiedene Projekte, die jedes für sich Erfolge bewirken könnten, die, parallel zueinander ausgeführt, aber zu neuem Scheitern führen. Jedes Scheitern vertieft das Gefühl des Ungenügens. Ein Kreislauf entsteht.
Was ist Angst? Angst ist eine Warnung. Angst warnt vor möglichen Gefahren. Sie rät dazu, vorsichtig zu sein. Gefährlich können existenzielle Bedrohungen sein. Wir erinnern uns, was dem Herzinfarktpatienten geraten wurde. Er soll Reha-Sport machen, aber nicht auf den Gschöllkopf klettern.
Neben konkreten Gefahren für Leib und Leben gibt es andere: die für den Rang in der Gemeinschaft und das daraus resultierende Selbstwertgefühl. Der Umgang mit beiden Kategorien kann pathologisch entgleisen und in eine Angststörung einmünden.
Hypochondrie
Gefahren für Leib und Leben zu vermeiden, ist jedem anzuraten. Außer ihm sind die meisten Leute jedoch der Ansicht, dass der Hypochonder dabei übertreibt. Obwohl das Kernsymptom der Hypochondrie eine pathologische Angst ist, bald nämlich schwer zu erkranken oder bereits krank zu sein, wird sie bislang nicht den Angststörungen zugeordnet. Ihre Beschreibung erfolgt daher als eigene Kategorie.
Agoraphobie / Platzangst
Zu den häufigen Ängsten gehört die Agoraphobie, also die Platzangst. Der Agoraphobiker fürchtet sich, das Haus zu verlassen. Wenn er es tut, dann möglichst nur dann, wenn er draußen niemandem begegnet. Er fürchtet sich vor Menschenmengen und weiten Plätzen. Er fürchtet, dort die Kontrolle zu verlieren, in einen Zustand der Hilflosigkeit zu geraten, aus dem er nicht flüchten kann, und in der Folge, wehrlos Peinlichkeiten ertragen zu müssen.
Der Bezug zur Selbstwertregulation ist offensichtlich. In der überschaubaren Welt der eigenen vier Wände hat man das Leben unter Kontrolle. Den Herausforderungen dieser kleinen Welt gegenüber ist man überlegen. Die Gefahr, sich hilflos, ohnmächtig und ausgeliefert zu fühlen, ist gering.
Anders, wenn die Haustür hinter einem zuklappt. Dann betritt man eine Bühne, deren Dynamik man beim besten Willen nicht mehr kontrollieren kann. Je größer die Menschenmenge ist, der man begegnet, und das Gewusel auf den Straßen, desto weniger kann man alle und alles im Auge behalten und sicherstellen, dass von nichts und niemandem ein Einfluss ausgeht, dem man wehrlos unterworfen ist. Ungewollt fremdbestimmt zu werden, ist ein sicheres Zeichen, dass man seine Überlegenheit verloren hat. Da Unterlegenheit als Minderwertigkeit empfunden wird, läuft der Agoraphobiker Gefahr, genau diesem Minderwertigkeitsgefühl auf der Straße zu begegnen. Die Gefahr wird ihm noch bewusster, wenn er sich vor Augen führt, was alles passieren könnte, falls er vor lauter Aufregung in einen hilflosen Zustand verfällt, der ihn der Menge erst recht ausliefert. Das könnte peinlich werden, weil die Hilflosigkeit ihm einen niederen Rang zuweist, was heftige Schamgefühle auf den Plan rufen würde. Symbolisiert wird das durch die Angst umzufallen. Denn wer umfällt, liegt unten.
Klaustrophobie
Beim klaustrophoben Patienten kommen Ängste hoch, wenn er sich beengt fühlt. Das kann im Fahrstuhl passieren, in der Schlange vor der Kaufhauskasse, in Bussen und Bahnen, in beengenden Situationen überhaupt. Selbst Mundschutzmasken gegen Corona können klaustrophobe Ängste auslösen.
Sich beengt zu fühlen heißt, sich eingeschränkt zu fühlen. Sich eingeschränkt zu fühlen heißt, sich durch äußere Faktoren fremdbestimmt zu fühlen. Der Fremdbestimmung durch äußere Faktoren entspricht ein niederer Rang, besonders auf sozialer Ebene. Ein niederer Rang wird oft als Minderwertigkeit empfunden.
Oft wird ein Minderwertigkeitserleben, das anderen Lebensbereichen entspringt, auf typisch klaustrophobe Auslösesituationen verschoben. Verschiebung heißt, dort wo es eigentlich hingehört, wird es nicht wahrgenommen; möglicherweise aus der Furcht heraus, eine wichtige Beziehung zu sprengen. Stattdessen wird das Thema auf einen Schauplatz verschoben, wo es symbolisch abgehandelt werden kann. So ist zu fragen, in welchem Lebensbereich sich der Klaustrophobe selbst so einschränkt, dass es seinem Anspruch auf Selbstwert widerspricht.
Bei der Sozialen Phobie tauchen Ängste auf, sobald sich der Betroffene von anderen gesehen und beurteilt fühlt. Das Selbstwertgefühl des Sozialphobikers hängt in exemplarischer Weise vom Urteil anderer ab. Deshalb will er in jeder Begegnung mit anderen die volle Kontrolle darüber, was diese über ihn denken könnten. Im Glauben, dass sein Wert mit dem Urteil anderer steht und fällt, setzt er alles daran, sicherzustellen, dass andere immer nur Gutes von ihm denken.
Was in der Begegnung mit einer vertrauten Einzelperson noch gelingen mag, wird einem Unbekannten oder gar mehreren gegenüber quasi unmöglich. Genau das ahnt der sozial ängstliche Mensch. Seine Angst rät ihm dazu, gefährliche Begegnungen lieber zu vermeiden. In der Regel wird er das auch tun. Es sei denn, dass Leben zwingt ihn dazu.
Eine häufige Spielart der Soziale Phobie ist das Lampenfieber. Klar: Wer die Bühne jedweder Öffentlichkeit betritt und sich einem Publikum zeigt, demonstriert dort irgendeine Fähigkeit; und sei es auch nur die Fähigkeit, vor Publikum zu sprechen. Damit fällt er Bewertungen anheim, die er selbst bei bestem Können nicht abschließend kontrollieren kann. Je mehr ein Selbstwertgefühl von der Bestätigung durch andere abhängt, desto größer die Anspannung dessen, der sich bewerten lässt.
Agora- und klaustrophobe Ängste können sich ebenso wie sozialphobische bis zur Panikattacke steigern. Bei der Panikattacke ist die ängstliche Erregung maximal. Sie überschwemmt den Patienten mit solcher Wucht, dass er außerstande ist, rational, zielführend und selbstbestimmt zu handeln. Der eigenen Emotion gegenüber erlebt er sich ebenso hilflos ausgeliefert, wie der Außenwelt, auf die er im Banne der Panik nicht mehr sinnvoll reagieren kann. Er verliert die Kontrolle und gerät in einen Zustand radikaler Unterlegenheit.
Für Sozialphobiker ist die Panikattacke das größte anzunehmende Unglück, denn die Unterlegenheit, die sie demonstriert, empfindet er als Minderwertigkeit, die nun für alle erkennbar ist. Das Schamgefühl, dass in der Folge aufsteigt, drängt ihn dazu, sich vor den Blicken des Publikums zu verstecken. Geht das nicht, weil eine Flucht noch blamabler wäre, kommt es beim Selbstwertgefühl zur Kernschmelze. Wie der Kegel eines erschöpften Vulkans bricht es in sich zusammen.
Sind Panikattacken erst einmal in der verschreckten Erinnerung der Kranken verankert, können sie scheinbar auch aus dem Nichts auftauchen. Ich saß sorglos vor dem Fernseher. Plötzlich stieg die Angst aus dem Bauchraum auf. Solche Berichte hören Psychiater nicht selten. Tatsächlich werden auch spontane Panikattacken ausgelöst: durch eine Bemerkung, eine Idee, durch den Klang einer Stimme, eine Person, die einer anderen ähnelt, einen unscheinbaren Gegenstand, der ins Blickfeld gerät und dort eine Assoziationskette von Gedanken auslöst, die die Büchse der Pandora öffnen, weil sie blitzschnell zum Thema Angst und Ohnmacht führen. Je öfter das passiert, desto mehr wird das Selbstvertrauen des Patienten erschüttert und mit ihm sein Selbstwertgefühl.
Die Depression ist ein Symptom, das durch verschiedene Faktoren verursacht werden kann; zum Beispiel durch bestimmte Medikamente oder Dunkelheit. Die biologische Psychiatrie geht darüber hinaus davon aus, dass es sich in der Regel um die Folge einer Störung im Metabolismus der Neurotransmitter handelt. Die psychotherapeutisch orientierte Psychiatrie betrachtet Transmitterstörungen nicht als primäre Ursache. Sie vermutet innerseelische Prozesse als Auslöser der meisten Depressionen.
Zweifellos liegt das Selbstwertgefühl eines jeden Depressiven darnieder. Der Depressive erlebt sich als kraftlos, unfähig, schuldig, niedergeschlagen. Er hat das Gefühl, dem Leben nicht mehr gewachsen zu sein. Er sieht sich als Versager, dem zu Recht die Verachtung aller Welt gebührt. Die Ressourcen, mit denen er das Lebens meistern könnte, sind in seinen Augen unzureichend oder völlig inexistent.
Die enge Verbindung zwischen depressiver Stimmungslage und negativem Selbstbild ist offensichtlich. Die Depression kann als ein Minderwertigkeitsgefühl gedeutet werden, über das der Kranke jede Kontrolle verloren hat. Wie ein Buschfeuer scheint es sich auszubreiten und erlischt erst, wenn es alles Lebendige vernichtet hat.
Trifft es zu, dass der Kranke die Kontrolle über sein Minderwertigkeitsgefühl verloren hat, so fragt man sich, wie er sie bis zum Ausbruch der Krankheit behielt. Die Antwort liefert uns die Betrachtung der typischen Verhaltensmuster depressiver und narzisstischer Persönlichkeiten: Es war die Hoffnung, durch gute Taten (depressiv) oder große Leistungen (narzisstisch) so viel Anerkennung von anderen einheimsen zu können, dass das Loch im Selbstwertgefühl einst durch die Wertschätzung der anderen aufgefüllt wird.
Folgerichtig findet man zwei Muster im Vorfeld der neurotischen Depression:
Die depressive Persönlichkeit neigt dazu, anderen als selbstlose Wohltäterin zu begegnen. Stets ist sie bereit, eigene Interessen zugunsten anderer zurückzustellen. Solange sie andere durch Geschenke bei Laune hält, ist sie guter Hoffnung, die Beschenkten so von ihrem Wert zu überzeugen, dass sie selbst an ihn glaubt. Die depressive Persönlichkeit geht davon aus, dass man Wert von anderen empfängt und man sich darum bemühen muss. Da es viel Kraft kostet, andere zu bedienen, geht die Kraft von Zeit zu Zeit zur Neige. Dann stirbt die Hoffnung und der Brand bricht aus. Oder es passiert etwas, was dem depressiv-strukturierten Menschen jäh vor Augen führt, dass seine Hoffnungen Illusionen sind: wenn der Undank anderer unübersehbar zum Ausdruck kommt.
Kommt es so, wie es fast immer kommt, fügt das Leben auch der narzisstischen Persönlichkeit schwere Niederlagen zu. Der Rest ist klar: Die Niederlage lässt die Illusion der Überlegenheit zerplatzen. Das Minderwertigkeitsgefühl bricht aus dem Keller hervor, wohin es bislang durch stolzes Gebaren und/oder faktische Erfolge vertrieben war. Die Zeit im Keller hat es in ein Gespenst verwandelt, das grässlicher aussieht als ein Vampir. Beim Versuch, ihn zu erschlagen, trifft so mancher Narzisst sich selbst.
Essstörungen betreffen vor allem junge Frauen. Vermutlich hat das damit zu tun, dass das körperliche Erscheinungsbild für das weibliche Selbstwertgefühl mehr Bedeutung hat als für das männliche.
Die Befürchtung magersüchtiger und bulimischer Patientinnen ist es, zu dick zu werden. In der Regel deuten sie Übergewicht überwertig als Ursache mangelnder Attraktivität, also mangelnder Wertschätzung durch das Umfeld. Auslösend für Essstörungen sind dementsprechend oft kritische Bemerkungen oder Spott über Pummeligkeit und Babyspeck. Die Strategie der essgestörten Patientin ist es, das selbstgesetzte Idealgewicht mit allen Mitteln zu erzwingen. Sie fastet, erbricht, treibt Sport bis zur Erschöpfung. Oft schaukelt sich das Problem auf. Fasten macht hungrig. Hunger drängt nach Sättigung. Dem Fasten folgen Essattacken. Statt die Ursache des Minderwertigkeitsgefühls zu beheben, gerät der Versuch zu einem Grabenkrieg, bei dem immer neue Niederlagen das Selbstwertgefühl weiter unterhöhlen.
Unterschiede
Die bulimische Patientin will Bestätigung ihres Wertes von außen. Sie unterwirft sich den Erwartungen anderer.
Die anorektische Patientin verzichtet auf Bestätigung. Sie versucht, alle Macht über sich selbst an sich zu reißen.
Während die rein bulimische Patientin ein Gewicht anstrebt, das dem üblichen Schönheitsideal tatsächlich entspricht, gehen Patientinnen mit schwerer Magersucht entschieden weiter. Sie streben keine Attraktivität an, sondern die totale Kontrolle über leibliche Funktionen, deren Dynamik sie ansonsten unterworfen wären. Dazu gehören vor allem sexuelle Impulse, die sie den Begehrlichkeiten anderer ausliefern könnten. Das Minderwertigkeitsgefühl der Magersüchtigen erlaubt ihr nicht, sich hinzugeben. Hingabe wäre in ihren Augen Unterwerfung.
Der Hypochonder vertraut nicht darauf, dass sein Körper dazu imstande ist, seine Funktionen erfolgreich aus eigener Kraft zu steuern. Oder er vertraut nicht darauf, dass der Körper in der Lage ist, sich gegen schädliche Einflüsse von außen zu wehren. Beide Befürchtungen entsprechen einem Zweifel an seiner vollwertigen Funktionsfähigkeit.
Die Psychologie kennt den Abwehrmechanismus der Verschiebung. Verschiebung heißt: Zur Stabilisierung des psychischen Gleichgewichts wird eine beunruhigende Thematik symbolisch auf einen Nebenkriegsschauplatz verschoben. Wendet man die These von der erstrangigen Bedeutung der Selbstwertregulation auf das hypochondrische Muster an, kann das Misstrauen in die Vollwertigkeit der körperlichen Funktionen als symbolische Thematisierung eines Minderwertigkeitsgefühls gedeutet werden, das eigentlich die ganze Person und nicht nur deren Körper trifft. Durch die Verschiebung bzw. die Einengung des Minderwertigkeitsthemas auf den Teilaspekt Körper, entzieht sich der Hypochonder der Konfrontation mit seiner gefühlten Unterlegenheit. Nicht er als Person ist unzulänglich, sondern bloß sein Körper.
Typischerweise ist der Hypochonder auch durch die sorgfältigsten ärztlichen Untersuchungen nicht zu überzeugen, dass sein Körper in Ordnung ist. Er läuft von Arzt zu Arzt. Egal, was ihm seine Ärzte versichern: Er glaubt ihnen nicht. Wahrscheinlich haben sie etwas übersehen. Oder sie haben bei der Untersuchung etwas falsch gemacht. Vielleicht wurden Laborproben oder MRT-Befunde vertauscht. Oder der Stand der medizinischen Wissenschaft als Ganzes ist nicht in der Lage, die verborgene Krankheit zu entdecken. Jedenfalls muss der Fehler bei anderen liegen. Im Zweifel an der ärztlichen Kunst ist deren Abwertung inbegriffen. Die Abwertung vermindert den Kontrast, der zwischen den eigenen Fähigkeiten und den Fähigkeiten anderer bestehen könnte.
Die Hypochondrie gibt außerdem Anlass zu einer ungebremsten Egozentrik. Um den Hypochonder herum mögen noch so viele Probleme einer Lösung harren, er selbst beschäftigt sich nur mit sich selbst. Die Konzentration seiner Aufmerksamkeit auf den persönlichen Belang, weist diesem eine überwertige Bedeutung zu. Die Beachtung, die der Hypochonder sich selbst zukommen lässt und die er durch seine Klagen und Sorgen im Umfeld abruft, stützt sein brüchiges Selbstwertgefühl. Was beachtet wird, muss Bedeutung haben. Es muss gut, wertvoll und wichtig sein.
Der Maniker gibt die nüchterne Einschätzung der Wirklichkeit und der eigenen Position darin zugunsten optimaler Vorstellungen auf. In der Vorstellung ist er angstfrei, geistig überlegen, von keinerlei Selbstwertzweifeln belastet. So hebt die Stimmung beschwingt in ungeahnte Höhen ab, was dem Maniker erst recht das Gefühl verleiht, in allen Kategorien großartig und zu grandiosem Erfolg bestimmt zu sein. Sobald Vorstellungen den Geist beherrschen, in denen kein Bewusstsein persönlichen Unvermögens der Phantasie mehr Grenzen setzt, werden wie aus dem Nichts Projekte entworfen, deren Erfolg vor dem Beginn ihrer Ausführung bereits zu feiern ist.
Das Leben findet vor allem in der Begegnung mit anderen statt. Setzt der Maniker zum Abflug an, beeindruckt er das Umfeld. So viel Energie, Zuversicht, Witz und Schlagfertigkeit ziehen die Aufmerksamkeit aller an. War der Maniker bislang eine unauffällige Person aus dem Normbereich menschlicher Erscheinungsformen, steht er nun im Rampenlicht. Die Beachtung des Umfelds, die der Maniker nun spielend auf sich bündeln kann, deutet er als Bestätigung seiner eklatanten Ungewöhnlichkeit. All die Mickerigkeit der bis dato gefühlten Selbstwertzweifel scheint ein für alle Mal wie weggewischt. Der Maniker ist endlich das, was er immer schon zu sein vermutet hatte. Wie sollte man sich dabei der ganzen Welt nicht überlegen fühlen?
In der manischen Phase versteigt sich der Kranke in ein Selbstbild ungehemmter Überlegenheit. Das fühlt sich großartig an. Es beflügelt ihn dazu, im Überschwang große Pläne zu verkünden, leichtsinnige Taten zu vollbringen und sich anderen gegenüber im Guten wie im Bösen weit aus dem Fenster zu lehnen. Der Maniker stößt jeden vor den Kopf, der ihm querkommt oder er macht hemmungslose Avancen, die er ohne Stimmungshoch nie wagen würde.
Kommt es, wie es kommen muss, wird der Maniker über kurz oder lang von der Wirklichkeit eingeholt. Pläne scheitern. Taten haben üble Konsequenzen. Die Ernüchterung schlägt ohne Rücksicht zu. Der Absturz erfolgt oft nicht nur bis zur Mittellinie, sondern weit darüber hinaus. Statt manisch ist der Kranke depressiv.
In der depressiven Phase liegt das Selbstwertgefühl am Boden. Dem Kranken wird deutlich, dass das großartige Selbstbild, das ihn eben noch über die Köpfe aller Übrigen erhob, Illusion gewesen ist. Das allein ist schon ernüchternd genug. Da das Selbstwertgefühl bei fast allen Menschen stark von der Bewertung durch andere abhängt, kommt noch das Schamgefühl dazu. Der abgestürzte Überflieger steht vor einem sozialen Scherbenhaufen und vor der Blamage. Sein Selbstwertgefühl bricht nach unten durch ins Jammertal. Er glaubt, die Möglichkeit, mit anderen wenigstens gleichauf zu sein, sei nun für alle Zeit verloren. Statt in der Illusion endgültig überwundenen Unterlegenheit, lebt er nun in der Illusion, für alle Zeit zur Unterlegenheit verdammt zu sein. Keine Zukunft mehr. Alles ist schwarz. Das Leben ist sinnlos.
Natürlich kommt dem, der nicht mehr daran glaubt, dass er jemals wieder überlegen sein kann, das Leben sinnlos vor; denn der Sinn des Lebens ist die Eroberung der Überlegenheit.
Aus der Illusion endgültiger Unterlegenheit gibt es zwei Auswege.
Der eine Weg heißt Selbsterkenntnis. Der Kranke erkennt die Mechanismen, die zu den extremen Schwankungen seines Selbstbilds führen. Er erkennt, dass das Minderwertigkeitsgefühl, aus dem die Manie ihn hinauskatapultiert, durch zielführende Methoden überwunden werden kann. Er macht sich auf den Weg, es zu tun. Seine womöglich genetisch gebahnte Neigung zu intensiver Emotionalität wird zum Werkzeug einer vertieften Wirklichkeitserfahrung.
Wer die Manie erlebt hat, braucht mehr Weisheit als ein anderer, um sich mit der Normalität zu begnügen. Wer einmal Formel 1 gefahren ist, dem kommt jeder Mittelklassewagen lahm vor.
Wir alle verwenden den Grundbaustein der Paranoia bei der Gestaltung unseres Umgangs mit der Wirklichkeit: die Projektion. Man sagt: Jemand projiziert, wenn er eigene Eigenschaften nicht als eigene anerkennt, sondern sie stattdessen bei anderen verortet. Im Regelfall sind das Eigenschaften, die man nicht haben will. Man will sie nicht haben, weil sie das Selbstbild trüben. Und wozu führt ein Selbstbild mit unschönen Flecken? Zu einer Senkung des Selbstwertgefühls! Unschwer ist die Projektion als Werkzeug zur Abwehr von Minderwertigkeitsurteilen erkennbar.
Beim Aufstehen aus der Hocke stößt sich Dirk den Kopf an der Tür des Küchenschranks, die er selbst hat offenstehen lassen. Wut schießt hoch. Er brüllt: Scheißtür! und knallt sie so fest zu, dass Martina zwei Zimmer weiter vor Schreck zusammenzuckt.
Das war Projektion. Dirk hat die Schuld an seinem Schmerz der Tür zur Last gelegt. Nicht er war der Tölpel, der nicht auf seinen Kopf geachtet hat, sondern die Tür ist schuld, die unverschämter Weise im Wege stand und sich durch ihr boshaftes Treiben eine harte Strafe verdiente. Das Beispiel zeigt, welche Makel am allermeisten durch Projektion aus dem eigenen Selbstbild entsorgt werden. Es sind Schuld und Verantwortung.
Wer deutet, stellt Weichen
Im dualistischen Weltbild der Normalität betrachtet der Mensch die Welt nicht als Matrix seiner Geburt, sondern als Kontrahent eines Wesens, dass angeblich bereits vollständig ist. Sähe er sie als Matrix, könnte er Widrigkeiten als Geburtshelfer sehen, die als Herausforderungen für seinen Aufstieg notwendig sind. Sobald ihm die Welt aber als Gegner erscheint, deutet er ihren Widerstand als bloßen Feind, auf den man die Schuld an allem Scheitern projizieren kann.
Der Mensch läuft durch die Welt und hat ein Problem. Damit es ihm gut geht, muss er sich ständig auf neue Bedingungen einstellen. Sonst tut er sich weh. Da das kaum je glattgeht, tut er sich oft weh; und hat dann zu entscheiden, wer für das Übel verantwortlich ist; er selbst oder die Bedingung, die nicht zu seinem Wohl zu passen scheint.
Die Übernahme der Verantwortung für das Unvermögen, das der Mensch der Welt gegenüber alle naslang erlebt, ist zugleich ein Eingeständnis der Unterlegenheit. Wir erinnern uns: Unterlegenheit wird als Minderwertigkeit gedeutet; vor allem im sozialen Vergleich. So kommt es, dass wir alle, um unser Selbstwertgefühl zu stabilisieren, großzügigen Gebrauch von projektiven Abwehrmechanismen machen: Die Nachbarn sind schuld, die Regierung ist schuld, die Linken sind schuld, die Rechten sind schuld, der Schiedsrichter ist schuld, das Wetter ist schuld, die Juden sind schuld, die Deutschen sind schuld, das Jobcenter ist schuld, der Niedergang des Abendlands ist schuld. All diese Schuldzuweisungen erleichtern es uns, in unseren Augen gut dazustehen. Mit uns ist alles in Ordnung. Das Übel liegt woanders.
Obwohl jeder von uns, mit Ausnahme der 10-8 % Erleuchteten, Schuld projiziert, gilt der Normale nicht als paranoid. Das liegt daran, dass der normale Mensch nicht systematisch projiziert, sondern bloß bei jenen Gelegenheiten, bei denen er sein Selbstwertgefühl nicht durch sozial verträglichere Methoden stabil halten kann. Bei manchen wird die Projektion aber zum Hauptwerkzeug der Selbstwertregulation. Solche Personen nennt die Psychiatrie paranoide Persönlichkeiten.
Die paranoide Persönlichkeit wird für das Umfeld zur Plage, weil ihre Neigung, grundsätzlich keine Verantwortung für irgendein Übel des Zusammenlebens zu übernehmen, andere ständig ins Unrecht setzt. Während die paranoide Persönlichkeit Dank ihres stereotypen Abwehrmanövers glauben mag, aller Fehler enthoben zu sein, weist sie anderen die Rolle umfassender Minderwertigkeit zu. Der andere macht alles falsch, ist unmoralisch, unfähig und so boshaft, dass er nicht einsehen will, dass sämtliche Verantwortung für die Behebung eines jeden Übles bei ihm liegt. Mein Gott! Was hat der Paranoide unter anderen zu leiden!
Noch einen Schritt weiter und die paranoide Persönlichkeit verschanzt sich im paranoiden Wahn. Auch der Wahnhafte glaubt, dass er nicht etwa unter seinem eigenen Unvermögen leidet, sondern unter der Schlechtigkeit anderer. Um sein Selbstwertgefühl vor dem Zusammenbruch zu retten, braucht er eine höhere Dosis vom gleichen Gift. Um den Kontrast zwischen ihm und den Bösen der Welt zu erhöhen, deutet er den schädlichen Einfluss, den sie auf sein Fortkommen haben, nicht nur als beiläufiges Ergebnis ihrer Fehler, Lügen und Verworfenheiten, sondern als gezieltes Komplott, geschmiedet, um den Schaden, den sie ihm als ihrem Opfer zufügen, gezielt zu maximieren. Für das Weltbild des wahnhaft Paranoiden hat das den Vorteil, dass nun endgültig klar ist, dass ihm selbst nichts angelastet werden kann. In Anbetracht der kriminellen Mächte, die sich gegen ihn verbündet haben, hatte er selbst keinerlei Chance, das Potenzial seiner Person in dieser Welt durch nachweisbare Erfolge zu verwirklichen.
Die paranoide Deutung, von anderen geschädigt oder beeinträchtigt zu werden, ist oft mit Größenideen verschwistert. Der Paranoide glaubt, zu einer besonderen Rolle berufen zu sein. Eigentlich ist er Prophet oder designierter Retter der Menschheit. Unübersehbar steckt darin ein wahnhaft überkompensiertes Minderwertigkeitsgefühl. Und überhaupt: Ist es nicht erstaunlich, dass so viele Widersacher offensichtlich nichts Besseres im Leben zu tun haben, als sich mit ihm zu befassen. Wer so viel Beachtung findet, selbst wenn dahinter eine böse Absicht stecken mag, muss eine bedeutende Persönlichkeit sein. Viel Feind', viel Ehr'.
Der Begriff Persönlichkeitsstörungen kann in die Irre führen. Er unterstellt, dass es ein Fenster von Persönlichkeitsvarianten gibt, die als ordnungsgemäß und damit vollwertig einzustufen sind, und zwar im Gegensatz zu anderen Varianten, die das entsprechende Soll nicht erfüllen und folglich minderwertig sind. Es ist klar, dass die Einteilung von Persönlichkeiten in gestörte und nicht gestörte nur willkürlich sein kann.
Tatsächlich ist es aber so, dass die persönlichen Eigenschaften und Verhaltensmuster eines Menschen bei der Mehrzahl aller seelischen Erkrankungen als maßgebliche Ursachen zu erkennen sind. Wäre es anders, hätten Verhaltens- und Psychotherapie bei all diesen Fällen kaum Wirkung. Akzentuierte Persönlichkeitsmuster in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, ist daher folgerichtig. Vor allem in der stationären Psychiatrie geschieht das zu wenig. Dort wird eher das Symptom gesehen, aber nicht das Muster, das die Weichen zu seiner Entstehung stellt.
Die Faktoren, die zur Entstehung unterschiedlicher Persönlichkeitsvarianten führen, mögen vielfältig sein. Aber auch hier fällt auf, welch große Rolle die Regulation des Selbstwertgefühls spielt. Das soll im Folgenden für die häufigsten Varianten aufgezeigt werden.
Bei der Regulation des Selbstwertgefühls macht der Abhängige ein bescheidenes Geschäft. Statt durch Führungsansprüche, Risikobereitschaft und Eigensinn manifeste Niederlagen zu riskieren, die sein Selbstwertgefühl weiter untergraben könnten, gibt er sich mit dem Spatz in der Hand zufrieden. Wenn etwas schiefgeht, kann er sagen: An mir lag es nicht. Ich habe bloß das getan, von dem es hieß, dass es richtig ist.
Ähnlich ist die Strategie der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeit. Sie ist allerdings radikaler. Auch der Abhängige schützt sein Selbstwertgefühl vor Schaden, indem er vermeidet. Im Grunde vermeidet er aber nur die Rivalität mit anderen. Der ängstlich-vermeidende Mensch vermeidet alles, was überhaupt zu Niederlagen führen könnte. Während der Anhängige womöglich Hurra ruft und mitmarschiert, wenn der Kaiser den Krieg erklärt, zuckt der ängstlich-vermeidende Mensch entsetzt zusammen. Was bei Kriegserklärungen gewiss die klügere Reaktion ist, ist im banalen Alltag doppelt hinderlich. Um sein geringes Selbstwertgefühl zu schützen, vermeidet der generell Vermeidende nicht nur Niederlagen durch gewagte Konkurrenz. Er vermeidet alles, was irgendwie zum Scheitern führen könnte. Sein Motto lautet: Wer nichts wagt, der kann auch nicht scheitern. Eine Glühbirne einschrauben? Jesus, was, wenn dabei etwas schiefgeht? Wer jedoch alles vermeidet, was scheitern könnte, gewinnt auch nichts mehr hinzu. Er macht keine Erfahrungen, die sein Selbstwertgefühl heben. So bleibt das Selbstwertgefühl des ängstlich-vermeidenden Menschen in der Falle der Vorsicht gefangen.
Auch das Selbstwertgefühl der anankastischen Persönlichkeit bleibt in der Falle der Vorsicht gefangen. Während sich der Ängstlich-vermeidende zur Verhinderung von Niederlagen, die sein Selbstwertgefühl dämpfen könnten, von der Frontlinie des Lebens zurückzieht, ist der zwanghafte Mensch jedoch aktiver. Bei ihm steht der Versuch, sich gegen alle Unwägbarkeiten des Daseins sowie die damit verbundene Gefahr von Niederlage und Demütigung durch Planung, Bahnung und Aktion abzusichern, so im Vordergrund, dass er jeden Satz, den er von sich gibt und jede Entscheidung, die er trifft, so akkurat abwägt, dass der Umgang mit ihm sehr mühsam werden kann. Die problematische Strategie, die er zur Sicherung des Selbstwertgefühls anwendet, entspricht der, die für Zwangsstörungen generell gilt. Der Zwanghafte überlässt sich nicht wie der Abhängige. Er will alles selbst bestimmen. Aktive Absicherung ist sein oberstes Gebot.
Für die depressive Persönlichkeit gelten psychodynamische Muster, die für psychogen verursachte Varianten der Depression bereits beschrieben wurden (siehe oben).
Für die dissoziale Persönlichkeit zählt nur das eigene Ego. Andere sind für den Dissozialen bloß Mittel zum Zweck, mithin etwas, dem kein eigenständiger Wert zukommt, sondern nur Funktion. Es entspricht nahtlos der Logik dieses Denkens, dass das Selbstwertgefühl des Dissozialen nicht unter Vergleichen mit etwas Wertvollem leiden kann. Wenn kein anderer etwas wert ist, besteht kein Anlass, sich selbst für minderwertiger zu halten. Es entsteht kein Kontrast, durch den etwas Derartiges erkennbar werden könnte. So kann das Minderwertigkeitsgefühl des Dissozialen hinter seinem Zynismus verborgen bleiben, während er durch den erfolgreichen Missbrauch anderer vordergründig Triumphe feiert.
Die Strategie des Dissozialen führt nicht dazu, dass sein Selbstwertgefühl substanziell steigt. Das liegt vor allem daran, dass kaum jemand einem dissozialen Menschen tragfähige Sympathien entgegenbringt, sodass er seinen eigenen Wert im Spiegel tatsächlich erkennen könnte. Der Dissoziale streift bestenfalls als Raubtier durch die Lande, das gefürchtet und vermieden wird. Er kann sich aber kaum je als anerkanntes Mitglied einer Gemeinschaft erleben, in der man sich wechselseitig wertschätzt. Stabiler Selbstwert kann nur empfunden werden, wenn man andere für ebenso wertvoll hält, wie sich selbst.
Im ersten Schritt verwendet sie depressive Muster. Ihr Minderwertigkeitsgefühl treibt sie dazu, nach jemandem Ausschau zu halten, der ihre Wunde im Selbstwertgefühl durch bedingungslose Wertschätzung heilt. Hat sie jemanden als Wohltäter auserkoren, setzt sie alles daran, den Auserkorenen dazu zu bringen, ihr das Gewünschte zu geben. Sie ist bereit, alles zu tun, was dem Auserkorenen seinerseits guttun könnte. Auf dem Weg dorthin ist sie zum gleichen altruistischen Verzicht zu Gunsten des anderen bereit, den auch die depressive Persönlichkeit als Mittel der ersten Wahl in ihr Verhaltensrepertoire aufgenommen hat.
Allein: Auserkorene Wohltäter entpuppen sich als ungenügend. Bleibt die totale Wertschätzung aus, für die der Emotional-instabile so viel gegeben hat, fühlt er sich erst recht entwertet. Um den zusätzlichen Absturz seines längst schon brüchigen Selbstwertgefühls zu verhindern, schlägt sein Umgang mit dem anderen ins Gegenteil um. Statt den anderen durch Geschenke zu hofieren, entwertet er ihn wutentbrannt aufs Gröbste. Resultat sind zertrümmerte Beziehungen. Da der Emotional-instabile davon ausgeht, dass er dem anderen das Beste von sich selbst geboten hat, erlebt er das Scheitern der Beziehung als erneuten Niederschlag seines Selbstwertgefühls. Wenn selbst das Beste, das ich geben kann, nicht reicht, um wertgeschätzt zu werden, dann muss ich wahrhaft minderwertig sein.
Zur Tragik dieser Methode gehört, dass man über kurz oder lang nicht mehr ernst genommen wird oder anderen ernsthaft auf die Nerven geht. Der Zuwendung, die der histrionische Mensch durch das Feuerwerk seines Auftritts vom Umfeld erzwingt, werden abwertende Botschaften beigemischt. Sei nicht schon wieder hysterisch! Dieser Ratschlag wird kaum etwas sein, was dem Selbstwertgefühl des Hysterikers zu stabiler Verankerung verhilft. Im Gegenteil: Sie droht das Drama zu verstärken.
Während sich der Dissoziale weder über seinen noch über den Wert anderer Gedanken macht, denkt der Narzisst unentwegt an den eigenen. Primär ignoriert er nicht den Wert seines Umfelds. Er setzt aber alles daran, dass sein eigener größer erscheint. Wer sich aber abmüht, ständig auf den Zehen zu stehen, damit er größer als alle andere erscheint, lebt auf Dauer in der Angst, vom Thron auf den Hocker hinabzufallen. Da Hochmut bekanntlich vor dem Fall kommt, kommt der Fall meist nach einer Phase erfolgreichen Hochmuts.
Da sich der Passiv-aggressive für andere sperrig macht, wird die Begegnung mit ihm auf Dauer als unfruchtbar und ärgerlich empfunden. Das Umfeld reagiert mit Unmut. Da man mit dem Passiv-aggressiven nichts gemeinsam machen kann, fängt es an, ihn zu übergehen. Wenn der Unwillen noch heftiger wird, denkt es sich: Man kann dem Kerl getrost eine verpassen, den Anlass dazu liefert er im Zweifelsfall nach. So eskaliert das Beziehungsproblem. Je mehr das Umfeld den Passiv-aggressiven zu etwas zwingen will, desto mehr übt der sich in passivem Widerstand. Beide Seiten fühlen sich nicht wertgeschätzt. Sie versuchen, die jeweils andere Seite, durch die jeweils eigene Methode der Abwertung zu beugen.
Die paranoide Persönlichkeit versucht ihr Selbstwertproblem durch Projektion von Schuld und negativen Eigenschaften auf andere zu lösen. Ihr Muster entspricht dem, was für die Paranoia bereits beschrieben wurde.
Durch die Strategie des Schizoiden verarmt sein psychosoziales Erfahrungsfeld. Es fehlt ihm die Gelegenheit, im realen Kontakt mit anderen dazuzulernen. Er übt nicht, wie man sich annähert, wie man gemeinsame Projekte ausführt, wie man Enttäuschungen aushält, wie man Missverständnisse klärt, wie man sich selektiv gegen Erwartungen anderer abgrenzt ohne gleich komplette Sperranlagen zu errichten. All das bloß in der Phantasie zu simulieren, bringt keinen echten Erkenntnisgewinn. So bleibt der Schizoide unerfahren. Seine Unerfahrenheit verunsichert ihn. Sein Selbstwertgefühl bleibt zerbrechlich. Es kann sich nicht fortentwickeln. Es ist darauf angewiesen, gegen Erschütterungen von außen weiter abgeschirmt zu werden. Da die verlockendsten Güter der Welt jenseits seines Horizontes liegen, fühlt sich der Schizoide vom Leben zurückgesetzt.
Außerdem gibt es in der Welt des Eigenbrötlers nur eine wichtige Person: er selbst. So wird sein Selbstwertgefühl, das man getrost als brüchig einschätzen darf, einerseits durch doppelte Distanz vor Dämpfern von außen geschützt und andererseits durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den abgeschirmten Horizont einer privatistischen Ideenwelt gestützt. In seinem eigensinnigen Kopf kann der Schizotype wie ein Gott über die Wahrheit bestimmen. Jenseits der Welt seiner Vorstellungen spielt er keine anerkannte Rolle.
Pauschal zu behaupten, Psychosen würden durch psychogene Prozesse, zum Beispiel durch Fehlsteuerung der Selbstwertregulation hervorgerufen, wäre verwegen. Mehr noch: Es wäre tollkühn, denn eine solche Behauptung könnte nicht anders, als unter dem überzeugenden Sperrfeuer ihrer Kritiker zusammenbrechen wie das Selbstwertgefühl eines Menschen, der von einer Psychose überrascht auf einer Gesellschaft wirres Zeug redet und vor aller Augen von Sanitätern in die nächstgelegene psychiatrische Klinik verbracht würde.
Die Argumente, die gegen die tollkühne Behauptung sprechen, sind erdrückend:
Zweifellos werden Psychosen bei Drogenintoxikation primär durch die Droge ausgelöst. Meist klingen sie nach Ausscheidung der Droge folgenlos ab.
Viele psychotische Symptome, allen voran Halluzinationen, sprechen auf Neuroleptika an, also auf Substanzen, die in die biochemisch vermittelte Reizübertragung zwischen den Hirnzellen eingreifen.
Andererseits gilt aber auch:
Die endogenen Basisstörungen, die man bei schizophrenen Psychosen als deren Grundlage annehmen kann, sind am besten als Folge von Transmitterstörungen zu erklären. Gleichzeitig trifft die ausbrechende Psychose jedoch keinen Apparat, sondern einen Menschen, der genauso wie jeder andere vor der Aufgabe steht, sein Selbstwertgefühl zu regulieren. Die Überwältigung durch die Symptome und die verunsichernde Andersartigkeit des Erlebens sind für die Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls eine große Herausforderung; zumal die Verrücktheit des Zustandes sowohl vom Betroffenen als auch vom Umfeld regelhaft als Ausdruck einer tiefgreifenden Minderwertigkeit gedeutet wird.
Wer erstmals Stimmen hört, geht selbstverständlich davon aus, dass diese Stimmen von außen kommen. Gleiches gilt für Halluzinationen der übrigen Sinnesgebiete. Sinnesorgane sind dazu bestimmt, Äußeres wahrzunehmen. Wenn also Sinneswahrnehmung auftauchen, warum sollte man dann nicht davon ausgehen, dass sie von außen kommen?
Sich wie eine Marionette als von außen gesteuert zu fühlen, bedeutet den Zusammenbruch all dessen, worauf sich das Selbstwertgefühl stützt: die autonome Handlungsfähigkeit des Individuums gegenüber seiner Umwelt.
Ist es nicht nachvollziehbar, dass ein Mensch, der von Erfahrungen heimgesucht wird, die die Grundpfeiler seiner Selbstwertregulation derart ins Wanken bringen, im nächsten Schritt gehäuft zu projektiven Abwehrmanövern greift, um durch Projektion zu retten, was zu retten ist? Und wenn er es im großen Stile tut, dann ist klar, dass sich auch er dauerhaft in einen paranoiden Wahn verstricken kann.
Andererseits gibt es Menschen, die chronisch halluzinieren und sogar von Empfindungen berichten, die Ich-Störungen entsprechen, mit denen man sich aber problemlos über die normale Realitätsdeutung verständigen kann, ohne dass die Kommunikation durch paranoide Gräben gestört wäre.
Warum sollten wir also nicht davon ausgehen, dass...
Das heißt im Umkehrschluss: Neuropsychiatrisch betrachtet kann ein Mensch schizophren sein, ohne dass sein Realitätskontakt gestört wäre; und zwar dann, wenn es ihm gelingt, Trugwahrnehmungen als solche zu erkennen und der Versuchung zu widerstehen, sein Selbstwertgefühl durch Projektionen zu stützen, die zu einer paranoiden Realitätsverkennung führen.
Jede Substanz, die süchtig konsumiert wird, macht das momentane Erleben angenehmer. Vor dem Konsum ist der Konsument ängstlich, verzagt, überfordert, neidisch, eifersüchtig, niedergeschlagen, gelangweilt. Er fühlt sich ungeliebt oder in ohnmächtiger Wut gefangen. Nach dem Konsum ist er entspannt, gelassen, erheitert, enthemmt, kontaktfähig oder sorglos. Die Gefühlsqualitäten, die vor dem Konsum bestehen, erinnern ihn an Ohnmacht, Bedeutungslosigkeit und Ausgeliefertsein. All das sind Qualitäten, die das primäre Minderwertigkeitsgefühl repräsentieren. Nach dem Konsum sind die Dinge anders. Der Konsument fühlt sich den Ansprüchen des Lebens gewachsen oder enthoben. Oder er ignoriert, dass sie überhaupt bestehen.
Wer sich angewöhnt, Minderwertigkeitsgefühle auszublenden, statt nach Wegen Ausschau zu halten, über sie hinauszuwachsen, lernt im Umgang mit der Welt nichts mehr dazu. Während die Anforderungen mit der Zeit komplexer werden, bleibt das Repertoire des Süchtigen, ihnen zu entsprechen, immer mehr zurück. Unterlegenheit und Minderwertigkeitsgefühle wachsen. Die Dosis an Betäubungsmitteln die man braucht, um sie zu unterdrücken, wächst ebenfalls.
Mit wachsendem Konsum stellen sich gesundheitliche und soziale Schäden ein. Der Süchtige erlebt, dass er nichts mehr auf die Reihe bringt. Die Gesundheit wird marode, der Job ist weg, die Beziehung kaputt: Säckeweise Blaudünger für weitere Minderwertigkeitsgefühle. Abstinenz fällt immer schwerer. Rückfälle häufen sich. Sie demonstrieren das Unvermögen, zu entscheiden, was im eigenen Leben passiert.
Computerspiele
Erfolgreiche Computerspiele bieten dem Spieler die Chance, mit wenig Aufwand Erfolge zu erringen, die sein Selbstwertgefühl steigern. Einverstanden: Viele Spieler investieren große Mühen, um die obersten Level zu erreichen. Im Vergleich zu dem, was das wirkliche Leben an Mühen verlangt, um ähnlich weit nach oben zu steigen, sind das aber Peanuts. Während man im wirklichen Leben womöglich bittere Niederlagen einstecken muss und es gewiss nicht für jeden einen Platz an der Spitze gibt, ist das Risiko endgültiger Niederlagen in der virtuellen Welt gleich null. Hat man eine Runde verloren, fängt man per Knopfdruck von vorne an. Beim Abitur geht das nicht.Die aufwertende Potenz der Rollen, die man virtuell spielen kann, toppt das Potenzial gesellschaftlichen Aufstiegs in der Regel locker. Bundeskanzler oder Firmengründer zu werden, wäre nicht schlecht. Was ist deren Arbeitsalltag aber schon im Vergleich zu den berauschenden Möglichkeiten von Magie, Märchenwelt, Zivilisationsentwicklung, Flugkünsten und Heldentum an sämtlichen Kriegsschauplätzen im Kosmos?
Spiel ist eben Spiel, kann man dazu sagen. Jedem sei es gegönnt. Aus dem Spiel wird aber Ernst, sobald die faszinierende Möglichkeit, ohne echten Einsatz märchenhafte Erfolge zu erringen, den Spieler derart in den Bann zieht, dass er Minderwertigkeitsgefühle, die ihn daran hindern, am wahren Leben unbefangen teilzunehmen, vergisst. Dann passiert, was bei jeder Vermeidung echter Gefahr passiert. Der süchtige Spieler erprobt sich nicht mehr an der Wirklichkeit. Mangels roborierender Erfahrungen, also solcher, die ihn tatsächlich kräftigen könnten, bleibt er erst recht auf die Erfolge angewiesen, die er mit der Maus erringt.
Jeder Zwang ist ein überwertiger Versuch, etwas zu kontrollieren: den Ablauf der Dinge, das Verhalten anderer, sich selbst. Wer etwas kontrollieren kann, ist überlegen. Wer überlegen ist, hat keinen Anlass, sich minderwertig zu fühlen.
Zwänge können relativ isoliert auftreten. Der eine kontrolliert, ob die Fenster zu sind, ein anderer, ob sich das Portemonnaie tatsächlich noch in der Jackentasche befindet. Solche Zwänge stellen auf direktem Wege sicher, dass man keine üblen Überraschungen erlebt. Üble Überraschungen sind solche, die zeigen, in welchem Ausmaß der Überraschte der Übermacht der Wirklichkeit ausgeliefert ist. Ausgeliefert zu sein, heißt sich minderwertig zu fühlen. Der Zwanghafte beugt vor, indem er die Wirklichkeit zu bezwingen versucht.
Auch eigenen Impulsen kann man ausgeliefert sein. Wird man von solchen Impulsen gesteuert, wächst die Gefahr, Niederlagen zu erleben und in Peinlichkeiten verwickelt zu werden. Gefährlich sind vor allem aggressive und libidinöse Impulse. Folgt man aggressiven Impulsen, verwickelt man sich in Konflikte, in denen die eigene Unterlegenheit durch offensichtliche Niederlagen sichtbar werden kann. Folgt man libidinösen Impulsen, kann man die Empörung des Umfelds erregen, Beziehungen zerstören oder zurückgewiesen werden. Jede Zurückweisung droht, als Abwertung empfunden zu werden und kann zu heftigsten Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen führen. All das ist für zwanghafte Personen Anlass genug, als gefährlich eingestufte Impulse und Gedanken, die damit in Verbindung stehen, kontrollieren zu wollen. Wir wissen: Je mehr man sie wegdrücken will, desto mehr drängen sie heran. Die Angst, ihnen zu unterliegen, wächst mit dem Zwang, sie aus der Welt zu schaffen.
Beim Asperger-Syndrom handelt es sich allem Anschein nach um eine neuropsychiatrische Störung. Als primäre Ursache vermutet man eine Störung der neuronalen Entwicklung bei der biologischen Reifung des Zentralnervensystems, in deren Gefolge bestimmte mentale Funktionen beeinträchtigt sind. Der Kern der Funktionsstörung liegt im Unvermögen, nonverbale Botschaften wie Mimik, Gestik und Sprachmelodie anderer Personen auszulesen.
Somit könnte man die psychologische Betrachtung mit dem Hinweis abschließen, dass es sich um eine eigentlich neurologische Störung mit unveränderlicher Ursache handelt. Analysiert man die Verhaltensmuster betroffener Patienten, wird jedoch klar, dass das autistische Muster tiefgreifenden Einfluss auf die Selbstwertregulation hat, sodass man die psychische Problematik des Asperger-Patienten besser versteht, wenn man das neuropsychiatrische Defizit mit seinen individualpsychologischen Folgen im Zusammenhang betrachtet.
Drei Aspekte der autistischen Störung
Die primäre Störung erschwert den Aufbau sozialer Beziehungen. Die Kommunikation wird durch Missverständnisse belastet, sodass es im Umgang mit anderen zu irritierenden und befremdlichen Erfahrungen kommt. Das Unvermögen, erfolgreich mit anderen umzugehen, vertieft das Minderwertigkeitsgefühl. Sowohl das negative Selbstwerturteil als auch das fortgesetzte Unvermögen führen zu sozialem Rückzug sowie Sicherungs- und Vermeidungsmustern.
Da die eingeschränkte Kommunikation den Patienten ständig unvorhersehbaren Problemen aussetzt, die sein Selbstwertgefühl durch neue Niederlagen zu untergraben drohen, versucht er, Sicherheit zu schaffen, indem er seine Lebensführung so eindeutig wie möglich strukturiert. Sobald etwas Ungeplantes passiert, reagiert er mit heftigem Widerstand.
Das primäre Defizit bahnt die Wahl spezifischer Strategien zur Problembewältigung: schizoid-vermeidende und zwanghaft-kontrollierende Muster. Die Dynamik beider Muster führt im nächsten Schritt zur Festigung des primären Defizits:
Beides festigt Formen des Unvermögens, was Minderwertigkeitsgefühle vertieft, die dann erst recht zum Griff nach Abwehrmustern drängen.
Neben den klassischen Abwehrmechanismen und den psychiatrischen Erkrankungen gibt es eine Vielzahl menschlicher Erfahrungsfelder und -formen, deren enger Bezug zur Regulation des Selbstwertgefühls leicht zu erkennen ist. Vieles, was auf diesen Erfahrungsfeldern geschieht, ist nicht als pathologisch zu klassifizieren, sondern gehört zu den Varianten normalpsychologischer Prozesse. Ungeachtet dessen ist die Betrachtung solcher Erfahrungsformen sowohl im Rahmen heilender Selbsterkenntnis als auch im Rahmen psychotherapeutischer Behandlungen nützlich. Auch hier gilt es, die eigentliche Ursache potenzieller Probleme, nämlich die Minderwertigkeitsbefürchtung zu erkennen und zu lernen, keine Manöver mehr zum Ausgleich des vermeintlich minderen Wertes anzuwenden, die das Problem vertiefen.
Aggression dient zunächst der Beschaffung und Verteidigung existenzsichernder Ressourcen. Da der Zugriff auf Ressourcen mit dem gesellschaftlichen Rang in Verbindung steht, kommen aggressive Impulse auch ins Spiel, sobald es um Fragen der Wertschätzung durch andere geht. Ein großer Teil der Aggressionen, die menschliche Gesellschaften durchsetzen, dienen der Abwehr potenzieller oder bereits erlebter Entwertungen. Nichts hat Menschen zu mehr Gewalt motiviert, als die Befürchtung, ohne die Veränderung von Machtverhältnissen minderwertig zu sein.
Beziehung, zumindest wenn sie freiwillig eingegangen wird, heißt Wertschätzung. Das gilt besonders für intime Partnerschaften. Deren Rolle geht zwar weit über die bloße Bestätigung des Selbstwerts hinaus. Zugleich sind sie bei der Regulation des Selbstwertgefühls jedoch ein wesentlicher Faktor. Kaum jemand ist in der Lage, sein Selbstwertgefühl stabil zu halten, wenn niemand mit ihm etwas zu tun haben will. Ablehnung und Ausgrenzung rufen die Minderwertigkeitsbefürchtung auf den Plan.
Die Verquickung der Themen Selbstwert und Beziehung ist so eng, dass es vielen nicht gelingt, sich als vollwertig zu empfinden, wenn sie ohne Partner leben. Dementsprechend groß ist die Verzweiflung, mit der sie einen Partner suchen. Ist schließlich einer gefunden, gehen die Probleme aber oft bloß in die zweite Runde; denn die Sehnsucht, geliebt, also bedingungslos wertgeschätzt zu werden, ist meist größer als die Fähigkeit, es selbst zu tun.
Ebenso groß wie der Stellenwert, den Beziehungen für das Selbstwerterleben haben, ist die Bedrohung für den Fall, dass eine Beziehung zerbricht. Die Untreue des Partners kann als massive Entwertung empfunden werden. Viele sehen danach keinen Sinn mehr darin, ihr Leben fortzusetzen.
Ehre ist das Anrecht auf Wertschätzung. Je weniger sich ein Individuum seines unbedingten Wertes bewusst ist, desto mehr wird es sein Anrecht verteidigen. Entweder...
Von besonderer Bedeutung als Auslöser erhöhter Empfindlichkeit auf dem Gebiet der Ehre sind Weltanschauungen und Glaubensformen, die dem Menschen unbedingten Wert absprechen und ihm eine Aufwertung für den Fall in Aussicht stellen, falls er die Bedingungen ihrer jeweiligen Vorgaben erfüllt.
Eifersucht kommt auf, sobald man befürchtet, die Gunst einer geliebten Person zu verlieren, weil sich diese einem anderen zuwenden könnte; oder es bereits tut. Es mag sein, dass Eifersucht nicht in jedem Fall negativ einzuschätzen ist, weil sie auch einen nützlichen Zweck erfüllt: Beziehungen zu festigen und dem Partner anzuzeigen, dass man ihn wertschätzt. In der Tat wäre so mancher gekränkt, wenn sein Partner nie eifersüchtig würde. Gerade das empfände er als mangelnde Wertschätzung.
Auf der anderen Seite wird die Menschengesellschaft von eifersüchtigen Impulsen geplagt, die unübersehbar narzisstisch motiviert sind. Soll heißen: die weniger die Wertschätzung des Partners anzeigen, sondern vielmehr die Begierde des Eifersüchtigen, wertgeschätzt zu werden. In solchen Fällen liegt regelhaft ein Minderwertigkeitsgefühl vor, das durch die Einverleibung des Begehrten als aufwertendes Selbstobjekt, ausgeglichen werden soll. Der Wertschätzung des Eifersüchtigen, die er seinem Partner dabei entgegenbringt, liegt zugleich seine Abwertung zum Objekt egozentrischer Bedürfnisse inne.
Alleine zu sein, kann man unterschiedlich erleben. Der eine genießt es, weil er sich dann auf seine Interessen konzentriert. Der andere fühlt sich einsam, weil ihn niemand beachtet. Einsamkeit wird eher empfunden, wenn man sich selbst nicht genügt. Menschen mit autonomem Selbstwertgefühl können die Abwesenheit von Bezugspersonen leichter tolerieren, als solche, deren Selbstwertgefühl davon abhängt, von anderen beachtet zu werden.
Wovor ekelt man sich? Vor Schmutz, verdorbenen Speisen, Ungeziefer, Exkrementen und Aas. Mithin vor lauter Dingen, die für Genuss und Verbrauch wertlos sind. Ekel ist einerseits ein seelisches Werkzeug, um den Organismus vor schädlichen Einflüssen von außen zu schützen. Dann ist seine Funktion ganz pragmatisch.
Ekel kann aber auch ein Werkzeug zur Regulation des Selbstwertgefühls sein. Bei manchen Menschen mit niedrigem Selbstwertgefühl nimmt der Ekel solche Ausmaße an, dass sie kaum noch imstande sind, unbefangen irgendwelche Oberflächen zu berühren. Sie tragen Handschuhe, waschen sich unentwegt die Hände, werden arbeitsunfähig, weil sie von der Zwangsidee beherrscht sind, jede Berührung mit Menschen und Gegenständen am Arbeitsplatz vermeiden zu müssen. Sobald sie mit einem Kleidungsstück irgendwo angestoßen sind, muss es gewechselt und in der Maschine bei 95° gewaschen werden.
In solchen Fällen dient der Ekel nicht dem Schutz des Körpers vor echten Gefahren, sondern einer imaginären Steigerung des Selbstwertgefühls bei unbewältigten Minderwertigkeitsbefürchtungen. Durch den Ekel vor der vermeintlich durchgehend schmutzigen Außenwelt wertet der Kranke alles ab, was nicht zu seinem Ich gehört. Alles um ihn herum ist so verdorben, dass man den Kontakt damit vermeiden muss. So vermindert der Kranke den Bewertungskontrast zwischen Ich und Nicht-Ich. Mehr noch: Er dreht ihn um, sodass das eigene Minderwertigkeitsgefühl aus dem Blickfeld verschwindet und stattdessen die vermeintlich üble Umwelt, vor deren Schlechtigkeit man sich schützen muss, in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt.
Beim Einsatz des Ekels zu Regulation des Selbstwertgefühls kommen drei Abwehrmechanismen zum Einsatz: Verdrängung, Projektion und Rationalisierung.
Oft ist beobachten, dass Selbstobjekte vom Ekel ausgenommen sind. So kann es sein, dass eine Kranke zwar angewidert vor jeder Türklinke steht, sie ihren Hund aber problemlos an sich drückt. Merkwürdig!
Im Begriff Empörung ist die Bewegung von unten nach oben bereits ausgesprochen. Wer sich empört, verlagert die Position, aus der heraus er mit anderen Kontakt aufnimmt nach oben. Von dort oben herab spricht er den, über den er sich empört, auf dessen missratene, verwerfliche, also minderwertige Verhaltens- oder Sichtweisen an. Er signalisiert dem Angesprochenen, dass die Bestätigung seines Wertes solange ausgesetzt ist, bis der Betreffende die Erwartungen des Empörten erfüllt. Dabei ist klar, dass sich der Empörte für moralisch überlegen hält und sich damit einen positiven Eigenwert zuschreibt. Seinem Selbstwertgefühl wird das gewiss nicht schaden.
Auf und ab
Mancher mag meinen, dass er sich nicht empört; weil er den Ausdruck nicht zur Beschreibung seiner emotionalen Zustände verwendet. Sich über etwas aufzuregen, was man in den Nachrichten hört, was irgendwer tut, meint oder gesagt hat, ist aber wohl jedem geläufig. Sich aufzuregen kann als kleine Schwester der Empörung gelten. Das Auf, mit dem das Verb anhebt, zeigt ebenso nach oben, wie das Empor. Wer sich aufregt vergrößert seine Silhouette, um den ausgemachten Gegner einzuschüchtern und sich selbst zu ermutigen. Reg' dich ab, ist das, was der Aufgeregte womöglich zu hören bekommt. Sich abzuregen heißt, auf seine normale Größe zurückzugehen.
Gehorsam kann erzwungen sein: durch eine Übermacht, die schwere Konsequenzen für den Fall androht, dass man ihn verweigert. Oft ist Gehorsam aber die vorauseilende Akzeptanz einer untergeordneten Rolle, um Konflikte zu vermeiden, in deren Verlauf eine Niederlage die eigene Unterlegenheit offenbaren könnte. Viele ziehen es vor, freiwillig zu knien, als in die Knie gezwungen zu werden. Vorauseilender Gehorsam wird oft gesellschaftlichen Gruppen gegenüber eingenommen, die man im gleichen Zuge idealisiert. Durch Gehorsam wird man zu deren Gefolge. Man sieht sich als Gefolgsmann des Idealisierten aufgewertet. Allenthalben wird Gehorsam aus Angst vor Entwertung zum Zeichen besonderen Wertes umgedeutet.
Jeder Gebrauchsgegenstand dient dazu, eine Unterlegenheit abzuwenden. Gegenstände sind Werkzeuge gegen die Übermacht der Wirklichkeit. Sie gleichen Schwächen aus. Der Sinn des Gegenstandes ist es, etwas gegen die Gefahr der Fremdbestimmung in der Hand zu haben und Selbstbestimmung abzusichern. Was für Gegenstände gilt, gilt erst recht für Geld. Besitz hilft gegen Ohnmacht und Minderwertigkeitsgefühle.
Besitz kann aber auch zum Ballast werden. Je mehr man besitzt, desto mehr wird man vom Besitz besessen. Er ruft danach, sich um ihn zu kümmern. So kann der Geizige zum Diener seiner Sachen werden und als deren Diener unter ihnen stehen.
Während der Geiz eine defensive Strategie zum Schutz gegen Unterlegenheit ist, ist Gier seine offensive Entsprechung. Der Geizige gibt nichts aus der Hand. Der Gierige will alles mit ihr greifen.
Religiöser Glaube befasst sich mit der Position des Individuums im Ganzen. Der Rang, den er im Ganzen innehat oder endgültig innehaben wird, entspricht dem Wert, der ihm von höchster Stelle zugesprochen wird. Dualistische Religionen sprechen dem Individuum keinen unbedingten Wert zu.
Das Wirkprinzip politischer Religionen beruht auf Abwertung und in Aussicht gestellter Aufwertung. Gemäß ihrer Lehre wird aller Wert durch Gefolgschaft verdient. Jedes Abweichen von der vorgegebenen Linie wird als Minderwertigkeit gedeutet. Gehorsam gilt als einzige Möglichkeit Minderwertiger, bedingten Wert zu erwerben.
Denkmodelle
Der Mensch ist minderwertig. | Der Mensch ist unterlegen. |
Die Minderwertigkeit des Menschen ist durch die Erbsünde in seinem Wesen verankert. | Der Mensch erlebt seine Unterlegenheit als Minderwertigkeitsgefühl. Beim Versuch, es zu überwinden, geht er oft in die Irre. |
Aus der Sünde kann der Mensch nur durch Gnade befreit werden; falls er sich unterwirft. | Der Mensch kann sich aus den Irrtümern befreien, die er beim Versuch begeht, Minderwertigkeitsgefühle abzustreifen. |
Die vom Glauben behauptete Minderwertigkeit des Individuums ist etwas anderes als seine faktische Unterlegenheit. Das eine ist ein vermeintliches Merkmal seines Wesens, dass andere eine Position im Universum, der er sich zu stellen hat.
Der missgünstige Mensch fühlt sich durch den Vorteil anderer entwertet. Deshalb gönnt er es anderen nicht, ihm gegenüber im Vorteil zu sein. Während der neidische Mensch Ressourcen in seinen Besitz bringen will, die er zur ausgleichenden Aufwertung seiner Person für notwendig hält, wäre der missgünstige schon zufrieden, wenn die anderen ihren Vorteil verlören.
Möglichkeiten, Unterschiede auszugleichen:
Oft gehen Neid und Missgunst ineinander über.
Scheinen andere Menschen vom Leben mehr begünstigt als man selbst, kommt leicht Neid auf. Neid zeigt an, dass man die eigenen Ressourcen geringer schätzt als die Ressourcen anderer. Der neidische Mensch will Ausgleich, weil er sich neben dem Begünstigten minderwertig vorkommt.
Warum sollte man sich über den Schaden, den ein anderer hinnehmen muss, freuen? Man selbst gewinnt dabei doch nichts hinzu. Aber man verliert etwas: Neid. Und das ist ein Gewinn, denn der Neid ist nicht nur Ausdruck eines Minderwertigkeitsgefühls, sondern auch dessen Verstärker. Neid ist ein unbehagliches Gefühl. Solange er vorherrscht, kann man nicht zufrieden in sich ruhen. Neid treibt an. Er drängt darauf, etwas zum Ausgleich zu tun. Einem Drang zu unterliegen, ist eine Variante der Unterlegenheit. Deshalb signalisiert Neid nicht nur Unterlegenheit. Er verstärkt auch das Gefühl, unterlegen zu sein.
Warum man beim Schaden anderer gegebenenfalls Freude empfindet, ist nun offensichtlich. Der Schaden anderer lässt Neid verblassen. Er macht Minderwertigkeitsgefühle unsichtbar.
Wer sich schämt, geht davon aus, mit Eigenschaften behaftet zu sein oder Dinge getan zu haben, die die Wertschätzung seiner Person durch andere gefährden. Scham ist der Impuls, solche Makel zu verstecken. Da Menschen grundsätzlich widersprüchliche Tendenzen in sich tragen, sind Schamgefühle weit verbreitet. Kaum jemand ist so selbstbewusst, dass er alle Aspekte seiner Biographie unbefangen offenlegen würde. Nur wenn der Kern des Selbstwertgefühls in einer unbedingten Bejahung verankert ist, wird man so mutig sein, in jedem Detail zu sich selbst zu stehen. Um das zu erreichen, darf man Minderwertigkeitsgefühle nicht nur übergehen oder gar verleugnen. Man muss sie in Demut ertragen.
Das Faktum, dass einige bei der Falsifikation der These, dass die ubiquitäre Implementierung exolingualer Lexeme in die interpersonelle Kommunikation appliziert werden kann, um narzisstische Defizite zu präterieren, overt defektieren, scheint sie zu verifizieren.
Seit Homo Sapiens auf die Neandertaler traf, wird der Gebrauch von Fremdwörtern auch dazu benutzt, geistige Überlegenheit zu demonstieren; upps: unter Beweis zu stellen. Wer gelehrt redet, kann damit verdecken, wie wenig er sagt.
Stolz ist mit stellen und Stelze verwandt. Stolz heißt eigentlich aufgerichtet. Der Stolze erhebt sich aus sich selbst heraus, sobald er sich Eigenschaften oder Taten zuschreibt, die als wertvoll anzuerkennen sind. Damit er als wertvoll erkannt und anerkannt werden kann, richtet er sich auf und hofft, gesehen zu werden. Übersehen zu werden, vertieft Minderwertigkeitsgefühle. Erkannt zu werden, mindert sie.
Tugend ist das stärkste Argument um zu begründen, dass ein Anspruch darauf besteht, wertgeschätzt zu werden. Wertgeschätzt zu werden, ist eines der wirksamsten Mittel, um sich selbst für wertvoll zu halten. Sich selbst für wertvoll zu halten, ist unabdingbar, um sich wohl zu fühlen. Es wäre verwunderlich, würden Menschen nicht versuchen, als tugendhaft zu gelten, um die begehrte Wertschätzung von anderen zu bekommen. Ist Tugend aber noch Tugend, wenn man sie haben will, weil man sich selbst damit besser fühlt? Darüber kann man geteilter Meinung sein. Wer sich gezielt um Tugend zum eigenen Vorteil bemüht, wird die Tugend seiner Tugend nur schwerlich bestreiten. Bigotterie ist im Lager der Tugend mehr zu Hause als anderswo.
Das Verbot drückt eine soziale Hierarchie aus. Der Überlegene verbietet dem Unterlegenen, in einer bestimmten Art zu handeln. Verbote zu überschreiten kann durch sachliche oder moralische Motive begründet sein; so zum Beispiel beim zivilen Ungehorsam. Dabei geht der Übertreter des Verbots davon aus, dass durch die Einhaltung ein Schaden für ihn oder Dritte entstehen würde, ohne dass zugleich ein Schaden anderer Art verhindert würde; oder dass der Gewinn einer Übertretung größer ist als der Schaden.
Oft werden Verbote aber nicht aus sachlicher Notwendigkeit übertreten, sondern aus psychologischen Gründen. Verboten unterworfen zu sein, kann als Demütigung oder Zuweisung einer Minderwertigkeit empfunden werden. Dem entsprechend dient die Übertretung der Regulation des Selbstwertgefühls.
Jugendliche durchleben eine Phase ihrer Entwicklung, der zu einem Wechsel ihres sozialen Rangs führt. Sie wechseln vom unterlegenen Rang eines Kindes in den ebenbürtigen eines Erwachsenen. Beim Übergang werden gehäuft Verbote aus regulativen Gründen überschritten. Der Jugendliche beansprucht Freiheiten, um sich seine Selbstbestimmtheit zu bestätigen.
Während die einen ihre Überlegenheit unter Beweis stellen, indem sie Verbote und Vorschriften überschreiten, tun andere das gleiche, indem sie sie erlassen. Wer in der Lage ist, anderen Handlungsweisen vorzuschreiben, kann davon ausgehen, dass es sich bei ihm nicht um ein schwaches Licht unter ferner liefen handelt, sondern um eine hervorgehobene Person, deren Führungsqualitäten unbedingt benötigt werden. Was bei sinnvollen Vorschriften bereits hebend wirkt, wirkt erst recht bei solchen, die entgegen jeden sachlichen Sinns aus schierer Freude am Erlass erlassen werden.
Die Funktion, die Gesslers Hut, den jeder Passant zu grüßen hatte, mit unverblümter Dreistigkeit erfüllte, erfüllen in aller Arglosigkeit 100000 Vorschriften, die das törichte Volk unter der Führung seiner Gremien auf seinem Weg durch die Wirklichkeit zu einem nützlichen Dasein in einer harmonischen Gesellschaft begleiten.
Der Mensch ist neugierig. Manche wollen einfach alles wissen. Sollte man ihnen das verübeln? Wohl nicht. Es könnte aber sinnvoll sein, Wissensdurst nicht immer als selbstloses Interesse an der Sache aufzufassen.
Wissen ist Macht. Da haben wir die Spur. Wer weiß, fühlt sich den Dingen überlegen oder zumindest eher gewachsen, als jemand, der keine Ahnung hat. Zahllose Quizformate im TV bieten den Belesenen eine Bühne, ihre Überlegenheit zur Schau zu stellen. Klar: Im stillen Kämmerlein zu wissen, dass Gambia vom Senegal umgeben ist, hebt das Selbstwertgefühl bereits um einen Mikrometer. Kann man aber anderen zeigen, dass man es weiß, werden aus dem einen Mikrometer zwei. So kann auch die Neugier, die manche Geister dazu treibt, täglich etwas Neues über die Wirklichkeit herauszufinden, eine Methode sein, Minderwertigkeitsgefühle auszugleichen. Es gibt schlimmere.
Entscheidet man sich dazu, die Regulation des Selbstwertgefühls zum vorrangigen Ansatz bei der Behebung psychischer Störungen zu machen, sind vier Punkte besonders zu beachten:
Die Erkenntnis, dass Selbstwertgefühl und Selbstwert zwei verschiedenen Kategorien angehören, ist für die Heilung von Selbstwertzweifeln von zentraler Bedeutung.
Selbstwertgefühl
Produkt des relativen SelbstSelbstwert
Vorgabe des absoluten Selbst
Das Selbstwertgefühl ist Resultat eines Urteils. Es ist Bestandteil des relativen Selbst. Jeder Mensch führt eine Einschätzung seines Wertes durch. Dabei vergleicht er sein Ich-Ideal mit dem, was er von sich wahrzunehmen glaubt. Und er vergleicht sich mit anderen. Das Urteil wird durch Erfahrungen beeinflusst:
Der Selbstwert des Individuums kann nicht anhand der genannten Bilanzen gemessen werden. Mehr noch: Er kann überhaupt nicht gemessen werden. Er ist Wesensausdruck des absolute Selbst. Während das Selbstwertgefühl Schwankungen unterworfen sein kann, ist der Selbstwert unveränderlich.
Tatsächlich ist es so, dass der Wert eines Menschen nicht gemessen, sondern nur als Vorgabe angenommen werden kann. Er kann vorausgesetzt werden.
Der Begriff angenommen kann erkenntnistheoretisch verstanden werden. Dann heißt angenommen: Wir setzen als Hypothese voraus, dass der Mensch einen Wert hat; ohne dass wir das bislang beweisen könnten. Gehen wir davon aus, dass der Beweis niemals erbracht werden kann, dann setzen wir Wert als Fiktion voraus.
Das Selbstwertgefühl wird als Resultat von Vergleichen zur Steuergröße, die wesentlich über das Verhalten des Individuums bestimmt.
Signalisiert das Selbstwertgefühl einen niedrigen Wert, ist der Betroffene verunsichert, verzagt, mutlos, zurückhaltend, bereit zur Unterordnung oder er versucht, andere dazu zu bewegen, ihm mehr Wert zuzuweisen. Bei diesem Versuch kann er entweder defensiv-werbend sein oder aggressiv-fordernd. Oft wechseln sich werbende und fordernde Muster ab oder verweben sich in ein widersprüchliches Bild; z. B. bei der emotional-instabilen Persönlichkeit.
Während das Selbstwertgefühl individuelle Funktionen erfüllt, ist der Selbstwert transpersonal. Er kommt jedem Individuum in gleicher Stärke zu. Er ist:
Eben haben wir gesehen: Der Wert des Menschen wird vorausgesetzt. Er kann weder von Menschen vergeben noch entzogen werden. Wohlgemerkt: Das ist eine bislang unbeweisbare Hypothese oder gar eine Fiktion. Man könnte sich auch zu einer gegensätzlichen Hypothese entscheiden. Man könnte sagen: Der Mensch kann sehr wohl seinen Wert steigern, und er kann ihn verscherzen.
Geht man aber von der zweiten Hypothese aus, führt das zu problematischen Konsequenzen, die das friedliche Zusammenleben gefährden.
Menschen unterschiedlichen Werts? Wozu wird das führen? Dazu, dass sich die vermeintlich Wertvollen dazu berechtigt fühlen, die angeblich Wertlosen zurückzusetzen, zu schädigen oder gar zu vernichten. Die Geschichtsbücher sind voll der Taten derer, die davon ausgingen, dass der Wert von Menschen unterschiedlich ist. Die Hypothese, die unterschiedlichen Wert postuliert und Vernichtung fordert, ist tief im Selbstverständnis der bestimmenden Religionen verankert. Auch politische Radikalismen wären kaum je so radikal, würden sie nicht dem Irrweg folgen und Menschen unterschiedlicher Herkunft unterschiedlichen Wert beimessen. Die Frage, ob man den Wert eines Individuums für absolut oder für veränderlich hält, steht am Scheideweg der Zivilisation.
Machen Sie ein Experiment! Denken Sie zuerst an Bratkartoffeln mit Spiegeleiern, dann an den Scheideweg der Zivilisation. Merken Sie es? Wenn Sie an das Schicksal der Menschheit denken, fühlen Sie sich wichtiger als beim Thema Bratkartoffeln. Mir geht es genauso. Das Selbstwertgefühl ist offensichtlich beeinflussbar. Wenn man es schafft, es nach oben zu bringen, traut man sich prompt Dinge zu, derer man sich sonst nicht wert erschien. Falls es dem Himmel gefällt, einen Videokanal zum Jenseits zu öffnen, bin ich gerne bereit, mit Platon über die ideale Gesellschaft zu sprechen. Aber das nur nebenbei.
Versuchsanordnungen
Hier werden zwei Thesen aufgestellt:
Nehmen Sie derlei Thesen nicht einfach hin! Überprüfen Sie die Behauptungen im Experiment.
Experiment 1 / Überprüfung These A
Nehmen Sie drei 10-Euro-Scheine.
Phase 1
Phase 2
Phase 3
Experiment 2 / Überprüfung These B
Nehmen Sie zwei Versuchspersonen.
Phase 1
Stellen Sie beide Versuchspersonen nebeneinander. Sagen Sie zu ihnen: Sie wurden ausgewählt, weil wir hier minderwertige Leute untersuchen wollen.
Phase 2
Reaktionsanalyse: Wenn Person A lacht und Person B zerknirscht dreinschaut, stimmt These B.
Phase 3
Fragen Sie Person B, ob sie Spaß versteht und zeigen Sie auf die versteckte Kamera, um den Irrtum ohne Schaden aufzulösen. Wenn es Gott gibt, liegt unser Wert nicht unter seinem, sondern seiner steht in uns.
Die irrige Vorstellung, dass der Wert eines Menschen veränderbar ist, spielt bei der Interpretation biographischer Erfahrungen eine große Rolle. Deshalb ist die Untersuchung des lebensgeschichtlichen Werdegangs eines seelisch Leidenden ein wichtiger Baustein zu seiner Heilung.
In der Therapie wird die biographische Anamnese erhoben. Das heißt: Man befragt den Patienten zu den wesentlichen Punkten seiner Lebensgeschichte. Dabei ist die Kindheit von besonderem Interesse, weil dort das Selbstbild entsteht und mit ihm die grundsätzlichen Verhaltensmuster, mit deren Hilfe das Individuum versucht, sein Leben zu meistern.
Während der Kindheit ist jeder Einzelne einer Vielzahl von Botschaften ausgesetzt. Diese werden entweder ausdrücklich formuliert. Dann sind sie explizit. Oder sie sind mit den Haltungen verwoben, die das Umfeld dem Kind entgegenbringt. Dann sind sie implizit (lat. in = ein und plicare = wickeln, falten; analog dazu: explizit = entfaltet).
Implizite Botschaften mit abwertendem Inhalt
Zu den impliziten Botschaften zählt alles, was den Grad der Wertschätzung des Kindes indirekt zum Ausdruck bringt: Achtsamkeit, Geduld, Berücksichtigung seiner Wünsche, Respekt vor seinem Widerstand, seinem Freiheitsdrang, seinen Meinungen und vor der Wahl eigener Wege.
Explizite Botschaften werden verbal übermittelt:
Das primäre Minderwertigkeitsgefühl, das Folgeerscheinung der ursprünglich vollständigen Unterlegenheit ist, wird durch solche Botschaften moduliert. Das liegt am Urvertrauen. Das Kind ist darauf ausgerichtet, sich am Umfeld zu orientieren. Was bleibt ihm sonst auch übrig? Erst wenn sich ein eigenständiges Ich-Bewusstsein entwickelt hat, ist das Kind überhaupt in der Lage, sich von schädlichen Botschaften zu distanzieren. Bis es soweit ist, verinnerlicht es sie. Die Botschaften werden als sogenannte Introjekte ins Selbstbild eingebaut und steuern von dort aus das Verhalten.
Bei der Erhebung der biographischen Anamnese geht es darum, implizite und explizite Botschaften erkennbar zu machen und aufzuzeigen, wie sie mit den aktuellen psychischen Störungen verbunden sind. Die Anamnese ist mehr als nur ein Mittel des Therapeuten, um sich Informationen zu beschaffen. Sie ist bereits Therapie.
Oben hieß es: Nichts stärkt das Selbstwertgefühl mehr als die Gewissheit: Ich kann etwas. Dem fügen wir hinzu: Die Erkenntnis, jetzt verstehe ich etwas, stärkt das Selbstwertgefühl ebenso, denn das Verstehen verschiebt den Standpunkt dessen, der etwas erfährt, in eine übergeordnete Position, von wo aus er einen Überblick über die Probleme bekommt, die ihn beschäftigen. Das schiere Verständnis biographischer Zusammenhänge steigert das Selbstwertgefühl. Das über im Überblick tritt im Selbstwertgefühl als gehobene Positionsbestimmung zutage.
Zur heilenden Erkenntnis innerbiographischer Dynamiken gehört mehr als die Identifikation ursprünglich kränkender Botschaften; denn der Mensch ist kein Objekt, das durch Kräfte passiv geformt wird. Er ist vielmehr Subjekt, das versucht, sich selbst zu entwerfen. Daher sind äußere Einflüsse zwar Rohmaterial, dem man sich zu stellen hat, folgenschwer sind aber auch die Reaktionen, durch die man sich Einflüssen stellt.
Ich bin Opfer, heißt: Ich bin bloß ein Gegenstand.
Ich habe viel falsch gemacht, heißt: Ich habe die Macht, zu bestimmen.
Von größtem Interesse sind dabei problematische Reaktionen. Sobald der Betroffene erkennt, dass er zwar Opfer traumatisierender Einflüsse war, dass er jetzt aber Opfer problematischer Methoden ist, die er selbst anwendet, um eine vermeintliche Minderwertigkeit abzuwehren, ist er einen großen Schritt weiter. Wo er sich bislang als tragisches Opfer unseliger Verstrickungen sah, auf die er nur mit Resignation oder Vorwurf reagieren konnte, sieht er sich nun als Täter, also als bewirkende Kraft. Sich als bewirkende Kraft und nicht nur als Opfer zu sehen, hebt das Selbstwertgefühl.
Auch problematische Methoden heben das Selbstwertgefühl. Genau deshalb werden sie eingesetzt. Das Problem ist: Sie heben es nur kurzfristig oder ambivalent. Langfristig führen sie zu einer Verschärfung des Problems, das sie beheben sollen. Im Folgenden wird versucht, zu verdeutlichen, wie die typischen Varianten des Problemverhaltens Probleme vertiefen.
Im nächsten Schritt entdeckt der später Süchtige eine Substanz, die das Minderwertigkeitsgefühl beseitigt. Es scheint so, als mache die Substanz das Leben lebenswerter. Die Wirkung kann entängstigend sein (Tranquilizer), einlullend (Opiate), stimulierend-enthemmend (Kokain, Amphetamine) oder eine Mischung mehrerer Tendenzen (Alkohol, Cannabis). Oder aber, die Substanz verschafft aufregende Erfahrungen (Halluzinogene), die das Lebensgefühl intensivieren.
Bliebe es bei der angestrebten Wirkung allein, der Entlastung vom momentanen Unbehagen, wären Suchtmittel wenig bedenklich. Es bleibt aber nicht dabei.
Die Strategie ängstlicher Menschen besteht in der Vermeidung von all dem, was zu Niederlagen führen könnte, das heißt, zur Entblößung ihres vermeintlich minderen Werts. Die Strategie verstärkt das Minderwertigkeitsproblem jedoch, weil auch sie Reifungsprozesse hemmt. Mit der Zeit hat der ängstlich-vermeidende Mensch immer mehr Grund, Angst zu haben, weil er im Schutzraum der Angst seine sozialen Kompetenzen nicht fortentwickelt. Es fehlen ihm stärkende Erfahrungen, die sein Selbstwertgefühl festigen.
Der depressiv-strukturierte Mensch versucht sein Minderwertigkeitsgefühl zu beheben, indem er sich durch vorauseilende Dienstbarkeit für anderer nützlich macht. So hofft er, Wert für geleistete Tugend zu erwerben. Die Rolle des Dienenden festigt jedoch sein Minderwertigkeitsgefühl, weil sie ihn auf einem untergeordneten sozialen Rang festhält.
Dem Paranoiden gelingt es zwar, durch die Übertragung aller Schuld auf andere, als ein Opfer dazustehen, dessen Scheitern nicht an seinem Unvermögen liegt, sondern an der Sabotage durch feindliche Kräfte. Aber auch für ihn gilt, dass die Position des Opfers der Position eines Gegenstands entspricht, der wehrlos hinzunehmen hat, was Höhergestellte mit ihm tun. Diese Position ist unten. Das Objekt steht unter dem Subjekt. Und es wird immer dort bleiben.
Maniker und Narzissten entheben sich der Konfrontation mit Selbstwertzweifeln, indem sie dank ihrer Vorstellungskraft ein überblähtes Selbstwertgefühl erzeugen, das alle Zweifel übertönt. Der Narzisst bleibt dabei im Horizont des Möglichen. Der Maniker überschreitet ihn. Die unausweichlichen Abstürze des Manikers senken in der Summe das Selbstwertgefühl mehr, als es seine Ausflüge ins Maniforme heben. Das Selbstwertgefühl des Narzissten bleibt bedingt. Er muss sich um den Applaus des Publikums bemühen. Das bleibt als geheimer Makel in seinem Selbstbild haften.
Muster und Leitideen
Muster | Werkzeuge | Leitidee |
ängstlich-vermeidend | Ausweichen | Wenn ich nichts tue, was meine Unterlegenheit offenbaren könnte, muss ich unter meinem Minderwertigkeitsgefühl nicht leiden. |
depressiv | Dienstbarkeit Unterwürfigkeit Leidensbereitschaft |
Wenn ich anderen möglichst viel Gutes tue, muss man mir den Wert zuschreiben, den ich ohne das nicht habe. |
manisch | Größenwahn | Ich bin über alles erhaben. |
narzisstisch | Hochmut | Ich bin besser als alle anderen. |
paranoid | Vorwurf Anklage Schuldzuweisung |
Wenn mir etwas nicht gelingt, sind andere daran schuld. |
schizoid | Rückzug Kontaktvermeidung |
Wenn ich alle auf Distanz halte, kann niemand mehr über mich bestimmen. | zwanghaft | Kontrolle Sicherheitsvorkehrungen |
Wenn ich alles im Griff habe, kann ich nicht mehr unterlegen sein. |
Psychotherapie zielt darauf ab, das Selbstwertgefühl des Patienten zu stärken. Stärken heißt zweierlei:
Die Schritte zu einem unbedingten Selbstwertgefühl sind zunächst Erkenntnis und Entscheidung.
Es gilt, diese problematischen Verhaltensweisen zu beenden. Dazu bedarf es vieler Entscheidungen. Immer dann, wenn der Betroffene in eine Situation gerät, in der er mit dem Abwehrmuster reagieren würde, kann er sich dazu entscheiden, stattdessen das Minderwertigkeitsgefühl, das die Abwehr aus dem Bewusstsein schaffen soll, solange anzunehmen, bis es von alleine geht. Das macht den Weg zu neuen Mustern frei.
All das ist instabil. Es ist Bedingungen ausgesetzt, die sich jederzeit ändern können. Unbedingt, also absolut, kann ein Selbstwertgefühl nur sein, wenn sich das Individuum in einem Zusammenhang sieht, der Körperlichkeit und gesellschaftliche Positionen übersteigt. Sich einem solchen Rahmen zuzuwenden, ist Thema der Spiritualität. Spiritualität als Disziplin des Selbstbewusstseins kann als zielführende Methode zur Stabilisierung des Selbstwertgefühls aufgefasst werden.
Spiritualität ist eine Erweiterung des geistigen Horizonts über das Bedingte hinaus. Jede Erweiterung des geistigen Horizonts verdeutlicht dem Individuum zugleich seine persönliche Bedeutungsarmut. Da die persönliche Bedeutungsarmut ein mächtiger Faktor ist, der Minderwertigkeitsgefühle aktivieren kann, ist der spirituelle Weg zu einem unbedingten Selbstwertgefühl kein geradliniger Aufstieg. Er ist ein Wechselspiel aus Ent- und Wiedereinbindung.
Viele erhoffen von der Spiritualität, was sie nicht leisten will: reine Entbindung. Sich der enthobenen Sphäre des Transzendenten zuzuwenden, kann als problematisches Abwehrmuster verwendet werden, um der vermeintlichen Minderwertigkeit des persönlichen Daseins zu entfliehen. Egal wie unerschütterlich das Selbstwertgefühl jedoch werden kann, es enthebt niemanden davon, der Übermacht der Wirklichkeit auch weiterhin zu unterliegen. Überlegenheit findet an dem Platz statt, von wo aus sie ihre Grenzen akzeptiert.