Das Werkzeug des Zwangs ist der Wille. Zwangskranke sind meist willensstark. Sie erleben Ohnmacht oft nur gegenüber dem Symptom, das angeblich nicht zu ihnen passt.
Das eigentliche Wesen des Zwangs kommt im Verb zwängen zum Ausdruck. Zwängen heißt zusammendrücken, einengen. Verwandt mit zwängen ist zwingen. Was zu etwas gezwungen wird, wird in eine Form gepresst, in die es ohne Zwang nicht passen würde.
Der Bedeutungsstrang des Einengens weist zugleich darauf hin, wie eng Zwang und Angst miteinander verschwistert sind. Auch Angst heißt eigentlich Beengung. Während der Ängstliche dazu neigt, Gefahren, vor denen er sich fürchtet, aus dem Weg zu gehen, versucht der Zwangskranke, möglichst alle Gefahren aus der Welt zu schaffen. Der Ängstliche zieht sich in den Teil der Welt zurück, der ihm gefahrlos erscheint. Der Zwangskranke verlangt von der Welt, gefahrlos zu werden... und er fordert von sich, die Welt gefahrlos zu machen. Angst ist defensiv. Zwang greift zur Verteidigung an. Er bewältigt Angst durch Gewalt.
Die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) unterteilt Zwangsstörungen in sieben Kategorien. Die fünf wichtigsten sind:
Zwangsstörungen gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO
Name | ICD |
Zwangsstörung (Zwangsneurose, Anankastische Neurose) | F42.- |
Vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang | F42.0 |
Vorwiegend Zwangshandlungen und Zwangsrituale | F42.1 |
Zwangshandlungen und -gedanken gemischt | F42.2 |
Zwanghafte [anankastische] Persönlichkeit | F60.5 |
Grübelzwänge sind fast jedem bekannt. Es sind die lästigen Geister, die uns ins Bett verfolgen und uns dort drangsalieren wie sirrende Moskitos...
So schnell biegt man in die falsche Richtung ab. Tatsächlich verfolgen uns die Gedanken nicht. Vielmehr hören wir nicht auf, uns mit ihren Inhalten zu befassen. Wenn man sich als Opfer der Gedanken beschreibt und nicht als Täter des Grübelns, kommt man der Lösung des Problems nicht näher.
Grübelzwänge treten auf bei typischen Gelegenheiten auf:
Dann wird alles noch einmal - und noch einmal - im Geiste durchgekaut, obwohl man lieber seine Ruhe hätte.
Henne und Ei
Nicht immer ist klar, ob das Grübeln depressiv macht oder ob die Depression zum Grübeln führt.
Vorsorgekosten
In jeder Sicherheitsstrategie liegt die Gefahr der Verschwendung; wenn sie Risiken abdeckt, die nie eintreffen.
Grübelzwänge treten häufig bei Depressionen auf. Der Kranke wälzt das Für und Wider gefürchteter Entscheidungen im Kopf umher. In der Phantasie diskutiert er endlos mit Leuten, deren Verhalten er nicht akzeptieren will. Wieder und wieder kehrt er gedanklich zu Ereignissen zurück, von denen er meint, dass sie nie hätten geschehen dürfen. Oder er malt sich in tausend Varianten Unglücke aus, die in der Zukunft auf ihn lauern. Das Wieder und Wieder des gedanklichen Kreisens ist ein Wider gegen die Wirklichkeit.
Was bleibt und was geht
Zwangskranke beunruhigt, dass alle Formen im Fluss sind. Selbst Gebirge fließen durch die Wirklichkeit. Das Einzige, was nicht fließt, ist das Jetzt, an dem das Gebirge vorbeikommt und der Beobachter, der das Gebirge fließen sieht.Ein achtsamer Leser könnte fragen, ob der Satz grammatikalisch korrekt ist. Ist es stimmig, vom Einzigen zu sprechen und dann zwei Begriffe aufzuzählen, die das Einzige bezeichnen: Jetzt und Beobachter? Es ist stimmig, wenn man die Präsenz des Beobachters als wesensgleich mit dem Präsens des Zeitpunkts auffasst.
Klassische Zwangsgedanken sind wiederkehrende Bewusstseinsinhalte, oft verwoben mit bildhaften oder akustischen Vorstellungen, die sich um peinliche und sozial unangemessene Impulse drehen; oder um solche, die der Betroffene bei sich nicht wahrhaben will, weil sie nicht in sein Selbstbild passen. Dazu gehören vor allem sexuelle und aggressive Impulse; oder die Vorstellung, dass man sich unterwerfen könnte.
Es kann sich aber auch um den Impuls handeln, alles durchzuzählen, bestimmte Gedanken wie Zaubersprüche aufzusagen oder um die Melodien eines Ohrwurmes, den man nicht mehr aus dem Kopf bekommt.
Zwangshandlungen befassen sich mit Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung. Typisch ist, dass der Kranke nicht nur einmal überprüft, was er sicherstellen will, sondern mehrfach. Im schlimmsten Fall kann er sich von dem, was er überprüft, kaum noch lösen. Gequält pendelt er zwischen Kontrolle und neuer Ungewissheit hin und her.
Auch Zwangsrituale dienen der Sicherheit. Dabei absolviert der Kranke bestimmte Handlungsabläufe, weil er ohne absolviertes Ritual Angst hat, es könnte etwas Schlimmes passieren. Rational zweifeln die Kranken meist selbst daran, dass das Ritual gegen die vermeintliche Gefahr wirksam ist. Unterlassen sie es jedoch, werden sie prompt von neuer Angst bedrängt.
Zwangsrituale sind Zwangshandlungen mit vollständig magischem Charakter. Während die Zwangshandlung auf einen logischen Zusammenhang zwischen Tat und möglichem Zugewinn an Sicherheit verweisen kann, setzt das Zwangsritual auf Zauberei.
Darüber hinaus bestehen zwischen dem Zwangsritual und dem kulturellen Tabu spiegelbildliche psychodynamische Parallelen (Freud 1913). Beim Tabu muss angeblich etwas unterlassen werden, damit kein Unglück geschieht. Beim Zwangsritual muss angeblich etwas getan werden, damit das Unglück ausbleibt.
Gemischte Zwangsstörungen sind häufig. Die Idee, dass die Tür womöglich nicht fest verschlossen ist, geht fließend in die nächste Kontrolle über. Gemischte Zwangsstörungen werden auch als Zwangsneurosen bezeichnet.
Ordnung und Zugehörigkeit
Im Einsatz des zwanghaften Menschen für Ordnung und Sauberkeit scheint sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit durch. Unordnung durchbricht die Komposition der Harmonie. Sie erinnert daran, dass man nicht dazu gehören könnte.
Verkannte Komplexität
Im Eifer, sich vor jeder Gefahr abzusichern, wünscht sich der Zwangskranke klare Strukturen. Die vernetzte Dynamik der Wirklichkeit verkürzt er auf eine einfache Formel:
Dieser Irrtum im Weltbild des Kranken führt dazu, dass er die Zügel nicht lockerlassen kann.
Je nach Lage der Dinge können Zwangssymptome bei jeder Persönlichkeitsvariante auftreten. Wer sich verunsichert fühlt, kann das unbehagliche Gefühl beseitigen, indem er kontrolliert. Angemessen eingesetzt verschafft Kontrolle Sicherheit. Im Übermaß verwendet, geht sie in Zwangssymptome über.
Die therapeutische Erfahrung zeigt, dass Zwangssymptome gehäuft mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen verbunden sind. Die sogenannte zwanghafte bzw. anankastische Persönlichkeit zeichnet sich durch betonte Ordnungsliebe und Gewissenhaftigkeit aus. Wegen ihrer großen Vorsicht kann sie sich nur schwer entscheiden. Im Kontakt wirkt sie emotional unbeweglich, halsstarrig und wenig kompromissbereit. Zu ihren Erlebnisweisen zählen Denkmuster, die sich wie isolierte Zwangshandlungen um Sicherheitsbedürfnisse drehen:
Während Zwangssymptome bei den übrigen Persönlichkeitsvarianten nur solange anhalten, bis die unmittelbare Verunsicherung in den Hintergrund tritt, ist das Bemühen um Kontrolle und Sicherheit bei der anankastischen Persönlichkeit so umfassend, dass sich Zwangssymptome verfestigen.
Zwangssymptome lassen sich als Kompromisslösungen des Psychologischen Grundkonflikts verstehen. Während bei Depression und Angst das Interesse an der Zugehörigkeit überwiegt, ist es beim Zwang anders. Hier steht der Impuls zur Selbstbestimmung im Vordergrund; ohne dass er sich endgültig durchsetzen kann. Zwangssymptome sollen verhindern, dass man durch Einmischung von außen oder gefürchtete Impulse von innen beherrscht und damit Gefahren ausgeliefert wird.
Der Gesunde sagt: Schau an, ich bin anders, als ich dachte.
Der Kranke meint, er müsse sich in die Form zwingen, die er für richtig hält.
Zwangsverhalten führt oft in einen Teufelskreis. Eigentlich versucht der Zwangskranke über sich selbst zu bestimmen. Mit jeder neuen Kontrolle spricht er der vorherigen jedoch die Wirksamkeit ab. So verneint er die Effektivität eigenen Handels und damit die eigene Autonomie. Darauf reagiert er mit verstärkten Kontrollen.
Schließlich verselbständigt sich das Zwangsritual, sodass der Kranke die Kontrolle über sein Kontrollverhalten verliert. Dann wird er vom eigenen Zwang mehr beherrscht, als er je von äußeren Faktoren oder gefürchteten Gefühlen beherrscht worden wäre.
Identifikation mit dem Ego
Zwangsgedanken entstehen durch die starre Identifikation mit dem Selbstbild und dem Kampf gegen alles, was dem Bild widerspricht. Im Selbstbild beschreibt die Person wie sie sein sollte.
Wer sich mit seinem Ego verwechselt, also dem Anwalt seiner Person, wird jede Abweichung von dem, was er für richtig hält, als Gefahr betrachten. Je gefährlicher das Ego etwas für den Bestand seines Selbstbilds einschätzt, desto heftiger wird es die Abweichung bekämpfen.
Der Mensch hat verschiedene Organe: Leber, Nieren, Milz, Lunge, Herz, Speicheldrüsen... und das Gehirn. Jedem Organ kommt im Organismus eine Aufgabe zu, die ihm die Natur in 13 Milliarden Jahren harter Arbeit zugewiesen hat.
Um dem Gehirn für seine Simulationstätigkeit möglichst viele Optionen zu öffnen, hat der Himmel ihm die Freiheit des Denkens verliehen. Im Rahmen der Freiheit durchdenkt das Hirn probeweise auch Möglichkeiten, die keineswegs in jeder Lebenslage zur Umsetzung zu empfehlen sind. Manche Möglichkeiten sind:
abwegig Wenn Maja mich nicht erhört, muss ich meine Stelle aufgeben und auswandern. ihrer Zeit voraus Jeder Prophetenglaube verirrt sich in Mythen. riskant Vielleicht wartet die Lockenmolle darauf, dass ich ihr tatsächlich an die Brüste fasse. absurd Wenn ich auf dem Bürgersteig mit dem Fuß nicht immer die Ritzen treffe, geht die Welt unter.
Nicht jede Möglichkeit, die das Gehirn uns bewusstmacht, ist dem Ego recht. Das liegt daran, dass sich das Ego sowohl mit dem Selbstbild als auch mit der Gedankenwelt identifiziert. Vom Ich denke, also bin ich, ist es nur ein Katzensprung bis zum Ich bin, was ich denke; will das aber nicht sein.
Die Gedanken sind frei... und sollten es bleiben
Das Zwangsgeschehen fängt nicht damit an, dass unpassende Gedanken auftauchen. Es beginnt, wenn das Ego die Freiheit des Denkens einzuschränken versucht und sich dazu mit dem Hirn in einen Machtkampf verwickelt.Es ist ein Vorteil des Denkens, dass man in der gedanklichen Simulation gefahrlos Verläufe durchspielen kann, die man hinterher verwirft. Der zwanghafte Mensch weist seinen Vorstellungen aber so große Bedeutung zu, dass er bereits die Simulation für gefährlich hält.
Besser als das Denken ständig zu steuern, ist es, ihm Beachtung zu entziehen.
Wenn Sie sich mit Zwangssymptomen plagen, dann richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das Gefühl, das jenseits von Tun und Denken verborgen liegt. Nehmen Sie es hin, ohne es zu bekämpfen. Es ist nur ein Gefühl. Sie selbst sind etwas Anderes.
Wenn das Ego es nicht hinnimmt, dass das Gehirn seine Freiheit nutzt und Vorstellungen entwirft, die dem Selbstbild widersprechen, neigt es dazu, unliebsame Vorstellungen zu bekämpfen. Das Ego des Zwangskranken verhält sich wie ein Diktator, der die Pressefreiheit einschränkt. Es will verhindern, dass ihm das Gehirn gefürchtete Möglichkeiten und unangenehme Wahrheiten vor Augen führt. Dazu ersetzt es unerwünschte Vorstellungen durch willkürlich gewählte (Reaktionsbildung) oder es bildet sich ein, sein Denken habe magische Macht über die Welt.
Zum Themenkreis der Zwanghaftigkeit gehört die Neigung, alles festzuhalten. Das betrifft gedankliche Inhalte und Entscheidungsprozesse ebenso wie Geld oder Gegenstände des täglichen Gebrauchs.
Der Zwangskranke misstraut dem Lauf der Welt. Wenn er nicht alles daransetzt, für jede noch so kleine Entscheidung alle Fehlerquellen auszuschließen, wird das Folgen haben, die nicht wiedergutzumachen sind. Davon ist er überzeugt. Da Entscheidungen Scheidungen sind, also ein Loslassen dessen, woran man sich bislang hielt, schiebt der zwanghafte Mensch Entscheidungen auf. Wer weiß, wohin der Strudel des Lebens seine Insassen mit sich reißt, wenn sie sich nicht mehr an die weitere Vorausschau des einzig richtigen Weges klammern? Nach zweistündigem Überlegen kann ich nicht entscheiden, ob ich in die Sauna gehen oder zuhause bleiben soll.
Da der Welt zu misstrauen ist, hat der Mensch tausend Mittel erfunden, um sich Gefahren zu entziehen. So gut wie jeder Gegenstand aus Menschenhand dient der Vermeidung zukünftigen Leids. Was Gegenstände im Besonderen sind, ist Geld als Symbol von Sicherheit, Vorsorge und Macht im Allgemeinen. Entsprechend der Vermutung, dass man alle Sicherheitsvorkehrungen treffen muss, die man treffen kann, hält der Zwangskranke materielle Güter auch dann noch zurück, wenn ihr zukünftiger Nutzwert nur noch hypothetisch ist.
Das Hemd mit dem zerrissenen Kragen könnte noch einmal nützlich sein: Wenn ein Bürgerkrieg die Sozialordnung zerrüttet und man beim besten Willen nirgendwo mehr einen geöffneten Hemdenladen findet, da der tobende Mob die letzte Textilfabrik in Brand gesteckt hat.
Geiz und Gier
Wer einseitig mit der Person oder dem Ego identifiziert ist, das auf der Bühne des Lebens seine Rollen spielt, wird immer gierig oder geizig sein; denn jede Rolle ist grundsätzlich klein und damit von einer Übermacht bedroht.
Das Kernmotiv des Egos ist das Haben und Halten; weil es nicht wirklich ist. Wirklich ist nur das absolute Selbst. Das absolute Selbst braucht nichts zu halten, weil es durch nichts, was es haben könnte, bereichert wird.
Sammeln dient der Sicherheit des Sammlers. Übertreibt er es, wird er zum Diener gesammelter Sachen.
Der zwanghafte Impuls befasst sich mit Formen. Sie müssen so und so sein und auf keinen Fall anders. Die Ursache des Eifers, bestimmte Formen zu erzwingen, ist die einseitige Identifikation des Zwanghaften mit der eigenen Person. Der Zwanghafte blickt in sein Ego und zur Form, die es haben sollte. Er blickt nicht zu sich selbst, sondern zur Rolle, die er im Leben spielt.
Naturgesetz
Die Welt der Formen unterliegt dem Gesetz der Entropie. Alles Geformte geht von Ordnung in Unordnung über und damit im Formlosen unter. Der Kampf um Form und Ordnung, die der Zwanghafte führt, ist grundsätzlich ein Kampf gegen den Tod. Der Tod ist aber längst besiegt, weil das Selbst keiner Form unterliegt.
Das Selbst ist formlos. Das weckt beim Zwanghaften Angst; und nicht nur bei ihm... Er glaubt: Was keine Form hat...
Wehrlos ausgeliefert sein möchte der Zwanghafte auf keinen Fall. Also macht er sich daran, seine Form so gründlich festzulegen, wie ein Burgherr, der mit aller Macht auf seine Selbstbestimmung pocht. Beim unermüdlichen Bau der bestmöglichen Burg wird der Herr zum Diener seines unverstandenen Freiheitsdrangs.
Anankasmus
Die zwanghafte Persönlichkeit wird auch anankastisch genannt. Der Begriff geht auf Griechisch ananke bzw. anagke (αναγκη) = Zwang zurück. Ananke wiederum scheint ein Lehnwort aus semitisch chanak = Joch zu sein.
Die anankastische Persönlichkeit unterliegt dem Joch, das Joch jeder Fremdbestimmung zu brechen. Wenn sie sagt: Es ist, wie es ist und es kommt, wie es kommt, macht sie sich auf den Weg in die Freiheit.
In den Augen des Zwanghaften besteht zwischen Sicherheit und Freiheit ein grundsätzlicher Konflikt. Freiheit deutet er stets als Gefahr. Tatsächlich sind beide aber zwiespältig ineinander verzahnt. Sicherheit ist Freiheit von Fremdbestimmung. Der Freie ist vor Fremdbestimmung sicher. Freiheit ermöglicht es, Gefahr erfolgreich zu begegnen. Unfreiheit gibt Sicherheit, macht das Leben aber zeitgleich riskant. Absolute Freiheit ist die höchste Sicherheit.
Das Streben nach Sicherheit ist die wesentliche Triebfeder zwanghaften Denkens und Handelns. Um verschiedene Erscheinungsformen des Zwangs besser zu verstehen, lohnt es jedoch, die enge Verwandtschaft zwischen Zwang und Magie zu betonen. Erkennt man, dass ein gemeinsamer Nenner von Zwangsgedanken, Zwangsritualen sowie Grübelzwängen magische Vorstellungen über die Macht des Denkens sind, versteht man mehr von der Erkrankung und mehr vom fundamentalen Irrtum des egozentrischen Bewusstseins überhaupt.
Am einfachsten ist die Parallele am Zwangsritual zu erkennen. Das Zwangsritual, das zur Abwehr gefürchteter Gefahren vollzogen wird, deckt sich weltanschaulich mit jenen Riten, die von Schamanen und Priestern im Rahmen ihrer jeweiligen Liturgien praktiziert werden. Wie der Schamane, so glaubt auch der Zwangskranke an die magische Wirkung von Symbolhandlung und Zauberspruch. Er glaubt, in die Wirklichkeit einzuwirken, indem er sich die Einwirkung ausdenkt.
Was wäre so schlimm, etwas Verpöntes zu denken, wäre da nicht die Furcht, der Gedanke an das Verpönte habe die fatale Macht, sich wie der Fluch eines bösen Geistes des Denkers zu bemächtigen und somit magisch dessen Handeln zu bestimmen?
Der Zwangsgedanke, der immer wieder auftaucht, obwohl er vordergründig als sinnlos empfunden wird, kann als Gegenzauber gegen Gefürchtetes gedeutet werden. Ständiges Zählen oder die endlose Wiederholung des immer gleichen Ohrwurms füllt das Bewusstsein aus, sodass gefürchtete Inhalte daraus verbannt bleiben.
Auch dem Zwangsgrübeln liegt ein unbewusster Glaube an die Macht des Denkens über die Wirklichkeit zugrunde. Auf der bewussten Ebene weiß der Grübler, dass weiteres Grübeln keine pragmatisch umsetzbaren Ergebnisse erbringen wird. Trotzdem kann er das Denken nicht stoppen. Warum? Weil er nicht wirklich an seine Nutzlosigkeit glaubt. Unbewusst glaubt er, sein Denken habe Macht über die Wirklichkeit und könne Gefahren bannen. Solange er denkt und an die Macht des Denkens glaubt, bleibt ihm die Erkenntnis erspart, dass er dem Leben und seinen Gefahren machtloser ausgesetzt ist, als er es wahrhaben will.
Fundamentaler Irrtum
Das egozentrische Ich hält sich für gedankliche Präsenz. Da sein Selbst wirklich ist, glaubt es, Gedanken seien das in gleicher Weise. Es weist Gedanken mehr Wirklichkeit zu, als ihnen zukommt, weil es das absolute Selbst mit dem relativen verwechselt. Tatsächlich sind Gedanken an sich wirkungslos. Sie wirken nur soweit sie vom Ich anerkannt und umgesetzt werden.
Je weniger das Ich erkennt, dass es selbst nicht aus Gedanken besteht, desto weniger trennt es Vorstellung und Wirklichkeit. Je mehr es Vorstellung für Wirklichkeit hält, desto mehr glaubt es an die magische Macht der Gedanken. Es glaubt, dass Gedanken unmittelbar in die Wirklichkeit eingreifen; sie also gefährlich oder mächtig sind. Da wir in einem rational dominierten Zeitalter leben, ist der archaische Glaube an die magische Macht des Denkens in der Regel nicht bewusst.
Bei der Behandlung von Zwangsstörungen kommen sowohl Medikamente als auch psychotherapeutische Methoden zum Einsatz. Schwere Zwangsstörungen sind ausgesprochen quälend, sodass wegen des hohen Leidensdrucks an eine Kombination beider Ansätze gedacht werden kann.
Medikamentös werden in der Regel Antidepressiva eingesetzt. Oft sind hohe Dosen notwendig. Da sich die Wirkung der Medikamente meist erst verzögert einstellt (nach vielen Wochen), ist gerade bei Zwangsstörungen darauf zu achten, dass man den Behandlungsversuch nicht zu früh abbricht.
Pharmakotherapie der Zwangsstörungen (⇗Quelle 2017)
Substanz | Dosis (mg) | Empfehlung | Bemerkung |
SSRI | |||
Citalopram | 20-40 | A | Vorsicht bei QTc-Verlängerung Halbe Maximaldosis bei älteren Patienten |
Escitalopram | 10-20 | A | |
Fluoxetin | 20-60 | A | Sehr lange Halbwertzeit |
Fluvoxamin | 50-300 | A | Viele Wechselwirkungen |
Paroxetin | 20-50 | A | |
Sertralin | 50-150 | A | |
SSNRI | |||
Venlafaxin | 75-225 | B | |
TZA | |||
Clomipramin | 75-250 | B | Hohe Toxizität bei Überdosierung |
Empfehlungsstufen:
Als Medikamente der dritten Wahl kommen in besonderen Fällen auch andere Psychopharmaka in Betracht: Neuroleptika (bei Psychosekranken und beim Versagen anderer therapeutischer Mittel) oder Benzodiazepine bei akuter Selbstmordgefahr. Die Zwangssymptomatik selbst wird durch Medikamente der dritten Wahl kaum je beeinflusst. Sie können jedoch Begleitsymptome der Zwangsstörung mildern.
Zur Psychotherapie der Zwangsstörungen stehen verschiedene Methoden zur Verfügung. Bei isolierten Zwangshandlungen liegt ein verhaltenstherapeutischer Ansatz nahe. Dabei wird das ineffektive Zwangsverhalten gezielt umtrainiert.
Je komplexer die Zwangsstörung ist, desto wichtiger wird die kognitive, tiefenpsychologische Komponente des therapeutischen Vorgehens. Das gilt besonders für Patienten mit zwanghaften oder depressiven Persönlichkeitsmerkmalen.
Zwangssymptome dienen der Verdrängung gefürchteter Gefühle oder verleugneter Tatsachen. Dazu zählen Angst, Lust und sexuelle Begierden ebenso wie Wut und Ohnmacht. Wenn das Verhaltenstraining allein nicht reicht, um die Symptomatik aufzulösen, gilt es, die verdrängten Gefühle aufzudecken, die hinter dem Zwang und der Angst verborgen sind, die beim Unterlassen der Zwangssymptomatik aufkommt.
Parallel zur Aufdeckung der Gefühle werden die irreführenden Vorstellungen (= dysfunktionale Kognitionen) untersucht, aus denen das pathologische Fühlen erwächst. Akzeptiert der Kranke die Tatsachen, die er aus der Welt zwingen will, dass nämlich Wut oder Hass, Ohnmacht, Wollust oder Impulse zu verpönter Normabweichung in den Erfahrungshorizont seiner Persönlichkeit gehören, werden die Symptome überflüssig.