Trauma


  1. Begriffsbestimmung
  2. Entstehung
  3. Posttraumatische Störungen
  4. Heilungen

Bei der Traumatisierung werden Strukturen infrage gestellt. Bei der Heilung werden neue entworfen.

Auf der Ebene des Egos ist man verletzbar. Auf der Ebene des Selbst ist man es nicht.

1. Begriffsbestimmung

Der medizinische Fachbegriff Trauma entstammt dem griechischen trauma (τραυμα) = Wunde. Er wird zunächst zur Benennung struktu­reller Schäden körperlicher Organe durch äußere Einwirkungen verwendet. Man sagt: Der Fahrer zog sich beim Unfall ein Schädel-Hirn-Trauma zu.

Analog dazu wird auch von seelischen Traumata gesprochen. Man sagt: Das Kind wurde durch Misshandlungen im Elternhaus traumatisiert.

Damit meint man keine Körperschäden, die durch etwaige Gewalt­anwendungen entstanden sind, sondern Störungen psychischer Funktionen, die auf die seelische Komponente der traumatisierenden Erlebnisse zurückzuführen sind.

2. Entstehung

Körperliche Traumata entstehen durch äußere Wirkkräfte, die stark genug sind, den biologischen Zusammenhang davon getroffener Strukturen nicht nur aus der Bahn zu lenken, sondern zu zerstören. Wird man beim Tennis vom Ball getroffen, wird man den Aufprall spüren, aber erst ab einer gewissen Wucht werden die Blutgefäße am Ort des Aufpralls platzen. Dann entsteht ein körperliches Trauma.

Erfahrungen, Konzepte und Vermutungen
Der Körper ist ein biologisches Konzept (abgeleitet von lateinisch con-cipere = zusammenfassen). Zur Erstellung des Körpers fasst das Leben Vermutungen zusammen, deren Berechtigung es in Jahrmillionen durch Erfahrung ausgetestet hat. Daher geht das Leben davon aus...

Con-cipere heißt zusammenfassen. Manche Vermutungen fasst das Leben zum Konzept menschlicher Körper zusam­men, andere zum Konzept der iberischen Nacktschnecke. Solange sich die Nacktschnecke ungebremst über den Planeten ausbreitet, sagt das Leben: Das Konzept ist gut.

Alternative Zoologie :)

Wussten Sie, dass die Nacktschnecke, nachdem sie die mitteleuropäischen Gemüsegärten und Erdbeerbeete leergefressen hat, nun in die Arktis vordringt, dort das Gletschereis vertilgt und damit die Klimakatastrophe auslöst? Das einzige, was man diesen Bestien zugutehalten kann ist, dass sie den Menschen vom Vorwurf entlasten, schuld am Klimawandel zu sein. Man könnte ihm höchstens vorwerfen, dass er der iberischen Nacktschnecke auf ihrer Wander­route von Cordoba nach Hammerfest nicht Einhalt gebot. Das ist aber kein Zeichen einer strafbaren Verwerflichkeit, sondern eines der vielen Zeichen seiner Herzensgüte.
2.1. Trauma, Selbst- und Weltbild

In Anlehnung an das Konzept des körperlichen Traumas ist das seelische zu verstehen. Auch beim seelischen Trauma geht der Zusammenhang von Zusammengefasstem verloren. Dabei handelt es sich aber nicht um Wahrheitsvermutungen, die das Leben zu biologischen Strukturen vereint, sondern um mentale Konzepte und Vermutungen über die Wirklichkeit, die das Selbstverständnis des Individuums betreffen.

Gestaltprinzipien
Die Welt ist kein Schüttelhaufen. Sie ist ein Gefü­ge funktionaler Formen, deren innere Strukturen folgerichtig aufeinander abgestimmt sind. Deshalb gibt es einen fließenden Übergang zwischen einer Tastatur und einem Vanillepudding bestenfalls als surreale Phantasie. Um sich zu orientieren, versucht die Psyche, die Struktur der Wirklichkeit zu erkennen. Dabei fahndet sie nach logisch zu­sammenhängenden Gestalten, die sie entdecken, verstehen und in eine übergeordnete Gesamt­gestalt einordnen kann. Diese übergeordnete Gesamtgestalt ist das Weltbild; zu dem das Selbstbild gehört, das seinerseits nicht nur als untergeordnetes Modul des Weltbilds vorliegt, sondern mit ihm verzahnt ist. Die Psyche geht davon aus, dass das Bild, das sie von der Welt und sich selbst hat, einen sinnvollen Zusammen­hang repräsentiert.

Die Struktur, die ein seelisches Trauma trifft, ist das Selbst- und Weltbild des Traumatisierten.

Als Beata auf die Welt kam, hatte das Leben sie mit einer Vermutung ausgestattet: Den ersten Menschen, denen ich begegne, kann ich mich anvertrauen. Sie werden mich gegen Gefahren abschirmen und dafür sorgen, dass ich mich auch jenseits des Mutterleibs optimal weiterentwickeln kann.

Solange Beatas Erwartung erfüllt wird, steht die Wirklichkeit in keinem Widerspruch zu ihrem Weltbild. Sie wird kein Trauma erleben.

2.2. Widersprüche und kleine Traumata

Im günstigsten Fall geht die ursprüngliche Vermutung eines Neugeborenen ohne Abstriche in Erfüllung: wenn es auf ausgereifte Elternpersönlichkeiten trifft, deren eigene Lebensbedingungen es ihnen erlauben, sich in selbstloser Liebe den Bedürfnissen des Kindes zuzuwenden. Das Kind wächst heran. Sein Weltbild erweitert sich zu einer zunehmend komplexeren Gestalt, deren Bestandteile sich wechselseitig sinnbestätigend ergänzen.

Selbst im günstigsten Fall werden aber Widersprüche auftauchen. Irgendwann macht die Begeisterung der glücklichen Eltern alltäglicher Routine Platz. Irgendwann kommt der Vater genervt von der Arbeit nach Hause. Irgendwann reagiert die Mutter auf die Ansprüche des Kindes ermüdet. Dann droht ein kleines Trauma.

Kleine Traumata stimulieren Selbstheilungskräfte. Sie stiften die Person dazu an, über sich selbst zu bestimmen.

Das Weltbild des Kindes, in dem es bislang sorglos ruhte, wird durch Widersprüche infrage gestellt. Kann man doch nicht ganz darauf vertrauen, dass die Eltern für einen sorgen werden? Auf das Erlebnis des Widerspruches reagiert das Kind emotional. Es empfindet Angst, Wut oder sonst ein Unbehagen. Jedenfalls erlebt es etwas Unangenehmes, das erst beigelegt sein wird, wenn sein bisheriges Weltbild durch ein neues ersetzt ist.

Da schau her: Eltern ist also nicht vollständig zu vertrauen. Es kann vorkommen, dass sie meine Wünsche übersehen. Dann bin ich vorübergehend auf mich allein gestellt. Aber das ist sogar in Ordnung. Denn erstens wenden sich meine Eltern mir nach solchen Ereignissen bald wieder zu und zweitens kann ich dadurch lernen, selbständig zu sein. Nur wer nicht ständig gesehen wird, ist tatsächlich frei. So wächst mir das Recht zu, Geheimnisse zu haben; und zu machen, was ich will.

Große Traumata können schier unüberwindliche Gefühle erzeugen, sodass vom Wunsch nach Selbstbestimmung nur Misstrauen übrigbleibt.
2.3. Große Traumata

Kleine Traumatisierungen des Weltbilds sind leicht zu heilen. Der entstandene Widerspruch, der das heimatliche Weltbild befremdlich werden ließ und somit Angst erzeugte, wird in eine höhere Harmonie eingefasst, die Widersprüche als sich einander ergänzende Pole erkennbar macht. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, sind unangenehme Gefühle der Angst und der Ungewissheit, die man durchleben muss. Durchlebt man sie bis zu ihrem Ende, wird ein höherer Grad an Freiheit erreicht, die durch neue Gewissheit abgesichert ist.

Kann ein Welt- und Selbstbild, das durch die Widersprüche des Erlebten überholt ist, nicht zu einem reiferen Weltbild weiterentwickelt werden, verwendet die Psyche Abwehrmuster, um am alten festzuhalten. Die Anwen­dung der Abwehrmuster absorbiert viel Energie. Das führt zu psychischen Erkrankungen.

Was am meisten zu traumatisieren droht: Erfahrungen, die das Selbstwertgefühl so sehr in Frage stellen, dass der Betroffene sich gegen die abwertende Botschaft des Ereignisses nicht abgrenzen kann.

Traumata können aber auch groß sein, so groß, dass der Traumatisierte vor dem heilsamen Durchleben quälender Gefühle zurückschreckt, oder zu einer Integration der Widersprüche vor dem Hintergrund seines psychischen Reifegrades gar nicht fähig ist. Statt die Erschütterung zu durchleben und jenseits davon ein Weltbild zu erreichen, das in sich wieder stimmig ist, wird das Erleben abgewehrt, um an der toten Heimat des überholten Wirklich­keitskonzeptes festzuhalten.

Als Beata acht Jahre alt war, war die Ehe der Eltern zerrüttet. Ihre Mutter war vom Leben enttäuscht und froh, wenn Beata sie in Ruhe ließ. Der Vater trank und eines Tages machte er mit Beata Sachen, die mit der beruhigenden Vorstellung, dass wenigstens er sie noch liebte, unvereinbar waren. Beata spaltete das Unverein­bare aus ihrem Weltbild ab. Sie versuchte sich zum Preis kost­spieliger Verleugnungen abseits der Wirklichkeit durchzuschlagen.

Ereignen sich Traumata, deren Widersprüche nicht in ein neues Sinngefüge überführt werden, kommt es zu Verwerfungen oder Stillstand der psychischen Entwicklung.

Integration und Widerstand

Kleine Traumata... Große Traumata...
führen zu vorübergehenden Infragestellungen des Weltbilds. können zu nachhaltigen Zerrüttungen des Weltbilds führen.
rufen unangenehme Gefühle hervor, die im Schutze des vorhandenen Selbstvertrauens zu bewältigen sind. rufen quälende Gefühle hervor, die das vorhandene Selbstvertrauen überfordern und deren Durchleben deshalb abgewehrt wird.
führen zu wachsender Differenzierung von Weltbild und Persönlichkeit, oder ihre Folgen summieren sich auf; wenn der Betroffene selbst kleinere Infragestellungen zu ignorieren versucht. können durch ausgeprägten Gebrauch archaischer Abwehrmechanismen zu schweren Neurosen und Persönlichkeits­störungen führen.

Eigentlich sind alle neurotischen Störungen posttraumatisch. Sie beruhen darauf, dass die betroffene Person zu wenig Wert darauf legt, erfahrenes Leid als Ansporn zur Selbständigkeit zu verwenden. Stattdessen behält sie abhängige Muster bei und glaubt, ihr Wohl hänge vollständig oder überwiegend vom Umfeld ab. In der Folge setzt sie ihre Kraft einseitig dazu ein, das Umfeld in ihrem Sinne zu beeinflussen. Da ihre Aufmerksamkeit auf das Umfeld und dessen Reaktionen gerichtet ist, bleibt das Bewusstsein ihrer selbst, und damit ihr Selbstbewusstsein, in der Entwicklung zurück.

Dialog mit der Welt

Neurotisch

Du sollst so sein, wie ich dich brauche.

Gesund

Ich will so sein, dass ich dich nicht mehr brauche.

2.4. Sinn und Sicherheit

Zwei Gründe sind dafür zu nennen, warum die Psyche auf ein abgestimmtes Weltbild ohne nennenswerte Widersprüche Wert legt.

Beide Motive führen dazu, dass die Psyche ein Weltbild bevorzugt, das in sich logisch geschlossen wirkt.

2.5. Täter und Opfer

Seelische Traumata können durch Naturkräfte verursacht werden. Die erlebte Bedroh­ung von Leib und Leben durch schwere Krankheit, Unfälle oder Naturkatastrophen kann den Glauben des Betroffenen an die grundsätzliche Stabilität seiner Existenz so schwer erschüttern, dass er mit dem Faktum der grundsätzlichen Unsicherheit aller Existenz keinen Frieden mehr schließen kann.

Eine besondere Bedeutung kommt aber seelischen Traumata zu, die durch menschliche Täter verursacht werden. Mitmenschen als absolut gleichgültig der gar grausam zu erfahren, kann den Weg zu einem Selbstbild versperren, das dem absoluten Selbst gerecht wird. Wie sollte jemand, der exemplarische Bosheit erlebt hat, zum Beispiel als Überlebender eines Konzentrationslagers, ein Weltbild entwickeln, das Gut und Böse nicht in kategorisch getrennte Konzepte spaltet, sondern auf die Integrations­fähigkeit alle Elemente der Wirklichkeit vertraut?

Wahrscheinlich kann das nur gelingen, wenn man die Täter der Bosheit als psychisch krank erkennt, als Personen, deren innerseelischer Zusammenhang desintegriert ist.

Integrität

Der Begriff Integrität geht auf lateinisch tangere = berühren zurück. Integer heißt unberührt. Beim integren Menschen ist die Übereinstimmung von Selbstbild, Weltbild und Wahrheit unberührt. Da der integre Mensch die Verbindung zwischen sich selbst und jedem anderen erkennt, fehlt ihm der Impuls, anderen absichtlich zu schaden.

3. Posttraumatische Störungen

Dass Infragestellungen des Weltbilds widerstandslos korrigiert werden, ist keinesfalls die Regel. Jede Infragestellung ist unbehaglich. Da Unbehagen unangenehm ist, neigt der Mensch dazu, Infragestellungen seines Weltbilds abzuwehren. Fast jeder versucht, ein vollständiges Durchleben schmerzlicher Erfahrungen zu umgehen oder abzuschwächen.

Unterschiede

Von den posttraumatischen Störungen im Allgemeinen ist die Posttraumatische Belastungsstörung im Besonderen zu unterscheiden. Der Begriff Posttraumatische Belastungsstörung ist für spezielle Folgen massiver Traumata reserviert, bei denen es definitionsgemäß zu einer Gefährdung von Leib und Leben gekommen ist. Deren Kernsymptom ist die intrusive (lateinisch trudere = stoßen, drängen) Erinnerung. Dabei drängen die Bilder des erlebten Traumas ins Bewusstsein, ohne dass der Kranke sich dagegen wehren kann; und ohne dass er die Gelassenheit findet, sie ohne Abwehr zu betrachten.

Nur Menschen, die sich der grundsätzlichen Probleme bewusst sind, die der Abwehr unangenehmer Erfahrungen entspringen, lassen sie ohne den ständigen Versuch, Rosinen zu picken, ungeschmälert zu. Bei den Übrigen ergibt sich im Laufe der Zeit ein Renovierungsstau, der das seelische Befinden empfindlich stören kann.

Während schon der normale Realitätsbezug durch undurchlebte Erfahrungen belastet ist, führen nicht zu Ende erlebte Erfah­rungen bei den Erkrankungen des neurotischen Spektrums zu problematischen Zuspitzungen. Das gilt sowohl für solche Erfahrungen, die grundsätzlich vermieden werden, als auch für solche, deren Durchleben noch nicht abgeschlossen ist.

Erkrankungen durch unabgeschlossene und abgelehnte Erfahrungen

Erfahrung
nicht abgeschlossen vermieden
Akute Belastungs­reaktion +++
Anpassungs­störung ++ +
Post­traumatische Belastungs­störung ++ ++
Persönlich­keitsstörung +++
Sucht­erkrankung +++

Alte und neue Weltbilder

Alt
Es sollte anders sein.
Es darf nicht sein.
Es hätte nie geschehen dürfen.

Neu
Es ist.


Wer schmerzliche Erfahrung als bloße Störfälle betrachtet, und nicht als bittere Medizin, hat nur wenig Chancen, gesund zu werden.

Zur Heilung traumatischer Störungen gehört, der Wirklichkeit nicht mehr vorzuwerfen, dass sie das Trauma geschehen ließ.

Die Tabelle zeigt, dass sich beide Ursachen posttraumatischer Störungen je nach Krankheitsbild mehr oder weniger überlagern können.

4. Heilungen

Das Grundprinzip posttraumatischer Störungen liegt im Erfahrungs­stau. Schmerzliche Erfahrungen werden abgewehrt. Dazu ist ein Aufwand nötig, der die spontane Heilung behindert.

So einfach wie das Grundprinzip ihrer Entstehung, ist theoretisch auch das ihrer Heilung. Es gilt, Erfahrungen zu Ende zu bringen. Es gilt, die schmerzlichen Gefühle bewusst zu durchleben und sich der Wahrheit zu stellen, so wie sie ist. Indem man die Folgen traumatisierender Erlebnisse annimmt, wird das Weltbild durch jene Aspekte ergänzt, die zu einer neuen Übereinstimmung von Weltbild und erlebter Wirklichkeit kommt.

In der Praxis ist Heilung oft schwer; denn die abgewehrten Erfahrungen erscheinen dem Kranken als so unannehmbar, dass er lieber leidend am alten Weltbild festhält, als sich einem neuen anzuvertrauen.

Dabei spielt das Bedürfnis nach Selbstbestimmung eine große Rolle. Das Trauma wird als Einfluss von außen erlebt. Lässt man die Wirkung des Traumas zu, wird man quasi fremdbestimmt. Diese Befürchtung ist umso stärker, je mehr man die eigene Identität im bislang bestehenden Selbstbild verankert sieht. Wem es gelingt, sich von der Vorstellung zu lösen, seine Identität liege in diesem oder jenem besonderen Sosein, kann Bilder aufgeben, um jenseits davon tatsächlich er selbst zu sein. Selbstbestimmt ist, wer sich auch in dem erkennt, was seine Person infrage stellt.