Sobald ich nicht mehr glaube, etwas begrenze mich, gehöre ich für immer dazu. Sobald ich erkenne, dass ich wirklich bin, ist alles an mir selbstbestimmt.

Über sich selbst bestimmt, wer Prägungen hinter sich lässt und die Identifikation mit Äußerlichem aufgibt. Sich gleich­zusetzen, heißt nicht man selbst zu sein.

Be-wässerung ist die Vergabe von Wasser an das bewässerte Land. Analog dazu ist Selbst-be-stimmung die Vergabe der Stimme an das Selbst. Durch Selbst­bestimmung macht das Ich die Person zur Stimme ihrer selbst. Selbstbestimmung wird gewagt. Man bekommt sie nicht geschenkt.

Das Leben ermöglicht nicht nur, zugleich zugehörig und selbstbestimmt zu sein, es belohnt auch den, der den Mut zu beidem hat.

Das Ich ist Vereinigung von Gegensätzen. Mehr als entweder-oder ist es sowohl-als-auch.

Psychologischer Grundkonflikt


  1. Definition
  2. Begriffe
    1. 2.1. Zugehörigkeit
    2. 2.2. Selbstbestimmung
      1. 2.2.1. Wahrnehmung
      2. 2.2.2. Entscheidung
  3. Individualpsychologische Entwicklungen
    1. 3.1. Störungen
      1. 3.1.1. Biographische Belastungen
      2. 3.1.2. Soziale Umstände
      3. 3.1.3. Kulturelles Umfeld
      4. 3.1.4. Zögerlichkeit
  4. Psychosoziale Dynamik
    1. 4.1. Zur Psychologie des Gutmenschen
    2. 4.2. Zur Psychologie des Wutmenschen
    3. 4.3. Integration und Desintegration
    4. 4.4. Vom Wutmenschen zum Bösmenschen
    5. 4.5. Vom Konflikt zur Vernunft
  5. Zusammenhang und Kehrseite
    1. 5.1. Erfüllung und Verweigerung
  6. Lösungen
    1. 6.1. Egozentrisches Selbstbild
    2. 6.2. Existenzielles Selbstbild
  7. Ergänzungen

1. Definition

Die meisten psychiatrischen Erkrankungen hängen mit dem psychologischen Grund­konflikt zusammen. Er verursacht sie oder gestaltet sie aus. Dieser Konflikt heißt Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt oder besser Zugehörig­keits-Selbstbestimmungs-Konflikt.

Das Erbe der Steinzeit
Wichtige Strukturen der menschlichen Psyche wurden von 100000 Generationen erprobt, deren Leben in der Steinzeit verlief. Die Mehr­zahl unserer Vorfahren schlug sich in kleinen Gruppen durch die Wildnis. Da es dort von Hyänen, Löwen, Bären und Säbel­zahntigern nur so wimmelte, hatte jeder ein vorrangiges Interesse daran, im Schoß der Gemeinschaft zu bleiben. Jenseits davon lauerte der Tod. Diese Erbschaft sitzt uns in der Seele. Oft sind wir bereit, unsere Selbstbestimmung einer Zugehörigkeit zu opfern, die unser Potenzial beschränkt. Wir gehen auf Nummer sicher; und vergessen, dass Sicherheit allein das Leben nicht enthalten kann.

Das Zugehörigkeits­bedürfnis wirkt sich auch auf Textilgeschäfte aus. In deren Schaufenstern wird Mode präsentiert. Mode geht sprachge­schichtlich auf lateinisch modus = Regel, Art und Weise zurück. Moden definieren Muster, die zu übernehmen sind, um Zugehörig­keiten anzuzeigen. Wer der Mode nicht folgt, ist out; also außen vor. Um nicht out zu sein, ist sich der modebewusste Mensch seiner äußeren Erscheinung bewusst, aber nur selten seines inneren Motivs.

Der Grundkonflikt besteht zwischen zwei Bedürfnissen. Es gibt aber kein Bedürfnis nach Abhängigkeit, sondern eines nach Zugehörigkeit. Abhängigkeit ist eine einschränkende Folge fehlender Autonomie. Deshalb ist der im psychologischen Sprachgebrauch eingebürgerte Gegensatz von Abhängigkeit und Autonomie unglücklich gewählt.

Die Ursache des Konflikts liegt in den Existenzbedingungen des Lebens selbst. Er ist unvermeidbar. Leben ist wachsende Selbständigkeit verbündeter Strukturen gegenüber dem Umfeld, in das sie eingebettet sind. Das Ziel des Lebens ist Selbstbestimmung, seine innere Struktur Zugehörigkeit. Leben setzt einfache Elemente gemäß passender Zugehörigkeit zu Strukturen entbundener Selbständigkeit zusammen.

Eine Struktur entbundener Selbständigkeit ist der Frosch. Die Zugehörigkeit seiner inneren Organe sorgt dafür, dass er sich vor dem Storch durch einen selbstbestimmten Sprung ins Wasser retten kann.

Gleichzeitig versucht Lebendiges, den Kontakt zum Umfeld, aus dem heraus es entsteht, zu erhalten; denn das Leben ist auf Zugehörigkeiten angewiesen. Oft widersprechen sich beide Impulse.

Im Alltag zeigt sich der Konflikt, wenn man etwas will, was den Erwartungen anderer widerspricht. Dann muss man entschei­den: Bleibe ich selbstbestimmt oder passe ich mich an, um dazuzugehören? Was ist mir wichtiger?

Je mehr man glaubt, auf die Zustimmung des Umfelds angewie­sen zu sein, obwohl man eigene Wege gehen könnte, desto öfter wird man auf Selbstbestimmung verzichten. Man fügt sich ein und bremst sich dadurch aus. Man widerspricht dem Leben in sich selbst. Resultat sind seelische Spannungen, die sich in zahlreichen Symptomen bemerkbar machen:

Die genannten Symptome und Erkrankungen sind aber nicht nur Folge fehlender Selbstbestimmung, sondern auch mangelnder Zugehörigkeit. Auch Zugehörigkeit kann gewagt oder vermieden werden. Oft wird sie vermieden, wenn der Betreffende nicht darauf vertraut, dass er auch über sich selbst bestimmen kann, wenn er sich bindet.

2. Begriffe

Der Konflikt (lateinisch: confligere = zusammenprallen) zwischen den beiden Grund­bedürfnissen, dem nach Zugehörigkeit und dem nach Selbstbestimmung, durchsetzt das gesamte psychosoziale Verhalten. Wer die Verästelungen des Konflikts aufmerksam beobachtet, kann eine Menge typischer Probleme und Muster im Welt- und Selbstbezug des Menschen verstehen. Dadurch wird sowohl die Selbstfindung als auch die Kommunikationsfähigkeit verbessert.

Oknophil oder philobatisch

Die Fachbegriffe Oknophilie (griechisch okneo (οκνεω) = sich anklammern, zurückscheuen, zögern) und Philobatismus benennen weitere Aspekte des Zugehörigkeits-Selbstbestimmungs-Konflikts. Der Begriff Philobat ist in Analogie zum Begriff Akrobat gebildet. Wer sich vorsichtig anklammert, verhält sich oknophil. Wer es im Gegensatz dazu riskant liebt, sucht das Wagnis, fernab schützender Strukturen in freier Selbstbestimmung die eigenen Möglichkeiten auszutesten. Der oknophile Mensch sucht Bindung, der Philobat scheut im Interesse der Freiheit davor zurück.

Wichtige Aspekte werden bei genauerer Betrachtung der Begriffe deutlich.

2.1. Zugehörigkeit

Zugehörigkeit ist eine Ableitung des Verbs hören. Hören wiederum geht auf die indoeuropäische Wurzel keu[s]- = beachten, bemerken zurück.

Das Wesen der Zugehörigkeit liegt sowohl in der Beachtung des Umfelds als auch darin, selbst vom Umfeld beachtet zu werden. Wer dazugehört, achtet auf die Strukturen der Gemeinschaft und richtet sein Verhalten daran aus. Er ordnet sich in eine bestehende Struktur ein und übernimmt von der Gemeinschaft erprobte Verhaltensmuster.

Andererseits wird der Zugehörige von der Gemeinschaft erkannt und damit anerkannt. Durch die Mitgliedschaft gewinnt er Schutz vor den Gefahren der Außenwelt und ein Betätigungsfeld zur persönlichen Selbstverwirklichung. Da sich der Mensch als soziales Wesen nur verwirklichen kann, wenn er wechselseitige Bezogenheit findet, ist sein Zugehörigkeitsbedürfnis groß.

Der Zugehörige gehört dazu, obwohl er auch anders kann. Der Abhängige kann nicht anders, obwohl er nicht wirklich dazugehört.

Dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit liegt die Gefahr inne, in Hörigkeit zu geraten oder darin stecken zu bleiben. Bei der Hörigkeit verschiebt sich der Schwerpunkt von der Einordnung zur Unterordnung. Hörigkeit entsteht, wenn es einem Mitglied der Gemeinschaft misslingt, sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit durch ein entsprechendes Maß an Selbstbestimmung auszugleichen. Aus dem Zugehörigen, der das Umfeld beachtet, wird ein Abhängiger, der ihm gehorcht.

Felder der Zugehörigkeit
Es gibt drei Felder der Zugehörigkeit, die gemeinsam das Selbstbild ausformen:
  1. Identifikation
  2. Kommunikation
  3. Unpersönliche Bezugsverhältnisse

Mittel der identifikatorischen Zugehörigkeit ist die Zuordnung bestimmter materieller oder virtueller Objekte zum eigenen Ich: Dieser Körper ist mir zugehörig. Das ist mein Gedanke. Es war mein Impuls. Störungen der identifikatorischen Zugehörigkeit bilden die Basis psychotischer oder neurotischer Fehlentwicklungen.

Zur kommunikativen Zugehörigkeit gehört das Netzwerk von Bezugspersonen, durch deren persönliche Kenntnis man in ein soziales Umfeld eingebunden ist. Auf dem Feld der kommunikativen Zugehörigkeit läuft das Spektrum praktizierter Rollenspiele ab.

Auch unpersönliche Bezugsverhältnisse bilden Zugehörigkeiten aus. Unpersönliche Bezugsverhältnisse bestehen zu materiellen Objekten, mit denen man zu tun hat, zu Orten und Landschaften, in denen man lebt, zu Kulturkreisen, in die man eingebunden ist oder zu Weltanschauungen, in denen man sich eingerichtet hat.

2.2. Selbstbestimmung

Selbstbestimmung besteht aus zwei Komponenten:

  1. der Ermittlung dessen, was mich selbst ausmacht
  2. dem selbst-konformen Handeln im sozialen Umfeld

Beide Komponenten begünstigen sich wechselseitig. Je besser ich mich wahrnehme, desto klarer sind meine Entscheidungen. Je klarer ich entscheide, desto deutlicher treten in der Beziehung zum Umfeld weitere Strukturen hervor, über die im nächsten Schritt aufs Neue zu entscheiden ist.

Zwei Komponenten der Selbstbestimmung

Wahrnehmung Entscheidung
Im Bezug zu mir selbst, stelle ich fest, was ich bin. Ich nehme mein Sosein als Wahres an. In der Beziehung zu anderen, entscheide ich mich, meinem Wesen gemäß zu handeln. Ich gebe meinem Selbst eine Stimme.

2.2.1. Wahrnehmung

Selbstbestimmung beginnt mit Selbstwahrnehmung. Ein bloßes Ich-mache-was-mir-gefällt kann durchaus fremdbestimmt sein: wenn es ein trotziges Anders-als-die-anderen ist, das sich durch das bloße Tun des Gegenteils an dem orientiert, was andere vorgeben. Oder aber: Wenn sich das, was mir gefällt, nicht an mir selbst ausrichtet, sondern an einem Selbstbild, das der Zufall, die Prägung durch andere sowie meine Ängste und Begierden gemeinsam in die Welt gesetzt haben.

Je unreifer ein Erwachsener ist, desto eher akzeptiert er Fremdbestimmung. Die Wut, die daraus entsteht, lässt er offen oder verdeckt an der Gemeinschaft aus.

Analog zu einem Arzt, der bei der Bestimmung des Blutzuckers nicht etwa festlegt, wie hoch er ist, sondern den Zuckerspiegel ermittelt, kann das Individuum bei echter Selbstbestimmung nicht aus freier Willkür handeln, sondern nur aus dem Verständnis dessen heraus, was die Wirklichkeit als sein wahres Sosein vorgibt.

Hier stehe ich...

... und kann nicht anders. Authentische Selbst­bestimmung ist kein willkürliches Festlegen, sondern ein Entdecken, Erkennen, Bejahen, Befreien und Einstehen für das, was bereits festliegt. Das, worin das Selbst liegt, ist kein Gefängnis, sondern die Freiheit unbedingten Seins. Es liegt nicht, weil es gefangen ist, sondern weil es von dort, wo es liegt, gar nicht wegwill.

Dementsprechend kann die Orientierung an dem, was andere vorgeben, in vielen Situationen durchaus eine Spielart angemessener Selbstbestimmung sein; zum Beispiel dann, wenn die organismische Unreife, wie beim Kind, eine Orientierung an anderen nahelegt.

Wer, wie oder was?

Selbstbestimmung im Sinne der Feststellung dessen, was mich ausmacht, kann zwei Fragen stellen:

  1. Wer bin ich?
  2. Wie oder was bin ich?

Frage ich nach dem Wer, dann frage ich nach einer Person. Die Person ist ein Gefüge individueller Eigenschaften und Erfahrungen, das sich über eine Zeitspanne hinweg manifestiert. Im Konzept des Ich-bin-diese-oder-jene-Person vermengen sich Wunsch, Anspruch, Erwartung und Wirklichkeit. Zu keinem Zeitpunkt kann auf die Frage Wer bin ich? eine Antwort gegeben werden, die sich mit der Wirklichkeit vollständig deckt. Die Frage nach dem Wer übergeht oft das Wie oder Was, weil es das tatsächlich erfahrbare Was mit dem vermengt, wer man gerne wäre oder wofür man sich hält.

Auf der Betriebsfeier kann ich fragen, wer ich bin. Die Antwort mag sein: ein beliebter Unterhalter. Oder ich frage, wie oder was ich bin. Die Antwort mag sein: müde und gelangweilt. Je nachdem, welche Frage ich mir stelle, kann das Resultat meiner Selbstbestimmung ein völlig anderes sein.

Frage ich nach dem Wie oder Was, richtet sich meine Aufmerksamkeit auf das unmittelbare Jetzt. Ich stelle fest, wie oder was ich jetzt bin. Als Grundlage echter Selbstbestimmung ist es unverzichtbar, genau das zu erkennen.

2.2.2. Entscheidung

Selbstbestimmtes Handeln im sozialen Umfeld setzt Bindung und Ablösung voraus.

Grundregeln
  • Das Kind braucht Zugehörigkeit und dann erst Selbst­bestimmung. Beim Erwachsenen ist es umgekehrt.
  • Die kindliche Psyche reagiert auf Ausgrenzung mit Angst, die erwachsene auf Bevormundung mit Wut.
  • Wer nach der Anerkennung sucht, die er als Kind nicht bekam, ist kein freier Mensch. Wer Wut nicht zur Umsicht sublimiert, ist es ebenso wenig.

Authentisch oder zickig

Zickigkeit mag selbstbestimmt erscheinen. Authentisch ist eine solche Selbstbe­stimmung nicht. Zickigkeit ist ein passiv-aggressives Muster und als archaisches Werkzeug der Abgrenzung vorgegeben. Authentische Selbst­bestimmung setzt Selbst­bewusstheit voraus. Die Zicke ist nicht selbstbewusst, sondern ein Spielball ihrer Launen.

Erziehung kann zu einem Gefängnis werden, das seine Insassen niemals entlässt.

Strenge Eltern

Strenge Eltern signalisieren dem Kind: Sorge dafür, dass wir freundlich bleiben. Statt inneren Impulsen zu folgen, richtet sich das Kind einseitig nach außen aus. Wie soll es sein Selbst bestimmen, wenn es sein Selbst nicht beachten darf?

Die Grundlage des Mutes, zu mir selbst zu stehen, beruht auf Selbstvertrauen. Wer zu sich steht, vertraut darauf, dass das, was er in sich findet, in die richtige Richtung weist.

Man beachte die sprachliche Verknüpfung von richtig und Richtung. Richtung benennt ein Ungefähr. Wir fahren Richtung Wuppertal. Die Wirklichkeit ist großzügig: Dem, der das Ungefähr einhält, bestätigt sie bereits, dass er richtigliegt.

3. Individualpsychologische Entwicklungen

Im Laufe einer ungehinderten individual­psychologischen Entwicklung verschiebt sich der Schwerpunkt der Bedürfnisse im Grundkonflikt von der Zugehörigkeit zur Autonomie. Dieser Prozess verstärkt sich von selbst. Es ist logisch: Je autonomer ich werde, desto weniger bin ich auf Gemeinschaft angewiesen. Je weniger ich angewiesen bin, desto freier werden meine Entscheidungen.

3.1. Störungen

Der Erfolg dieser Entwicklung wird durch biographische Belastungen, insbesondere frühkindliche Traumata, problematische Bezugspersonen, soziale Umstände oder ein pathogenes kulturelles Umfeld bedroht. Eine weitere Quelle von Entwicklungsstörungen liegt im Einzelnen selbst: dass er sich gar nicht erst um authentische Selbstbestimmung bemüht.

3.1.1. Biographische Belastungen

Biographische Belastungen sind Überbleibsel der Vergangenheit. Die größte Rolle spielen kindliche Erfahrungen. Durch solche Erfahrungen werden Verhaltensmuster gebahnt, die auch dann noch wirken, wenn die Bedingungen, unter denen sie entstanden, längst vergangen sind.

3.1.2. Soziale Umstände

Selbst wenn die Bedingungen in der Kindheit günstig waren und Selbstbestimmung ermutigten, kann die Entwicklung zu einer autonomen Persönlichkeit auch später noch durch psychosoziale Faktoren beeinträchtigt werden. Häufige Ursachen dafür sind:

3.1.3. Kulturelles Umfeld
In der repräsentativen Demokratie hat der Lobbyist der Firma Umsatz & Cashflow mehr Einfluss auf politische Entschei­dungen als 100000 Wähler. Es ist kaum zu erwarten, dass seinem Auftraggeber selbstbestimmte Bürger lieber wären als solche, deren Verhalten marktstrategisch zu steuern ist.

Während soziale Umstände, die der Selbstbestimmung des Einzelnen zuwiderlaufen, eher zufällig sind oder Begleiterscheinungen sozialer Missstände, gibt es auch kulturelle Umfelder, die die Blockade der persönlichen Selbstbestimmung vorsätzlich betreiben. Das geschieht vor allem vor dem Hintergrund politischer und konfessionell-religiöser Weltanschauungen.

Vor allem rechts- oder linksextreme Gesellschaftssysteme haben kaum ein Interesse an selbstbestimmten Bürgern. Sie üben massiven Druck aus, um den Einzelnen von sich selbst zu entfremden. Aber auch die Grundstruktur der repräsentativen Demokratie, die die politische Selbstbestimmung der Regierten nur im Ansatz bejaht, trägt zur Störung psychologischer Reifungsprozesse bei. Bürger, die inhaltlich mitentscheiden dürften, hätten einen größeren Anreiz, selbstverantwortlich zu ermitteln, wo sie in dieser oder jener Frage stehen.

3.1.4. Zögerlichkeit

Es liegt im Wesen der Selbstbestimmung: Sie kann zwar von außen ent- oder ermutigt, aber nicht von dort aus vergeben werden. Selbstbestimmt leben kann nur, wer es aus sich heraus tut.

Geht aus der primär kindlichen Zugehörigkeit ein abhängiger Erwachsener hervor, dann niemals als reines Opfer äußerer Umstände. Wer abhängig wird, dessen Selbstbestim­mung ist nicht nur an äußeren Hemmnissen gescheitert. Er hat sie aus Angst und Bequemlichkeit nicht ernsthaft gewagt.

Existenzielle Dynamik

Es stimmt: Die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Selbstbestimmung können sich wechselseitig im Wege stehen. Sie konkurrieren um den dominierenden Einfluss auf das Verhalten. Es ist jedoch nicht so, dass sich beide um ein einmal festgelegtes Territorium balgen, sodass der Gewinn des einen grundsätzlich den Schaden des anderen bedeutet.

Vielmehr bleibt Zugehörigkeit ohne Selbstbestimmung auf Dauer oberflächlich und ist letztendlich nichts anderes als eine brüchige Abhängigkeit vom Wohlmeinen des Umfelds. Wer sich jedoch zunehmend selbstbestimmt, gewinnt zweierlei:

  1. erkennbare Individualität, Autorität und Selbstvertrauen, was ihn für andere als Bezugspartner wertvoll macht.

  2. die Kraft, sich dem Umfeld auch dann noch zugehörig zu fühlen, wenn dessen Wohlmeinen zu wünschen übriglässt und somit die Fähigkeit, Zugehörigkeiten über Krisen hinweg zu stabilisieren.

Beides führt dazu, dass das Territorium, auf dem der Konflikt stattfindet, mit wachsender Selbstbestimmung größer wird. Die Fähigkeit, auf oberflächliche Zugehörigkeit zu verzichten, steigert die Fähigkeit, sich auf vertiefte einzulassen.

Andererseits riskiert überwertige Selbstbestimmung den Selbstbestimmten vom Umfeld zu isolieren. Das kann zu einem Verlust kommunikativer Möglichkeiten führen, die sein Leben verarmt.

4. Psychosoziale Dynamik

Der Psychologische Grundkonflikt ist nicht nur prägende Basis individueller Verhaltens­muster, er greift auch in die psychosoziale Dynamik der Gesellschaft ein. Damit wird er zu einem Weichensteller politischer Strukturen. Er steuert Einbindung und Rollenvertei­lung sozialer Gruppen. Er bestimmt eine wesentliche Bruchlinie gesellschaftlicher Kon­flikte. Wenn es zwischen beiden Polen des Konflikts nicht zur Synthese, sondern zum Machtkampf kommt, gefährdet er den Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzes.

Die Dynamik des Prozesses kann am Konflikt zwischen zwei rivalisierenden gesellschaft­lichen Gruppen aufgezeigt werden: das Lager der "Gutmenschen" und das Lager der "Wutmenschen". Dabei ist klar, dass diese Begriffe wegen ihrer Ausdrucksstärke gewählt sind und nicht um den grundsätzlichen Wert der Benannten herabzusetzen oder ihnen gar Wut oder Güte als feststehende Eigenschaften zuzuordnen. Ziel der Ausführungen ist es....

Symmetrische Eskalation

Eine symmetrische Eskalation ist ein Beziehungskonflikt in der zwei ungefähr gleich starke Parteien um die Herrschaft ringen und das Verhalten der einen Partei den Eifer der jeweils anderen antreibt.
  1. den "Gutmenschen" als einen Parteigänger des Zugehörigkeitsbedürfnisses zu beschreiben...
  2. den "Wutmenschen" als einen Parteigänger des Selbstbestimmungsbedürfnisses...
  3. und aufzuzeigen, wie sich beide Gruppen in eine dynamische Interaktion verstricken, die durch symmetrische Eskalation den sozialen Frieden gefährdet.
4.1. Zur Psychologie des Gutmenschen

Beim Gutmenschen überwiegt das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Das kann verschie­dene Ursachen haben. Der Gutmensch...

Absichten
Absicht kommt von absehen. Absicht fokussiert ihr Ziel. Sie blendet aus, was ihrer Umsetzung nicht dient. So bündelt sie Kraft auf das, was ihr wichtig erscheint und rückt es in den Vordergrund. Auch die gute Absicht sieht weg. Sie übersieht systemische Folgen ihres Tuns. Bei der Verantwortung für eigenes Tun zählt aber nicht nur die Qualität der Absicht, sondern auch deren unerwünschte Folgen. Gut gemeint ist, wie man weiß, nur allzu oft das Gegenteil von gut.
Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Gewiss! Eine nüchterne Politik orientiert sich aber nicht an dem, wie der Mensch sein sollte, sondern daran, wie er tatsächlich ist.
Aufgabe eines freiheitlichen Staates ist es nicht, seine Bürger zu erziehen, sondern ihre Interessen zu vertreten.

Wut und Ohnmacht

Die häufigste Quelle der Wut ist die fehlende Bereitschaft, sich die Ohnmacht der eigenen Person einzugestehen. Indem der Wütende sich in Wut versteift, manipuliert er sein Selbst­erleben. Statt die heilsame Erfahrung von Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit zuzulassen, aus der heraus er frei werden könnte, spürt er seine Wut als eine Kraft, die ihn scheinbar mächtig macht. Wut ist wie eine Droge. Sie gaukelt dem Wütenden Stärke vor. Tatsächlich schwächt sie ihn noch mehr.

Die Umstände, die den Gutmenschen in die Lage versetzen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, können unterschiedlich sein. Beim einen mag es eine psychologische Reife sein, die ihn befähigt, gut für sich selbst zu sorgen und in der Folge zum Wohle anderer abzugeben. Ein anderer ist lediglich gut situiert. Der Gutsituierte kann sich das Gutsein gut leisten, solange er seinen Wohlstand gesichert sieht.

Menschen, die Selbstbestimmung für verwerflich halten, neigen dazu, Selbstaufgabe zu idealisieren und zu glauben, dass man dafür belohnt werden wird.

4.2. Zur Psychologie des Wutmenschen

Beim Wutmenschen überwiegt das Bedürfnis nach Selbstbe­stimmung. Fühlt er diese bedroht, grenzt er sich reaktiv ab. Das verengt in der Folge das Spektrum möglicher Zugehörigkeiten. Eine zweite Sorge entsteht. Der Wutmensch sieht sich nicht nur von Bevormundung bedroht, sondern zusätzlich ausge­grenzt.

Die Dominanz des Bedürfnisses nach Selbstbestimmung kann verschiedene Ursachen haben. Der Wutmensch...

Gegensätze einer dynamischen Polarität

Gutmensch Wutmensch
Erweiterung der Zugehörigkeit Bewahrung der Identität
Fürchtet Selbstbegrenzung Fürchtet Selbstverlust
Anpassungs­bereitschaft
Absorption
Konfluenz
Selbstaufgabe
Erstarrung
Widerstand
Abgrenzung
Machtanspruch
Bloß keine Abschottung: Dann kann das, was uns bereichern könnte, nicht zu uns kommen. Bloß keine Entgrenzung: Dann kann das, was uns ausmacht, nicht verlorengehen.
Nationalität ist ein Übel, weil sie die Erweiterung von Zugehörigkeiten beschränkt. Nationalität ist ein rettender Hafen, weil sie Identität und überschaubare Zugehörigkeit in einem verheißt.

Wo man im Spannungsfeld der Pole steht, hängt von angeborenen Neigungen, persönlichen Erfahrungen und daraus resultierenden Realitätsdeutungen sowie der aktuellen gesellschaftlichen Position ab, an der man sich befindet.

4.3. Integration und Desintegration
Die Einbindung von Fremden kann zur Ausgrenzung jener führen, deren Einbindung bereits brüchig ist. Die Integrations­bereitschaft sozialer Systeme ist begrenzt. Wird sie überfordert, kann sie in kurzer Zeit dramatisch sinken.

Sich abzuschotten, führt Gesellschaf­ten in sterile Erstarrung. Der Zustrom neuer Ideen, Gebräuche und Muster, den Fremde mit sich bringen, war von je her ein wichtiger Impuls, der gesell­schaftliche Entwicklungen lebendig erhielt.

Wird eine Gesellschaft mit Fremden konfrontiert, polarisiert sie sich. Die einen empfinden das Neue als Bereicherung des Potenzials auf Zugriff und Zugehörigkeit, die anderen als Gefährdung ihrer Selbstbestimmung. Das reaktive Verhalten beider Gruppen auf die Ankunft der Fremden dient auch der Angstabwehr.

Jede Polarisierung beruht darauf, dass Zielsetzungen aus psychologischen Gründen überwertig werden. Aus Bedürfnis wird Absicht. Aus Absicht wird Verdrängung jener Aspekte der Absicht, die ihrer Umsetzung nicht dienen oder ihr gar im Wege stehen.

Dabei wirken die jeweils bevorzugten Abwehrmechanismen der polaren Gruppen als Treibstoff zusätzlicher Polarisierung.

Abwehrmechanismen und ihre Folgen

Gutmensch Wutmensch
Der Gutmensch spaltet die Welt in Gut und Böse; und setzt sich mit dem Guten gleich. Als Guter schwelgt der Gute unbesorgt im Selbstgefallen. Der Wutmensch spaltet ebenfalls. Da er in der Position des Abgrenzenden steht, kann er sich dem Prinzip des Guten, das nämlich ein Prinzip des Passens ist, nicht ungebrochen anvertrauen. Der Wutmensch tobt zerrissen.
Der Gutmensch verleugnet, was nicht zur Vision umfassenden Zusammenseins gehört. Als Hüter des Guten sieht er sich verpflichtet, das Böse auszugrenzen. Der Wutmensch glaubt, in dem, was seine Selbstbestimmung von außen bedroht, die alleinige Ursache all seiner Übel zu sehen. Projektiv schreibt er alle Schuld der äußeren Bedrohung zu.
Der Gutmensch ist bereit, aus Angst vor dem Verlust seines guten Gewissens und einer Begrenzung seiner Zugehörigkeit, immer Neues von sich preiszugeben. Der Wutmensch bricht aus Angst vor Selbstverlust lieber alle Brücken ab. Er sagt und tut, was Grenzen zementiert. Er träumt davon, so mächtig zu sein, dass er durch eine Herrschaft über alles die Gefahr, beherrscht zu werden, endgültig bannt.

Zwei Wege, Fremden zu begegnen:

Im Eifer für die Vision umfassender Zugehörigkeit versucht der Gutmensch, an dem Ende der Wurst, an dem ihm Dank, Bestätigung und Freude entgegenkommen, unbeirrt Neues einzubinden. Er achtet nicht darauf, dass das Gefäß am anderen Ende, vieles, was bislang zu einer hinreichend integrierten Gemeinschaft gehört hat, nicht mehr in der Zugehörigkeit halten kann. Er glaubt, man könne den Pluspol zum einzig gültigen Prinzip erheben, indem man den Minuspol aus dem Ganzen ausgrenzt. In seinem Eifer einzugrenzen, grenzt er bedenkenlos aus, was seinem Eingrenzungseifer im Wege steht. So droht das Bemühen um Integration dialektisch das Gegenteil davon zu fördern.

Im Gegensatz dazu versucht sich der Wutmensch im Eifer für die Vision vollständiger Selbstbestimmung, gegen alles Neue abzugrenzen. Er übersieht, dass Strukturen dem Wandel der Wirklichkeit niemals auf Dauer widerstehen. Sobald er den Widerstand gegen den Verlust seiner selbst übertreibt, führt er den Verlust erst recht herbei.

4.4. Vom Wutmenschen zum Bösmenschen
Xenophobie
Oft wird Xenophobie (griechisch xenos (ξενος) = Fremder und phobos (φοβια) = Angst) mit Fremdenfeindlichkeit gleichgesetzt. Das ist übereilt. Die Furcht vor Fremden bereits als feindselige Handlung zu betrachten, übersieht die Tatsache, dass von Fremden durchaus Gefahr ausgehen kann. Die Weltge­schichte beinhaltet eindrückliche Beispiele dafür, dass die Ankunft von Fremden für Einge­sessene durchaus Nachteile mit sich brachte; und es ist nicht lange her, dass man Kinder ins Haus rief, wenn Unbekannte auftauchten. Insofern entspricht Fremdenfurcht einer phylogenetischen Erfahrung. Sie ähnelt dem Fremdeln eines ängstlichen Kindes. Erst wenn aus Angst Hass wird, kommt Feindseligkeit ins Spiel.

Ist das Erleben des Wutmenschen zunächst auch defensiv, so ist die Gefahr eines Umschlags in Fremdaggressivität groß. Dabei sind projektive Abwehrmechanismen ausschlag­gebend. Der Mensch in xenophober Stimmung fürchtet nicht nur, von einer Übermacht des Fremden übermannt und abgedrängt zu werden, er sieht sich auch der Verachtung der Xenophilen ausgesetzt, die für seine abwehrende Haltung kein Verständnis haben und ihm signalisieren, dass er die Zugehö­rigkeit zu der Gemeinschaft, der er bislang angehörte, durch seinen Widerstand verwirkt.

Die doppelte Gefahr, der Verlust von Selbstbestimmung und Zugehörigkeit zugleich, steigert die Wut des Xenophoben bis zu jener Stelle, an der er glaubt, sich nur noch durch Angriff wehren zu können. Wegbereiter dazu sind projektive Abwehr­prozesse, durch die der bislang bloß Xenophobe eine erlösende Erklärung für alle Missstände seines Daseins auszumachen glaubt. Er bildet sich ein, die Quelle all seiner Übel sei ein einziger äußerer Umstand, den es um jeden Preis zu beseitigen gilt. Der Wutmensch, dessen Wut bislang lautstark demonstriertes Schutzschild war, wird zu einem Bösmenschen, der grenzüberschreitend angreift. Am liebsten hätte er totale Macht um sich hinter deren Schutzwall sicher zu fühlen.

Harmoniebedürfnis
Harmoniebedürfnis: Das hört sich harmlos an. Wer vom Harmoniebedürfnis ange­trieben ist, tut gewiss nur Gutes. So scheint es. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Harmonie und dem nach Selbstbestimmung verwickelt und dramatisch. Die These sei gewagt: Am psychodynamischen Ursprung vieler Verbrechen wider die Menschlichkeit stand scheinbar paradoxerweise ein ungestilltes Harmoniebedürfnis. Das kann für linke wie für rechte Diktatoren gelten.
4.5. Vom Konflikt zur Vernunft

Wenn von der Gefahr die Rede ist, dass der Konflikt zwischen Gut- und Wutmensch Böses hervorbringen könnte, ist es Zeit, auf die Möglichkeit einer kreativen Lösung zu verweisen: die Besinnung auf die Mittel der Vernunft. Vernunft kommt von vernehmen. Vernehmen ist das Gegenteil von ausblenden.

Der Gutmensch neigt dazu, unerwünschte Folgen auszublenden, die bedenkenloses Gutsein nach sich ziehen könnte. Dazu gehören soziale Probleme und Spannungen, an denen selbst eine hundertprozentige Bereitschaft zu geben, scheitern muss; aber auch der dialektische Beitrag, den sein Gutsein dabei leistet, das Böse, auf das er mit dem Finger zeigt, überhaupt erst auf den Plan zu rufen.

Auch der Wutmensch blendet gerne aus; vor allem die Tatsache, dass sein Leiden am Leben nicht nur anderen anzulasten ist, sondern vor allem eigenen Widersprüchen; und damit Aufgaben, die er in sich selbst zu lösen hat. Selbstbestimmung ist mehr als ein Kampf gegen alles, was von außen kommt. Selbstbestimmung ist vor allem ein Ringen um innere Freiheit.

Das Ideal hat sich schon oft als eine Maske des Teufels entpuppt. Ursache ist eine Verwechs­lung der Reihenfolge. Ideale gehen aus der Wirklichkeit hervor. Sie sind ihr daher unter­geordnet. Der Mensch als Erfinder des Ideals, will diese Tatsache leugnen. Er stellt das Ideal über die Wirklichkeit. Das trübt ihm den Verstand.

Gelänge es uns, im Widerstreit der konflikthaften Pole mehr von der Wirklichkeit zu vernehmen, statt von Idealen und ideolo­gischen Positionen auszugehen, könnte der Vernunftmensch die Führung übernehmen.

5. Zusammenhang und Kehrseite

Der Grundkonflikt zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem nach Selbst­bestimmung ist mehr als ein individual­psychologisches und ein psychosoziales Problem. Er ist Ausdruck eines kosmischen Gesetzes.

Die Wirklichkeit als Ganzes ist aus Teilen aufgebaut, deren jeweiliges Sosein seinerseits etwas Ganzem entspricht, das sich zugleich aber als Teil in höhere Ganzheiten einfügt: Nukleonen bilden Atome. Atome verbinden sich zu Molekülen. Moleküle setzen sich zu Zellen zusammen. Zellen bilden individuelle Körper. Individuen bilden Arten oder Gemeinschaften. Arten leben in Biotopen. Biotope sind Bestandteile evolutionärer Entwicklungen.

Auch die Person ist ein bestimmtes Sosein, das als Teil eines übergeordneten Ganzen aufzufassen ist. Deshalb sind Zugehörigkeit und Selbstsein nicht nur Bedürfnisse, die der Person entspringen und zu deren Wohlbefinden zu erfüllen sind. Sie sind auch Bedingungen, denen die Person unterworfen ist. Sie sind existenzielle Aufgaben.

Egozentrik

Im egozentrischen Muster deutet das Bewusst­sein die Person als separate Einheit, die dem Nicht-Ich gegenübersteht. Es verkennt, dass das Individuum in die Wirklichkeit, aus der es entstanden ist, nahtlos eingewoben ist. Dieser Deutung entspringt eine Verweigerung vollständiger Zugehörigkeit, in deren Folge das Ego seine Vernichtung fürchtet und zu deren Abwehr es um Überlegenheit kämpft.


Zur Akzeptanz vollständiger Zugehörigkeit gehört das Einverständnis mit dem Tod.

Als Teil eines höheren Ganzen kann die Person ihrem Wesen nur entsprechen, wenn sie beide Aufgaben erfüllt:

  1. Unverstellt sie selbst zu sein.
    • Zu dem zu stehen, was sie tatsächlich ist.
  2. Sich dem Ganzen zu überlassen.
    • Sich nicht für sich selbst in Anspruch zu nehmen, sondern sich als Ausdruck einer umfassenden Dynamik zu verstehen, die alle Gegensätze in sich vereint.

Die Person entspricht nur dann ihrem Wesen, wenn sie sich als authentisches Sie-selbst-sein dem Ganzen überlässt.

5.1. Erfüllung und Verweigerung

Betrachtet man den psychologischen Grundkonflikt aus dem Blickwinkel konkurrierender Bedürfnisse, sieht man nur die halbe Wahrheit. Der Begriff Bedürfnis denkt ein Anrecht auf Erfüllung mit. Ein Anrecht ist ein Anspruch gegenüber einem anderen. Es ist eine Anwartschaft, die sich an etwas anderes wendet.

Gemäß Kant (⇗Metaphysik der Sitten, 1785) ist ein Recht die Befugnis, einen anderen zu etwas zu zwingen. Eigentlich ist das aber ein Anspruch. Ein Recht ist im Gegensatz dazu die Freiheit, von den Ansprüchen anderer nicht gezwungen werden zu können. Einerseits verzahnen sich Recht und Anspruch ineinander, andererseits entsteht Verwirrung, weil beide oft verwechselt werden.

Da der Grundkonflikt aber Ausdruck eines kosmischen Strukturprinzips ist, sind Zugehörigkeit und selbstbestimmtes Sosein nicht nur Ansprüche, auf deren Erfüllung man pochen kann. Sie sind ebenso gut Aufgaben, die man zu lösen hat.

So gesehen sind Zugehörigkeit und Selbstbestimmung nicht nur Ansprüche, deren Einlösung scheitern kann, sondern auch Aufgaben, deren Lösung man vernachlässigt oder gar verweigert. Im Normalfall handeln Personen egozentrisch. Dem entspricht eine Verweigerung vollständiger Zugehörigkeit.

Zwei Pole der Selbstbetrachtung

Ich bin...
mein Ego. ich selbst.
die Person, deren Rollen ich spiele. der, der die Rollen wählt, die er spielen will.
Ich suche Erfolg in der Welt. Ich suche Übereinstim­mung mit mir selbst.

Es ist ein Erfolg, etwas zu werden. Der größte Erfolg ist jedoch, man selbst zu sein.

Die Übereinstimmung mit sich selbst steht einem Erfolg in der Welt aber nicht entgegen. Die Schwerpunkte sind anders gesetzt, sodass der egozentrische Mensch unter mangelndem Welterfolg mehr leidet als der, der die Übereinstimmung mit sich selbst als höheren Wert zu schätzen weiß.

6. Lösungen

Der psychologische Grundkonflikt fordert zu seiner Lösung heraus. Je nachdem, aus welcher Perspektive sich das Ich betrachtet, ergeben sich unterschiedliche Lösungen. Dabei gibt es zwei polare Möglichkeiten, zwischen denen das Ich im Regelfall eine Übergangslösung wählt:

6.1. Egozentrisches Selbstbild
Ich gehöre dazu, weil ich zu den anderen passe.
Ich gehöre zur Gruppe.
Ich beeinflusse die anderen, damit sie besser zu mir passen.

Im egozentrischen Muster identifiziert sich das Ich mit der Person, deren Rolle es im Umfeld spielt.

Ich bin Werner Fliehenkamp aus Obersprockhövel und lege Wert darauf, mir das Wohlmeinen von Familie und Nachbarschaft zu erhalten.

Die psychologische Repräsentanz der Person ist das Ego. Da sich das egozentrische Ich vorwiegend als sozialer Rollenspieler begreift, der anderen Rollenspielern gegenübersteht, wendet sich sein Zugehörigkeitsbedürfnis an die soziale Gruppe, von der es sich als abgetrennt erlebt und in die es in der Folge eingebettet werden will. Es wendet sich an die Familie, den Freundeskreis, das Kollegium, den Ortsverband, die Partei, die Glaubensgemeinschaft, die Nation...

Aus der Perspektive des egozentrischen Ego bezieht sich sein Zugehörigkeitsbedürfnis auf etwas, das grundsätzlich außerhalb seiner selbst zu liegen scheint. Daher sind in diesem Modus zwischen dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung und dem nach Zugehörigkeit nur situative Kompromisse möglich.

Eigentlich möchte ich zunächst Asien bereisen. Mein Vater erwartet jedoch, dass ich den Betrieb übernehme. Daher habe ich eine Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker begonnen und plane nach dem ersten Lehrjahr einen Urlaub in Thailand.

Eine Fusion der rivalisierenden Bedürfnisse und damit eine Aufhebung des Konflikts bleiben unerreichbar. Jedem Gefühl der Zugehörigkeit bleibt als tragende Grundlage das einer fundamentalen Gegensätzlichkeit unterlagert.

6.2. Existenzielles Selbstbild
Ich gehöre dazu, weil die Wirklichkeit mich selbst bestimmt.
Ich gehöre zu allem, weil ich die Wirklichkeit bin.
Ich brauche niemanden zu verändern, weil mir jeder bereits so, wie er ist, entspricht.

Im existenziellen Muster identifiziert sich das Ich mit sich selbst.

Ich bin, was die Möglichkeit meiner Existenz verwirklicht hat.

Das Zugehörigkeitsgefühl bezieht sich auf die gesamte Wirklichkeit, als deren Ausdruck sich das Ich begreift. Es bezieht die soziale Gruppe mit ein, geht jedoch darüber hinaus, sodass es aus deren Begrenzungen entbunden ist. Daher können sich Zugehörigkeit und Selbstbestimmung in einer Art ergänzen, die die Nützlichkeit sozialer Absprachen übersteigt. Im Konflikt zwischen den Polen orientiert sich das Ich nicht nur an den Erfordernissen seiner Existenz als Person, sondern an dem, was es als wahr erkennen kann.

An seinem Endpunkt kann das existenzielle Selbstbild in ein mystisches Selbsterleben übergehen. Dabei erfährt sich das Ich nicht mehr als umgrenzte Person, sondern als entgrenzte Wirklichkeit, sodass sich der vordergründige Gegensatz zwischen Zugehörigkeit und Selbstbestimmung aufhebt. Die Wirklichkeit gehört sich an und bestimmt sich selbst.

Hürde der Sehnsucht
Das ultimative Ziel der spirituellen Meditation ist für die meisten Praktizierenden das sogenannte Erleuchtungserlebnis. Im christlichen Kulturkreis wird es als Unio mystica bezeichnet. Darunter versteht man das Erlebnis unbegrenzter Zugehörigkeit, bei dem sich die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich als durchgängig erweist, sodass der Mensch sich auch als wesensgleich mit Gott erlebt, und das heißt, als wesensgleich mit der Instanz unbegrenzter Selbstbestimmung.

Die größte Hürde auf dem Weg dorthin ist der unbewusste Widerstand, die Identifikation mit dem Ego aufzugeben. Es ist zwar leicht, sich die Einheit im Geiste vorzustellen, die Vorstellung allein überwindet aber kaum je die egozentrische Einstellung, die die Person der Wirklichkeit gegenüber vorsichtshalber einnimmt. Zu akzeptieren, dass es keine Grenze gibt, heißt völlig zu vertrauen. Der Anspruch des Ego, über sich selbst zu bestimmen, steht der Übereinstimmung mit sich selbst im Weg. Das Ego möchte Gott begegnen, ohne zu erkennen, dass es neben Gott nichts gibt.

7. Ergänzungen

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist die Grundlage der Existenz. Kein Ich kann existieren ohne einem Nicht-Ich anzugehören, in das es eingebettet ist. Der Grad der Einbettung wird vom Ich gefühlt und kann durch Aktivitäten des Ich verändert werden. Eine gute Einbettung wird als Harmonie empfunden, eine brüchige als Spannung.

Je mehr Disharmonie das Ich erlebt, desto mehr leidet es unter Angst oder Unruhe. Ist das der Fall, kann es zur Lösung des Problems zweierlei tun:

Beim Versuch, das Umfeld den eigenen Wünschen anzupassen, kommt es zu neuen Spannungen, die das Zugehörigkeitsbedürfnis in Frage stellen. Die Anpassung des Umfelds erfordert es, dass man auf das Nicht-Ich einwirkt. Wer aber das Nicht-Ich verändern will, bringt sich in einen erkennbaren Gegensatz zu dem, was bereits besteht und was verändert werden soll.

Max hat ein großes Harmoniebedürfnis. Am liebsten lebt er mit allem in Einklang. Das fühlt sich am besten an. Dumm nur, dass die Welt ständig in Bewegung ist und dass Übereinstimmungen daher vergänglich sind. Sobald Spannungen spürbar werden, versucht Max sich so anzupassen, dass nichts mehr weh tut. Ein probates Mittel ist Marihuana. Sobald Max ein Tütchen kifft, ist die Spannung fürs erste verflogen. Da aber auch die Wirkung des Cannabis vergänglich ist und selbst Dauerkiffen die wachsende Spannung zwischen Max und der Welt nicht überdecken kann, gibt es eigentlich nur eine Lösung: Max müsste versuchen, dergestalt auf die Welt einzuwirken, dass eine bessere Abstimmung zwischen ihm und ihr zustande kommt. Sobald er den Vorsatz, aktiv zu werden, ins Auge fasst, trifft er aber auf einen rätselhaften Widerstand: Er hält nichts durch.

Die Ursache liegt in seiner Sehnsucht nach dem wohligen Gefühl der Harmonie. Der Welt zu begegnen, um sie durch Tatkraft zu verändern, eskaliert den Gegensatz. Jeder Vorsatz, etwas am Umfeld zu verändern, stößt auf dessen Widerstand. Die empfundene Disharmonie kann Aktivität schon im Keim ersticken oder der Schwung des Aufbruchs bricht am kleinsten Widerstand zusammen.

Ein übermächtiges Bedürfnis nach Zugehörigkeit kann zu Ausweichmanövern führen, die jede aktive Konfrontation mit den Unbilden der Wirklichkeit verhindern.

Maßnahmen zur Reduktion der Disharmonie

sich anpassen
regressive Mittel
auf die Welt einwirken
progressive Mittel
  • zustimmen
  • schweigen
  • sich zurückziehen
  • sich trösten
  • Erklärungen finden, warum man nichts tun kann
  • die Verantwortung für Spannungen widrigen Umständen zuordnen
  • Substanzen einnehmen, die Gefühle und Stimmungen angenehmer machen
  • verzichten
  • das Selbstbild verändern
  • überzeugen
  • Projekte in Angriff nehmen
  • sich etwas aneignen
  • durch Ausbildung und Berufstätigkeit soziale Positionen erobern
  • aufräumen
  • Kontakte knüpfen
  • Sachen erledigen
  • eine Tagesstruktur einhalten
  • Ansprüche durchsetzen
  • Träume verwirklichen
Ich verändere mich so, dass ich zur Welt passe. Ich verändere die Welt so, dass sie zu mir passt.

Kaum jemand wird bei der Wahl der Mittel zur Befriedigung des Zugehörigkeitsbedürfnisses ausschließlich regressive oder ausschließlich progressive Mittel wählen. Die einen sind defensiver, andere offensiver. Außerdem bestehen Wechselwirkungen. Wer Projekte angeht um das Umfeld für sich passender zu machen, muss sich selbst den Notwendigkeiten des Projektes anpassen. Wer zustimmt, beeinflusst damit auch das Umfeld; indem er es sich selbst gewogen macht.