Weltanschauung


  1. Selbstbild, Weltbild und Weltanschauung
  2. Psychologische Grundlagen gängiger Weltanschauungen
    1. 2.1. Bedürfnisse
      1. 2.1.1. Zugehörigkeit
      2. 2.1.2. Selbstbestimmung
      3. 2.1.3. Bestätigung des Selbstwerts
      4. 2.1.4. Widersprüche
    2. 2.2. Archetypische Beziehungsmuster
      1. 2.2.1. Mutter-Kind-Beziehung
      2. 2.2.2. Vater-Kind-Beziehung
      3. 2.2.3. Übergänge
  3. Einteilung gängiger Weltanschauungen
    1. 3.1. Wissenschaftliche Anschauungen
    2. 3.2. Politische Anschauungen
      1. 3.2.1. Individualität und Bündelung
      2. 3.2.2. Psychologie der politischen Radikalität
      3. 3.2.3. Rassismus
    3. 3.3. Philosophische Anschauungen
    4. 3.4. Religiöse Anschauungen
    5. 3.5. Mischformen und Übergänge
  4. Krankhafte Zuspitzungen
Weltanschauungen werden von Menschen erdacht; aber nicht in freier Kreativität, sondern aus psychologischen Bedürfnissen heraus.

Anschauung ist Vorurteil. Wer die Welt sehen will, wie sie wirklich ist, muss über Anschauungsformen hinausgehen.

Es gibt keinen Lehrsatz, auf den man sich ohne Schaden einigen könnte, als den, dass kein Lehrsatz über der weltanschau­lichen Freiheit des Einzelnen steht. Jeder hat das Recht, die Welt aus der Perspek­tive seiner Individualität heraus zu deuten. Klug ist, wer weiß, dass es nur Deutungen sind.

1. Selbstbild, Weltbild und Weltanschauung

Der seelisch Gesunde ist mit sich selbst im Reinen. Ob man mit sich im Reinen ist, hängt vom Selbstbild ab. Entspricht das Bild, das ich von mir habe, dem, was ich tatsächlich bin, kann ich mich selbst bejahen. Ich gebe mir die Bestätigung, die ich zu meinem Wohlbefinden brauche.

Das Selbstbild ist Teil des Weltbilds. Das Weltbild ist ein Gefüge von Urteilen über die Struktur der Wirklichkeit. Jeder macht sich ein Bild von der Wirklichkeit; so, wie er sie aus seiner persönlichen Perspek­tive und vor dem Hintergrund seiner bisherigen Erfahrungen deutet.

Die Bausteine der Weltbilder entstammen vier Quellen:

  1. realen Erfahrungen, die der Einzelne im Umgang mit der Wirklichkeit macht
  2. individuellen Urteilen seiner Bezugspersonen, die er übernimmt
  3. kollektiven Urteilen des sozialen Umfeldes, die als kulturspezifische Weltanschauungen überliefert werden
  4. persönlichen Urteilen, die gemäß eigener Absichten über die Elemente gefällt werden, die aus den drei vorgenannten Quellen stammen

Während der Begriff Weltbild auf das individuelle Bündel von Sichtweisen verweist, werden kollektive Grundmuster der Wirklichkeitsdeutung als Weltanschauungen bezeichnet. Je nach Zeitgeist, familiärem Milieu und geographischer Breite kann der Einfluss einer kollektiven Weltanschauung auf Selbst- und Weltbild machtvoll sein. Entsprechend stark ist der Einfluss auf die seelische Gesundheit derer, die ihr ausgesetzt sind.

2. Psychologische Grundlagen gängiger Weltanschauungen

Die Geschichte hat Weltanschauungen hervorgebracht, die sich über Kontinente hinweg verbreitet haben. Dass ihnen das gelang, deutet darauf hin, dass die Struktur kollektiver Wirklichkeitsdeutungen Grundbedürfnissen entspricht, die allen Menschen gemeinsam sind. Zu nennen sind:

  1. die polaren Bedürfnisse des Psychologischen Grundkonflikts
    1. das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
    2. das Bedürfnis nach Selbstbestimmung
  2. Das narzisstische Bedürfnis nach Bestätigung des Selbstwerts

Darüber hinaus entspricht die Struktur kollektiver Welt­anschauungen archetypischen Beziehungsmustern, die fast jeder aus frühkindlichen Erfahrungen heraus kennt:

Pathologische Befriedigungen
2.1. Bedürfnisse

Bedürfnisse sind Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die Entwicklung eines Menschen störungsfrei verläuft. Ihre Erfüllung wird instinktiv gesucht. Instinkt geht auf lateinisch instinguere = anstacheln zurück. Der gemeinsame Vorfahre des Instinktes und des Stiches ist in der indoeuropäischen Verbalwurzel [s]teig = stechen zu finden.

Der instinktive, also vorbewusste Stachel des Antriebs, psychologische Grundbedürf­nisse zu befriedigen, ist so spitz, dass der Einzelne Bedenken gegen bedenkliche Möglichkeiten zu ihrer Erfüllung oft beiseiteschiebt. Lieber gehört er zum Falschen als nirgendwohin. Lieber unterdrückt er, statt bevormundet zu werden. Lieber wertet er andere ab, als sich wertlos zu fühlen.

2.1.1. Zugehörigkeit

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist psychologisch gesehen am ältesten. Der Mensch als Nesthocker ist überlebens­notwendig auf die Zugehörigkeit zu mindestens einer Person angewiesen. Nur so kann er dazu heranreifen, andere Bedürfnisse zu entwickeln und sich aus der anfangs zwingenden Notwendigkeit permanenter Bindung zu befreien. Dementsprechend liegt die wesentliche Anziehungskraft der meisten Weltanschauungen im Angebot, zu einer Gemeinschaft zu gehören, die Geborgenheit und Schutz vor den Gefahren des Daseins bietet.

Eindeutigkeit und Selbstidealisierung
Das Angebot potenzieller Weltanschauungen ist groß. Erfolgreich bei der Konkur­renz um Kundschaft sind aber keineswegs alle. Offensichtlich sind Weltanschau­ungen besonders attraktiv, wenn sie ein bestimmtes Merkmal aufweisen: nämlich eine eindeutige Antwort auf die Frage zu geben, was grundsätzlich als gut oder schlecht zu bewerten ist; egal, ob die Antwort zutrifft oder nicht. Das hängt mit der Psychologie des Menschen und seiner jeweils persönlichen Reife zusammen.

Nach der Geburt beginnt sich das Weltbild des Kindes zu formieren. Dabei trifft sein Blick auf eine ungeheure Wirklichkeit. Da ihm das Ausmaß der Wirklichkeit nicht geheuer ist, sucht es nach Sicherheit. Es findet sie in einem beruhigenden Muster, das ihm die Welt zu erklären scheint: der Spaltung der Wirklichkeit in die entgegen­gesetzten Kategorien von gut und schlecht bzw. Gut und Böse. Die Spaltung be­ruhigt, denn sie verheißt, dass man mit ihrer Hilfe das Gute verlässlich gewinnen und das Böse verlässlich vermeiden kann. Da die beruhigende Wirkung der Spaltung nachlässt, sobald man sich eingesteht, dass gut und böse mit dem menschlichen Verstand kaum je eindeutig zu unterscheiden sind, machen sich jene Weltanschau­ungen besonders attraktiv, die das frühkindliche Denkmuster zur unverrückbaren Regel verklären.

Die Unverrückbarkeit einer Regel erscheint umso überzeugender, je höher die In­stanz steht, die die Einhaltung der Regel zum Gesetz erklärt. Das führt dazu, dass sich spaltende Weltanschauungen entweder auf Gott, die Vorsehung oder zumin­dest auf vermeintliche Naturgesetze berufen. Indem sie sich als ausführende Organe der höchsten Instanz betrachten, idealisieren sie sich selbst und erklären den Zweifel an ihrer frühkindlichen Weltdeutung zur Todsünde. Das schürt die Angst ihrer Anhänger, den Hafen der Zugehörigkeit zu jener Gruppe zu verlassen, die vermeintlich im Besitz der endgültigen Wahrheit ist. Wo die Wahrheit das spaltende Weltbild infrage stellt, wird sie durch Mythen und Dogmen ersetzt.

Spaltende Weltanschauungen bieten Zugehörigkeit auf der Grundlage frühkindlicher Psychodynamiken. Dadurch hemmen sie die Entwicklung reifer Persönlichkeiten. Darüber hinaus schreibt jede spaltende Weltanschauung das eigene Böse anderen zu und bekämpft es dort. Da unreife Persönlichkeiten eher spaltende Weltbilder wählen, und durch die Projektion des Bösen ein feindliches Umfeld definiert wird, gegen das es sich abzugrenzen gilt, entsteht eine Gruppendynamik, die den Bestand spaltender Weltanschauungen sichert.

2.1.2. Selbstbestimmung

Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung ist das polare Gegenstück zum dem nach Zuge­hörigkeit. Psychologisch ist es jünger, da die Selbstbestimmung des Einzelnen erst möglich wird, nachdem seine Existenz durch die Zugehörigkeit zu anderen gesichert wurde.

Kollektive Weltanschauungen formulieren eine Gruppenidentität. Während die Selbst­bestimmung des Einzelnen auf gerade mal zwei Beinen steht, bietet die Identifikation mit der Gruppe ein Gefühl gemeinsamer Macht. Im Verbund der Gruppe und überzeugt von ihren Lehrsätzen und Zielen wird das Selbstbestimmungsbedürfnis auch jener ersatzweise befriedigt, denen - auf sich allein gestellt - Kraft, Macht oder Mut fehlt, dem Bedürfnis in eigener Regie Gehör zu verschaffen. Mit fünfzig Mann im Rücken ist selbst der Hase ein Held.

2.1.3. Narzisstische Bedürfnisse

Sobald der Mensch sich der Zerbrechlichkeit seiner Existenz bewusst wird, bekommt er es mit der Angst zu tun. Sobald er es mit Angst zu tun bekommt, will er etwas wert sein. Und er will, dass sein Wert von außen bestätigt wird.

Der verängstigte Mensch denkt: Wenn ich als wertvoll gelte, hat der, der mich wertschätzt ein Interesse daran, mich vor dem Untergang zu bewahren. Er wird mich vor fremder Aggression schützen und mir seine eigene ersparen. Auch das narzisstische Thema reicht in die früheste Kindheit zurück. Nur wenn das Kind auf Eltern trifft, die ihm einen Wert beimessen, hat es die Chance, zu überleben.

Kollektiven Weltanschauungen ist daher ein weiteres Merkmal gemeinsam: Sie versprechen, dass das Mitglied durch die Mitgliedschaft zu etwas Besonderem aufgewertet wird und entwerten spiegelbildlich dazu all jene, die außerhalb der Gruppe stehen.

Der Kern der Kultur

Jede Weltanschauung, die davon ausgeht, dass die Mitgliedschaft in der Gruppe einen Einfluss auf den Wert des Einzelnen hat, ist abwertend. Da Wert Erhaltungswürdigkeit bedeutet, unterscheidet eine solche Weltanschauung zwischen lebenswert und lebensunwert. Indem sie Gruppenfremde und Ausbruchswillige spiegelbildlich zur Aufwertung ihrer Anhänger abwertet, bahnt sie gesellschaft­liche Strukturen, die...

Der Respekt vor dem Individuum an sich ist Kern jeder menschlichen Kultur. Gemeinschaften, die diesen Respekt zugunsten anderer Werte zurück­stellen, bieten ihren Mitgliedern keine vollgültige Grundlage zur Entwicklung des menschlichen Potenzials.

Dass kollektive Weltanschauungen ihre Anhänger aufwerten, ist nur die halbe Wahrheit. Oberflächlich gesehen, werten sie auf. Tiefgreifend werten sie ab. Da das Bedürfnis nach Aufwertung und damit der Eifer, sich durch Beitritt Wert zu verschaffen, durch das Gefühl des Unwertseins angestachelt wird, liegt der Erfolg kollektiver Weltanschauungen regelhaft in einer grundsätzlichen Entwertung des Menschen an sich. Während sie den Wert des Menschen an sich herabsetzen, preisen sie den ihrer Mitglieder an.

Historische Vorbilder

Sura 9, 28-29:**
... nur Schmutz sind die Götzendiener... Bekämpfet, die an Gott nicht glauben...

So heißt es im Koran. Dem gläubigen Leser wird kaum je bewusst, dass der Koran das Menschsein an sich als bloßen Schmutz betrachtet. Schließlich sind die sogenannten Götzendiener Menschen. Wenn in den Augen des Koran das Menschsein an sich Menschen aber nicht über das Schmutzsein hinaus­hebt, dann betrachtet der Koran auch das Menschsein des Moslems als Schmutz. Die Menschen eines ganzen Kulturkreises werden der Aussage ausgesetzt, Schmutz zu sein und sich durch Zustimmung zu jener Weltan­schauung reinwaschen zu müssen, die sie ansonsten zu Schmutz erklärt. Tatsächlich ist der Mensch nie Schmutz. Reinwaschen kann er sich daher nie vom Schmutz, der er angeblich selbst ist. Aber er kann sich vom Irrtum befreien, den er im Kopf hat.

Man muss nicht glauben, dass das koranische Denkmuster keinen Vorgänger hätte. Was vom Koran als Schmutz betrachtet wird, heißt im biblischen Menschenbild Gassenkot.

2 Samuel 22, 21-43:*
Der Herr vergalt mir (David) mein gerechtes Tun... Von Tadel frei war ich vor ihm... So lohnte mir der Herr... die Reinheit meiner Hände... und meine Gegner konnte ich vernichten... Ich zerrieb sie wie Erdenstaub, zertrat sie wie Gassenkot.

Dieselbe Dynamik aus Entwertung des Menschseins an sich und vermeintlicher Auf­wertung durch die Zugehörigkeit zu einer besonderen Gruppe, betreiben Nationalismen und Rassismen (siehe unten) aller Art. Auch der Nationalist glaubt, er stehe über anderen, weil er einer besonderen Gruppe angehört. Da Nationalismus und Rassismus den Menschen grundsätzlich entwerten, sind sie außerstande, das Selbstwertgefühl von Menschen tatsächlich zu festigen.

2.1.4. Widersprüche

Gemeinsame Weltanschauungen bieten Bedürfniserfüllung an. Allerdings stößt sie auf prinzipielle Hindernisse, die der Erfüllung im Erfülltsein zugleich widersprechen. Das führt zu innerseelischen Spannungen, die die seelische Gesundheit gefährden. Auf allen genannten Bedürfnisfeldern sind widersprüchliche Effekte erkennbar:

So lockt die fordernde Gemeinschaft den Einzelnen zwar mit Zuckerbrot, sie legt aber nie die Peitsche aus der Hand, die verhindert, dass er zu sich findet.

2.2. Archetypische Beziehungsmuster

Mit den genannten Bedürfnissen sind sämtliche Beziehungen verwoben, die der Mensch im Laufe seines Lebens eingeht. Er will dazugehören. Er will in der Bezogenheit er selbst sein. Er will sich als wertvoll erleben und als wertvoll anerkannt werden.

Zwei Beziehungsmuster sind entwicklungspsychologisch von besonderer Bedeutung:

Bei der Wahl gemeinsamer Weltanschau­ungen überträgt der Einzelne Erwartungen und Befürchtungen, die eigentlich seiner Mutter bzw. seinem Vater gelten, auf die Gruppe, der er beitritt. Zwischen Welt­anschauung und Mitglied entsteht eine Eltern-Kind-Beziehung.
  1. die Mutter-Kind-Beziehung
  2. die Vater-Kind-Beziehung

Entsprechend der besonderen Bedeutung, die diesen beiden Beziehungsformen zukommt, ragt ihre Thematik tief in die Struktur kollektiver Weltanschauungen hinein. Wesen und Wirkkraft solcher Anschauungen sind besser zu verstehen, wenn man sich die Unterschiede der genannten Beziehungsmuster vergegenwärtigt.

2.2.1. Mutter-Kind-Beziehung

Das primäre Schlüsselthema der Mutter-Kind-Beziehung heißt:

Zu diesem Schlüsselthema gehören sekundäre Motive:

2.2.2. Vater-Kind-Beziehung

Das primäre Schlüsselthema der Vater-Kind-Beziehung heißt:

Zu diesem Schlüsselthema gehören sekundäre Motive:

Im Leib der Mutter ist das Kind vollständig behütet. Auf den Vater geht es zu, wenn es laufen kann. Mütter zügeln Expansion. Väter ermutigen dazu.

Behüten und verteidigen
Zwei Arten, ein Kind zu beschützen

Das mütterliche Prinzip behütet das Kind, das väterliche ermutigt es zur Selbstverteidigung. Ein Blick auf Bedeutung und Herkunft der Begriffe verdeutlicht den Unterschied.

Was hat das mit Vätern und Müttern zu tun?

2.2.3. Übergänge

In der Theorie kann das mütterliche dem väterlichen Grundmuster ideal­typisch gegenübergestellt werden. In der Praxis sind die Muster aber keine Gegensätze, sondern einander überlappende Pole eines übergreifenden Beziehungsthemas: der Eltern-Kind-Beziehung.

Obwohl zwischen einem mütterlichen und einem väterlichen Grundmuster unter­schieden werden kann, sind weder Mütter noch Väter daran gebunden, dem Kind einseitig oder gar ausschließlich das entsprechende Muster anzubieten. Väterlich und mütterlich werden die Muster genannt, weil es der Mutter von ihrer biologischen Position her näherliegt, zunächst den mütterlichen Pol zu erfüllen und dem Vater den väterlichen. In der Praxis sind Vermischungen und Übergänge an der Tagesordnung. Oftmals werden die Rollen auch getauscht.

Solch ein Rollentausch kann situativ erfolgen, sodass ein Elternteil mal mehr jene, mal mehr diese Rolle spielt, oder es kommt, entsprechend der Persönlichkeitsstrukturen der Beteiligten, zu einem stabilen Rollentausch.

Archetypische Muster im Überblick

mütterlich väterlich

Das mütterliche Muster beantwortet die Bedürfnisse des Kindes, das auf Zugehörigkeit angewiesen ist. Das Kind wird als uneigenständig akzeptiert. Außer dass es da ist, hat es keine Bedingungen zu erfüllen, um bestätigt zu werden.

Das väterliche Muster beantwortet die Bedürfnisse des Kindes sobald dessen Impuls zur Selbstbestimmung anspringt. Selbstbestimmung strebt nach Eigenständigkeit. Eigenständigkeit hat zur Bedingung, dass man etwas kann.

Das mütterliche Muster erlaubt Passivität. Das Kind wird getragen und versorgt. Wenn Du vom Fahrrad gefallen bist, tröste ich Dich.

Das väterliche Muster setzt auf Aktivität. Das Kind wird beim Versuch, selbständig zu werden, ermutigt, geführt und aus der Führung entlassen. Komm, ich zeige Dir, wie man Fahrrad fährt.

Vom mütterlichen Muster wird das Kind behütet. Behütetsein bietet Schutz vor den Folgen eigenen Unvermögens.

Vom väterlichen Muster wird das Kind zur Selbstverteidigung ermutigt. Sich verteidigen zu können, bietet Schutz vor fremder Aggression.

Vom mütterlichen Muster wird das Kind festgehalten. Es kann sich daraus befreien.

Vom väterlichen Muster wird das Kind losgelassen. Es kann dem Ausgesetztsein standhalten, ohne daraus zu fliehen.


3. Einteilung gängiger Weltanschauungen

Weltanschauungen können nach ihrer Thematik eingeteilt werden. Da es zu Überlapp­ungen kommt, kann keine Einteilung als allgemeingültig gelten. Vier Kernthemen gängiger Weltanschauungen können unterschieden werden. Weltanschauungen sind...

  1. wissenschaftlich
  2. politisch
  3. philosophisch
  4. religiös
3.1. Wissenschaftliche Anschauungen
Solange der Einfluss politisch-religiöser Weltanschauungen im Zaum gehalten wird, entwickeln sich wissenschaftliche Anschauungen mit dem Fortschritt ihrer Disziplin. Aus tatsächlich religiösen Gründen wurde wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn noch niemals aufgehalten. Wenn etwas Erkenntnis verhindern will, dann ist das Politik.

Wissenschaftliche Anschauungen befassen sich mit der Systematik natur- und geistes­wissenschaftlicher Disziplinen. Ihr Kernthema ist die Struktur von Teilbereichen der physikalischen oder psychosozialen Wirklichkeit. Wissenschaftliche Anschauungen legen großen Wert auf die empirische Bestätigung ihrer Aussagen.

Bis Einstein nachwies, dass Zeitabläufe von der relativen Bewegung der Objekte zueinander abhängen, galt in der Physik das Weltbild Newtons. Man ging von der unabhängigen Existenz einer zeitlichen neben drei räumlichen Dimensionen aus.

Bis man am Harzhorn auf die Spuren einer römisch-germanischen Schlacht stieß, glaubte man, die Varusschlacht habe den römischen Zugriff auf das freie Germanien beendet. Jetzt sieht man die Dinge anders.

Die freudianischen Konzepte zur Bedeutung des Ödipuskomplexes waren von je her umstritten.

Bis vor kurzem teilte man die rund 3000 Termitenarten in sieben Familien ein. Jüngst hat man zwei neue Familien definiert: die Archotermopsidae und die Stolotermitidae. Außerdem rechnet man Termiten heute der Ordnung der Dictyoptera zu und benennt somit eine besondere Nähe zu den Schaben.

Bis Hubble 1923 nachwies, dass die Andromeda-Galaxie außerhalb der Milchstraße liegt, dachte man sich den Kosmos viel kleiner.

Der Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen Anschauungen und psychologischen Bedürfnissen ist unterschiedlich. Mal dürfte er bedeutungslos sein, mal erheblich. Ob sie Termiten den Schaben zuordnen oder einer eigenen Ordnung, hängt in der Regel kaum von der Psyche der Wissenschaftler ab, ob man freudianische Konzepte verteidigt oder verwirft, unter Umständen aber schon.

Bereits in den Kindertagen der Psychologie bildeten sich unterschiedliche Lager, die ihre jeweiligen Ansichten mit konfessionellem Eifer gegeneinander abgrenzten. Dabei traten ähnliche psychologischen Muster in Aktion, die bei jeder ideologisch bedingten Gruppenbildung wirksam sind.

3.2. Politische Anschauungen

Politische Anschauungen befassen sich mit dem Bezug sozialer Gruppen zueinander sowie dem Bezug des Einzelnen zum Staat. Sie beschreiben, was ist und geben vor, wie es sein soll. Sowohl bei der Bewertung gegenwärtiger Zustände als auch bei der Benennung politischer Ziele spielen psychologische Bedürfnisse eine erhebliche Rolle.

Falsche Väter
Das väterliche Prinzip wird über Kontinente hin­weg pervertiert. Statt individuellen Wachstums­impulsen ihrer Kinder einen sicheren Rahmen zur Entfaltung zu bieten, haben sich Väter, ermutigt von patri­archalischen Weltanschauungen, milliardenfach darangemacht, ihre Kinder für eigene Zwecke zu missbrauchen. Politisch mündet das verdrehte Muster in die rechte Diktatur. Falsche Väter versprechen Schutz. Tatsächlich schicken sie Söhne für expansive politische Ziele in den Tod.

Der Begriff patriarchalisch setzt sich aus griechisch pater [πατηρ] = Vater und archein [αρχειν] = herrschen zusammen. Er beschreibt nicht die väterliche Aufgabe des Schutzes, sondern ein Zugriffsrecht, das Vätern Kindern gegenüber eingeräumt wird. Da die natürliche Funktion der Vaterschaft in der Sicherstellung des kindlichen Gedeihens liegt, Herrschaft jedoch regelhaft dem Vorteil des Herrschers und nicht dem der Beherrschten dient, liegt dem patriarchalischen Denkansatz die Gefahr missbräuchlicher Entgleisung im Ansatz inne. Das Patriarchat an sich ist usurpierte Herrschaft. Rechtmäßig herrscht nur die Wahrheit.

In Europa spaltet sich das Spektrum politischer Weltanschauungen primär in ein linkes und ein rechtes Lager. Um das Zusammenspiel von Politik und Psychologie besser zu verstehen, macht es Sinn, zunächst das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und sozialer Bündelung aufzuzeigen. Die Bedeutung der Zugehörigkeits-Selbstbestimmungs-Polarität sowie die Ausrichtung an den archetypischen Mustern der Mutter-Kind- bzw. Vater-Kind-Beziehung kann dann durch eine Gegenüberstellung links- und rechts­extremer Weltanschauungen verdeutlicht werden.

3.2.1. Individualität und Bündelung

Die wesentliche Wasserscheide politischer Systeme liegt an der Grenzlinie zwischen Individualität und Bündelung. Politi­sche Weltanschauungen stellen entweder das Individuum in den Vordergrund oder die Gruppe. Systeme, die Gruppen zum systematischen Nachteil des Individuums in den Vordergrund stellen, können mit zwei weitgehend synonymen Begriffen bezeichnet werden:

  1. faschistoid
  2. kollektivistisch

Der Begriff Faschismus wurzelt im lateinischen fascis = Ruten­bündel. Kollektiv geht auf lateinisch colligere = einsammeln zurück. Soziologisch gesehen beschreiben beide Begriffe denselben Vorgang: Die Bündelung Einzelner zu Gruppen. Diese Bündelung hat drei Auswirkungen:

  1. Die Gruppe wird durch die Einbindung Einzelner gestärkt.
  2. Der Einzelne findet Schutz in der Gruppe.
  3. Die Gruppe entzieht dem Einzelnen Selbstbestimmungsrechte.

Das Grundmuster aller faschistoiden Weltanschauungen be­ruht auf der Beschneidung individueller Selbstbestimm­ungs­rechte zwecks Ermächtigung einer Gruppe und deren Führung. Weltanschauungen, die die Gruppe über den Einzelnen stellen, bedrohen dessen Freiheit. Sichtweisen, die das Individuum als solches vor kollektiven Machtstrukturen schützen, bewahren individuelle Freiheitsrechte.

Gemeinsam oder kollektiv
Nicht jede Weltanschauung, die Menschen mitein­ander teilen, ist kollektiv. Kollektiv ist eine Welt­anschauung, wenn sie das Aufsammeln der Ein­zelnen in den Korpus der Gemeinschaft program­matisch betreibt. Alle kollektiven Weltanschau­ungen sind faschistoid. Sie bündeln Menschen­gruppen zur Durchsetzung gesellschafts­politischer Ziele. Oft sind sie pseudoreligiös verbrämt.

Im Gegensatz dazu wird eine gemeinsame Weltanschauung von Menschen zwar geteilt, der Gleichklang der Ansichten ist aber keine Forderung der Gruppe, sondern die Gruppe ist Resultat der individuellen Freiheit ihrer Mitglieder, deren Denken zur gleichen Anschauung führt.

In der faschistoiden Gemeinschaft wird der Einzelne als Objekt behandelt, das sich unterzuordnen hat. In der freien Gemeinschaft bleibt er Subjekt, das über sich selbst bestimmt.

Der Gegenpol aller kollektivistischen Weltanschauungen ist die direkte Demokratie. Sie räumt jedem gleiche Rechte bei politischen Entscheidungen ein und verhindert dadurch die überproportionale Macht partieller Strukturen. Indem die repräsentative Demokratie Parteien, also Gruppen, mehr Einfluss verschafft, als der Gemeinschaft aller, verwirk­licht sie das demokratische Prinzip nur unvollständig.

Bündelung
Werkzeug zum Zweck oder idealisiertes Ziel

Kollektivismus und Faschismus werden oft als Gegensätze aufgefasst. Eine wesentliche Ursache dafür ist der Nationalsozialismus. Von einem Teil seiner Gegner wird er als Faschismus bezeichnet. Diese Gleichsetzung übersieht wesentliche Unterschiede.

Faschismus ist eine rationale Gewaltherrschaft zum Vorteil dominanter Schichten. Er ist reaktionär. Er versucht, bedrohte Privilegien einer bislang dominanten Schicht gegen Entwicklungen abzuschirmen, die ihren Vorrang infrage stellen. Dazu macht er das, was faschistoide Kräfte tun. Sie entrech­ten das Individuum zum Vorteil kampfbereiter Gruppen: der Polizei und des Militärs.

Faschismus bündelt zwecks schierem Machterhalt. Für ihn ist die Bündelung Werkzeug. In Ermangelung weiterführender Ziele beruft er sich auf die Nation, auf Recht und Ordnung oder die tradierte Religion.

Der Nationalsozialismus war im Gegensatz dazu eine irrationale Gewaltherr­schaft. Es mag sein, dass viele seiner Unterstützer ihn für einen Bewahrer alter Privilegien hielten, tatsächlich war er aber nicht reaktionär konservativ, sondern utopisch revolutionär. Er wollte keine alte Ordnung bewahren. Er wollte eine neue schaffen: die Weltherrschaft eines quasireligiös überhöhten Germanentums.

Für ihn war die faschistoide Bündelung daher nicht nur Werkzeug zum Zweck, sondern idealisiertes Ziel. Seine Triebfeder war die Erschaffung eines Bündels an sich. Seinen Namen hat der Nationalsozialismus richtig gewählt. Der Begriff Sozialismus idealisiert eine umfassende Bündelung aller, die den Einzelnen der Gruppe unterstellt. Der Begriff national idealisiert eine ethnische Zusammen­gehörigkeit. Er grenzt Unzugehörige aus.

Die Irrationalität des Nationalsozialismus, seine Utopie von der deut­schen Weltherrschaft und sein fanatischer Antisemitismus, hängen unauflöslich mit der Ideenwelt des Alten Testaments zusammen. Die Juden sollten vernichtet werden, weil sie im eschatologischen Geschichtsmodell der hebräischen Bibel den Platz innehatten, den nun der Nationalsozialismus für Deutschland in Anspruch nahm.

Es tut mir leid, dass ich wie Moses das gelobte Land nur aus der Ferne sehen kann.
(Hitler am 27.2.42 / Wolfsschanze)

Die irreführende Gleichsetzung von Faschismus und Nationalsozialismus ist ein Werk des Kommunismus, der den Begriff Sozialismus für sich in Besitz nehmen und nicht mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werden will. Auch der linke Kollektivismus idealisiert Bündelung an sich und stellt das Bündel über den Einzelnen. Darin ähnelt er dem Nationalsozialismus. Da er auf eine ethnische Begrenzung des idealisierten Bündels verzichtet, fehlt ihm die rassistische Komponente.

Die sozialistische Internationale definiert sich analog zur islamischen Umma als weltumspannendes Kollektiv all jener, die den vorgeblich einzig wahren Glauben verinnerlicht haben.

3.2.2. Psychologie der politischen Radikalität
Die Hoffnung der Linken ruht auf einer nährenden Mutter, die der Rechten auf einem mächtigen Vater, der sie zur Expansion ermutigt. Der Rechte will auf keinen Fall bevormundet werden. Der Linke will auf keinen Fall verlorengehen. Verunsicherte Menschen, denen es an Selbstwertgefühl mangelt, sind zum Teil für beide Muster empfänglich.

Der Widerstand gegen den Vertrag von Versailles, also die Fremdbestimmung durch die Sieger, war eine wesentliche Triebkraft beim Aufstieg des Nationalsozialismus.

Ein Wort kenne ich nie und werde es nie kennen... es heißt... Kapitulation, d.h. Ergebung in den Willen eines anderen - niemals, niemals!
(Hitler am 29.4.41 im Sportpalast)

Zum Spektrum politischer Ausrichtungen gehört ein polares Gegensatz­paar: Rechts- und Linksradikalität. Politische Ansichten werden in großem Maße durch psychologische Faktoren bedingt. Das trifft bei radikalen Positionen ebenso wie bei gemäßigten zu.

Eine wesentliche psychologische Grundlage des Gegensatzes zwischen Rechts- und Linksradikalität besteht in der Position der Beteiligten im Spannungsfeld des Psychologischen Grundkonflikts.

Der Psychologische Grundkonflikt setzt sich aus den Bedürfnissen nach Zugehörigkeit und Selbstbestimmung zusammen. Diese Bedürfnisse widersprechen einander. Der Konflikt, der daraus entsteht, ist ein Grundthema des menschlichen Daseins. Er verästelt sich in sämtliche Bereiche zwischenmenschlicher Beziehungen: also auch in die politischen Sichtweisen jedes Einzelnen.

Gegensätzliche Betonung psychologischer Bedürfnisse

Der Rechtsradikale... Der Linksradikale...
betont Selbstbestimmung. Wir sollten wir selbst bleiben. betont Zugehörigkeit. Wir sollten alle zusammenhalten.
fürchtet sich, fremdbestimmt zu werden. fürchtet, allein auf sich gestellt, verlorenzugehen.
wünscht sich einen mächtigen Vater, der ihn gegen Fremdbestimmung verteidigt. sieht die Gesellschaft als nährende Mutter, die ihn umfassend versorgt.
findet Zugehörigkeit, indem er sich einer Gemeinschaft anschließt, der er gehorcht. sucht Selbstbestimmung, indem er im Schoß der Gemeinschaft auf Eigenständigkeit pocht.

Politische Radikalismen benennen zwei Themen, die von psychologischer und sozialer Bedeutung sind. Dass den Themen durch die Radikalität, mit der sie vorgetragen werden, eine übertriebene Bedeutung zugesprochen wird, von der massive Gefahren ausgehen, macht die Benennung der Themen nicht grundsätzlich falsch.

Viele werten das Anliegen der einen oder anderen Radikalität als reine Verirrung ab. Dabei wäre es besser, sich von der Illusion zu befreien, nur man selbst sei in der Lage, Probleme zu erkennen. Besser gäbe man den Glauben auf, dass jeder, der auf Probleme hinweist, die man selbst nicht sieht, etwas benennt, was man getrost ignorieren kann.

Eine kluge Politik hört auch die Signale der Radikalität. Sie nimmt ihr durch Ausgleich den Wind aus den Segeln, damit es radikalen Kräften niemals mehr gelingt, die Macht zu ergreifen. Die Geschichte sollte uns eine Lehre sein.

Reisefreiheit
Es ist kein Zufall, dass linke Diktaturen die Reisefreiheit eher einschränken als rechte... und dass rechte Diktaturen selbst gemäßigt linke Strömungen brutal unterdrücken. Linke Diktaturen träumen von einem Mutterstaat. Die Gesellschaft wird als umfassende Mutter aufgefasst, die ihre unmündigen Kinder durch Fürsorge glücklich macht. Zur Mutter-Kind-Beziehung gehört das Festhalten, worauf die rechte Phantasie phobisch reagiert; besonders dann, wenn ihrem Selbstbestim­mungsanspruch durch eigene Bindungssehnsüchte widersprochen wird, die sie sich selbst nicht eingesteht. Eine Mutter, die sich einseitig mit ihrer Mütterlichkeit identifiziert, bremst die Selbständigkeit ihrer Schutzbefohlenen vorsorglich aus. Sie hat kein Interesse daran, dass Hänschen klein woanders ein Glück findet, das die Herrschaft der guten Mutter infrage stellt.

Auch jenseits der politischen Radikalität spielen die archetypischen Beziehungsmuster eine wesentliche Rolle. Die linke Phantasie sagt: Alle gehören zusammen... also weg mit den Grenzen. Die rechte Phantasie sagt: Man wird doch wohl noch über sich selbst bestimmen dürfen. Also her mit den Grenzen. Es gilt, den Mittelweg zu finden, der die Zugehörigkeitsbedürfnisse der einen mit dem Selbstbestimmungs­anspruch der anderen versöhnt.

3.2.3. Rassismus
Gene haben uns zur Spezies gemacht. Individualität macht uns zu Menschen. Wer zur Behauptung seines Rangs auf Gene verweist, hat sein Menschsein nicht verstanden.

Seele verweist auf die Zugehörigkeit des Teils zum Ganzen. Sie symbolisiert die Ebenbürtigkeit aller aus dem Fundus des absoluten Selbst. Da der Rassist andere kategorisch ausschließt, verstößt er gegen die tiefste Ebene seiner selbst. Einen seelisch gesunden Rassisten gibt es daher nicht.

Ungestört in sich selbst verankert sein kann der Mensch nur, wenn er alle rassistischen Vorstellungen aufgibt.

Eine besondere Thematik politischer Radikalität ist der Rassismus. Obwohl keineswegs jede rechte Gesinnung rassistisch ist, ist seine Zuordnung zum rechten Spektrum folgerichtig. Während die radikal linke Vorstellung ihr Zugehörigkeitsbestreben in die Utopie einer Internationalen investiert und meint, Brüderlichkeit sei das zukünftige Produkt von Befehlen, die eine selbsternannte Avantgarde formbaren Massen erteilt, sucht der Rassist die Absicherung seines Selbstwertgefühls durch den Hinweis auf seine Zugehörigkeit zum ausgrenzenden Horizont einer ethnisch definierten Gruppe.

Gewiss: Der Rassist behauptet, dass sich die Gruppe, der er angehört, durch überlegene biologische Merkmale über andere Gruppen erhebt. Der Rückgriff auf biologische Merkmale zur Absicherung seines Selbstwertgefühls ist jedoch - ungeachtet seiner fehlenden Wissenschaftlichkeit - von vorn herein zum Scheitern verurteilt, weil sich der Rassist durch seine Argumentation selbst vom Individuum zum Exemplar einer Spezies herabsetzt.

Da der besondere Wert des Menschen, im Gegensatz zum Wert des bloßen Tiers nicht in seinen Genen, sondern in seiner Individualität zum Ausdruck kommt, ist seine Herabsetzung zum Exemplar einer Spezies nicht nur kategorisch inhuman, sie verfehlt auch, worin menschlicher Selbstwert überhaupt verankert werden kann.

Die Herabsetzung des Individuums zum Exemplar ist zugleich Folge einer schweren Selbstwertstörung als auch deren Ursache. Rassismus führt daher nie zu seelischer Gesundheit auf der Grundlage eines eigenständigen Selbstwertgefühls, sondern zu fortgesetzter Selbstkränkung, deren Schmerz im nächsten Schritt projektiv anderen angelastet wird. Rassismus ist ein Teufelskreis des pathologischen Narzissmus. Er entwürdigt den, der ihn zur Bestätigung seiner Würde propagiert.

3.3. Philosophische Anschauungen

Philosophische (griechisch philosophia [φιλοσοφια] = Liebe zur Weisheit) Anschau­ungen befassen sich mit zwei Themen:

  1. dem Aufbau und der logischen Struktur der Wirklichkeit als Ganzes
  2. der sinnvollen Ausrichtung des Menschen gegenüber der als Diesseits gedachten Wirklichkeit

Was die Existenz eines Jenseits betrifft, bleibt reine Philosophie agnostisch (griechisch a-gnoein [αγνοειν] = nicht wissen, nicht erkennen). Sie geht davon aus, dass man über das Jenseits keine verwertbaren Erkenntnisse gewinnen kann; weder darüber, ob es existiert noch wie es im Falle seiner Existenz beschaffen wäre. Deshalb beschränkt sie ihre Anschauungsbilder auf jenen Teil der Wirklichkeit, den sie erkennt oder für grundsätzlich erkennbar hält: das Diesseits.

Jenseits des persönlichen Todes
Die Aufteilung der Wirklichkeit in Diesseits und Jenseits fragt danach, ob das Selbst der Person jenseits ihres Todes an einer erfahrbaren Wirklichkeit teilhat. Nur wenn das Selbst nach dem Tod der Person an der Wirklichkeit teilhat, hat dieses Jenseits eine tiefere religiöse Bedeutung.

Für den, der davon ausgeht, dass das Selbst mit dem Tod der Person endet, hat die Frage nach dem Jenseits nicht mehr Belang als die Frage nach dem Schicksal. Selbst wenn er an die Existenz einer göttlichen Sphäre glaubt, die jenseits der irdischen liegt, hätten Auswirkungen von dort denselben Charakter wie die einer mächtigen Aristokratie, die von jenseits unüberwindlicher Palastmauern auf ihre Untertanen einwirkt.

Ob die unüberwindliche Palastmauer aus Stein oder dem Tod besteht, macht keinen Unterschied. In jedem Fall könnte es für den Untertanen für die Dauer seiner irdischen Existenz von Nutzen sein, den Gottkönig zu preisen und sich ansonsten Duckes zu halten. Mit dem Tod könnte er aber alle Götter von sich abschütteln. Ein Jenseits, in das man nie eingeht, wäre nicht mehr als die Quelle eines Schicksals, das man von irgendwoher verpasst bekommt.

Philosophische Weltanschauungen dienen der existenziellen Positionierung Einzelner. Wer nach philosophischen Anschauungsbildern fragt, sucht nach Leitlinien, entlang derer er sein Leben ausrichten kann; im Allgemeinen gegenüber der Existenz als solcher, im Besonderen gegenüber der sozialen Realität, der er begegnet.

Typisch philosophische Fragen

Auch philosophische Weltanschauungen neigen zu Streit und Parteien­bildung. Stoiker, Epikureer, Sophisten, Kyniker, Existenzialisten, Hegelianer und andere führen Wortgefechte miteinander aus. Obwohl die psycholo­gischen Grundbedürfnisse ebenso wie die Frage des Selbstwerts mit typisch philosophischen Fragen verwoben sind, kommt Parteienstreit im Reich der reinen Philosophie aber kaum je mit der gleichen pathologischen Wucht zum Zuge, wie es zwischen konfessionellen Weltanschauungen zu beobachten ist.

Niemand hat je von einer Existenzialistengruppe gehört, die sich feste Rituale verordnet hat und es sich auf ihre Fahnen schrieb, dem Existenzialismus unter Ausrottung der Stoiker, der Epikureer und der dreimal verfluchten Häretikerbande im Gefolge von Leo Isaakowitsch Schestow die weltumspannende Anerkennung als einzig vertretbare Lehrmeinung zu verschaffen.

3.4. Religiöse Anschauungen

Religiöse Anschauungen befassen sich ebenfalls mit der Struktur der Wirklichkeit als Ganzes. Im Gegensatz zu den philosophischen Anschauungen setzen religiöse die Existenz eines Jenseits voraus, an der der Einzelne teilhaben wird.

Dadurch gewinnt die religiöse Weltanschauung gegenüber der philosophischen größere Brisanz. Wenn der Tod nicht das Ende des Selbst ist, schrumpft und wächst die Bedeutung des Diesseits dramatisch. Die Bedeutung schrumpft, weil das Wesentliche erst später kommt und sie wächst, weil das Diesseits als Vorbereitung auf das Wesentliche wesentlich an Bedeutung dazugewinnt.

Da die diesseitige Existenz begrenzt ist, ist die jenseitige im Falle einer seelischen Unsterblichkeit folgerichtig als unbegrenzt zu denken. Dadurch bekommen Fragen nach Zugehörigkeit, Selbstbestimmung und Selbstwert elementare Bedeutung.

Das Jenseits im Blick von Religion und Philosophie
Philosophie Religion

Da man über das Jenseits nichts wissen kann, macht es keinen Sinn, sich darauf auszurichten. Entweder es gibt kein Jenseits oder sein Wesen bleibt völlig im Dunkeln, sodass man nicht wissen kann, welche diesseitige Ausrichtung des Verhaltens das Wohl im Jenseits fördern könnte.

Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es ein Jenseits gibt, in dem das Selbst des Einzelnen nach dem Tod der irdischen Person Wirklichkeit erfahren wird. Da diesem Jenseits große Bedeutung zukommt, ist es sinnvoll, das diesseitige Leben so auszurichten, dass es dem Selbst im Jenseits gut ergehen wird.

Da man über das Jenseits grundsätzlich nichts sagen kann, beschränkt man weltanschauliche Bilder aufs Diesseits.

Über das Jenseits ist etwas in Erfahrung zu bringen: durch Meditation, logische Schlussfolgerung oder Selbsterkenntnis; alternativ dadurch, dass man sich auf Jenseitsbeschreibungen anderer verlässt, zum Beispiel sogenannter Propheten, die von sich behaupten, über unmittelbare Informationen oder Anweisungen aus dem Jenseits zu verfügen.

Sinnvollerweise richtet man sein gesamtes Verhalten auf günstige Effekte im Diesseits aus.

Da dem Jenseits große Bedeutung zukommt, sind vorläufige Effekte des Handelns im Diesseits zweitrangig.

3.5. Mischformen und Übergänge

Die grundsätzliche Aufteilung der Weltanschauungen ist leicht formuliert. In der Praxis sind Übergänge, Mischformen und wechselseitige Beeinflussungen die Regel.

Psychologische Bedürfnisse
Themenfeld Zusammenhang
wissenschaftlich (+)
politisch ++
philosophisch (+)
religiös ++

4. Krankhafte Zuspitzungen

Zwei weltanschauliche Themenfelder sprechen das Bedürfnispaar des Psychologischen Grundkonflikts und die narzisstische Frage nach dem Selbstwert besonders an: Politik und Religion.

In der Politik geht es um unmittelbare Vorteile und Rangordnungen, in der Religion um solche von transzendenter, also von alles über­schreitender Bedeutung.

Es ist leicht nachzuvollziehen, warum die Psyche bei politischen Polarisierungen schnell aus dem Gleichgewicht gerät und sich mit pathologischer, also leidstiftender Aggression auflädt. Es steht viel auf dem Spiel: Zugehörigkeit, Selbstbestimmung, Macht und Unterwerfung, Wert und Entwürdigung.

Echte Religion hat mit Politik kaum etwas zu tun. Echte Religion befasst sich mit der Position des Einzelnen im Universum. Dabei werden die Fragen nach Zugehörigkeit, Selbstbestimmung und Selbstwert mit maximaler Konsequenz formuliert. Die konse­quente Formulierung der Fragen birgt bei reiner - also mystischer - Religion nicht das Risiko einer krankhaften Entgleisung. Sie bietet die Chance einer heilsamen Antwort.

Wird Religion mit Politik vermengt, wie es bei den politisch-religiös ausgerichteten konfessionellen Religionen des abrahamitischen Kulturkreises der Fall ist, aber auch bei der Kastenlogik des Hinduismus oder dem Staats-Shintō im Zuge des japanischen Imperialismus, kommt es zu einer problematischen Vermischung weltanschaulicher Felder und damit zu einer Potenzierung des Risikos für psychische Entgleisungen. Politik ist keine Religion. Politik ist deren Missbrauch. Wo religiöse Motive für politische Ziele missbraucht werden, werden fundamentale seelische Mechanismen gestört. Greift eine religiöse Lehre nach politischer Macht, beschränkt sie genau die Freiheit, die wahrer Religion zugrunde liegt.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.
** Der Koran, (Komet-Verlag, ISBN 3-933366-64-X), Übersetzung von Lazarus Goldschmidt aus dem Jahr 1916.