Die Gegensatzpaare gut und böse bzw. gut und schlecht spielen bei der psychosozialen und religiösen Ausrichtung eine große Rolle. Die Untersuchung der Begriffe erhellt dynamische Zusammenhänge, die zwischen den jeweiligen Paaren bestehen. Zugleich fördert sie Erkenntnisse über die Struktur der Wirklichkeit zutage.
Gut geht auf die indoeuropäische Wurzel ghedh- = umklammern, zusammenfügen, zupassen zurück. Zur selben Wurzel gehören die Begriffe Gitter, Gatter und Gatte. Das Gute ist das, was in ein übergeordnetes Gefüge passt. Ohne Übergeordnetes, zu dem es sich zusammenfügt, gibt es nichts Gutes. Zuletzt kann Gutes nur gut sein, wenn es Heiliges gibt.
Die Begriffe Gitter, Gatter und Gatte weisen auf verschiedene Aspekte des Guten hin. Das Ganze, zu dem sich das Gute zusammenfügt, ist für das Gute ein schützendes Gatter. Zugleich kann das Ganze für das Gute, das es umklammert, aber auch ein beengendes Gitter sein. Das Gute ist untergeordnet. Es hängt von dem ab, dem es dient. Das Gute kann nur gut sein, wenn es etwas gibt, zu dem es passt. Diese Abhängigkeit wird auch im Begriff des Gatten sichtbar. Gatte kann nur sein, wer das passende Gegenüber zu sich findet. Ehegatten, die nicht gut füreinander sind, führen inhaltlich keine Ehe. Gatten ergänzen sich nur im Guten zu dem, was tatsächlich Ehe ist. Paare können auseinandergehen, wenn aus Heirat keine Ehe wird.
Das Gute kann nur dann ohne Beengung gut sein, wenn das Übergeordnete, zu dem es sich verbindet, es in seinem Sosein anerkennt und zu sich in die Höhe hebt. Ein Heiliges, dass das Gute verformt, damit es ihm dient, gibt es nicht. Heiliges kann nur heilig sein, wenn es das Gute, aus dem es besteht, frei lässt.
Böse gehört zur Wortgruppe um pusten. Böse heißt eigentlich: aufgeblasen, geschwollen. Das Böse fügt sich nicht ein. Es verdrängt, indem es sich auf Kosten des Umfelds erweitert ohne sich dem Umfeld im Guten anzupassen. Das Böse ist das, was sich mehr Raum nimmt, als seiner Bedeutung zukommt und dabei anderes missachtet. Das Böse verbindet sich nicht zu Höherem. Es versucht, nach oben zu kommen, indem es erniedrigt.
Obwohl gut, böse und schlecht sprachlich weit entfernten Wurzeln entstammen, stehen sie bei der Bewertung psychosozialer und religiöser Bezüge in enger Beziehung. Dabei sind zwei Ebenen zu betrachten:
Während das tatsächlich Gute das ist, was sich in ein übergeordnetes Ganzes fügt und durch sein Gutsein dem Ganzen dient, ist das Ungute logischerweise das, was den Aufbau des Ganzen behindert. Gut ist relativ. Es bezieht sich auf die Notwendigkeiten jenes Ganzen, von dessen Standpunkt her es als gut beurteilt wird.
Gefüge sind in Bewegung. Strukturen, die heute zusammenpassen, werden morgen zugunsten neuer Ordnungen aufgelöst. Gut und ungut hängen im Zeitverlauf von Strukturen ab, die entstehen und vergehen; und deren eigenes Gutsein im Zeitverlauf Wandlungen unterzogen ist.
Der Einzelne ist der einzige, der begrifflich über Gut und Böse urteilen kann. Die Sichtweise des Einzelnen ist in der Regel perspektivisch verzerrt, da es ihm kaum je gelingt, die Bedeutung seines persönlichen Vorteils objektiv zu betrachten. Fast immer überschätzt er sie... und hält in der Folge das für gut, von dem er glaubt, dass es seiner Person nützlich ist. Tatsächlich wird seinem Handeln dadurch etwas Böses beigemischt.
Wie viel Böses beigemischt wird, hängt davon ab, womit sich das Ich identifiziert. Subjektiv mag es sich als Person wichtig vorkommen und instinktiv danach handeln. Objektiv ist es das nicht. Die Selbstüberschätzung der egozentrischen Sichtweise und der daraus resultierende Anspruch, sich aufzublähen, macht zu Recht das Merkmal des Bösen aus, das Religionen dem Ego zuschreiben. Dualistische Religionen versuchen, das Böse abzuspalten. Mystik überschreitet es.
Was ist gut? heißt immer: Was ist gut wozu? Das sogenannte Gute kann schlecht sein, wenn es einem Teil dient, der Ganzheit vorgibt, ohne das Ganze zu sein. Das Ganze ist nie das, was beugt. Was beugt, ist stets nur Teil, der sich über anderes zu erheben versucht. Das Heilige versucht sich über nichts zu erheben. Es ist über alles erhaben. Das Heilige kann alles aufrecht stehen lassen, weil ihm nichts etwas abhaben kann.
Während das Wesen des Guten in seiner Fähigkeit liegt, gemeinsam mit anderem Höheres aufzubauen, wird das Ungute im Gegensatz dazu durch Aspekte bestimmt, die in den Begriffen böse und schlecht zum Ausdruck kommen.
Böse zu sein heißt sich aufzublähen. Böse zu sein bedeutet, dem Eigeninteresse mehr Raum zuzumessen, als ihm zukommt, sodass der Vorteil anderer oder das Ganze durch Anmaßung Schaden nimmt. Dabei kann das Böse in zwei Ausprägungen vorkommen:
als fahrlässig Böses, das fremden Schaden billigend in Kauf nimmt oder ihn gar nicht bedenkt.
Während das vorsätzlich Böse beim Täter meist spürbare psychopathologische Strukturen voraussetzt, gehört Fahrlässigkeit so zum Repertoire des normalen Verhaltens, dass sie einen Großteil aller Beziehungsprobleme und gesellschaftlichen Verwerfungen ausmacht. Ist mir doch egal ist weit häufiger als Das wird er bereuen.
Authentizität
Gut sein zu wollen kann Ausdruck des Bösen sein, wenn es dem eigenen Vorteil dient und sich nur zum Schein ins Ganze fügt. Nur ein Sosein, das keiner Absicht unterliegt, die es selbst erhöht, kann vollgültig gut sein. Was sich verstellt, nimmt den Schaden des Ganzen fährlässig in Kauf, weil es eine Stelle in Anspruch nimmt, die es nicht ausfüllt.
Da man dem eigenen Interesse nur dann schuldhaft mehr Raum zumessen kann, als ihm zusteht, wenn man in der Lage ist, zu sehen, was das Maß übersteigt, setzt das Böse die Fähigkeit voraus, sich selbst zu erkennen. Jenseits dieser Fähigkeit kommt es nicht vor. So kann das Gute zwar gut sein, ohne verstehen zu können, dass es so ist, böse kann aber nur sein, was sich den Unterschied zwischen Gut und Böse bewusst machen kann.
Reißt ein Kind einer Fliege zum Spaß die Beine aus, glauben wir nicht, dass es böse ist. Wir halten es für unwissend. Wir gehen davon aus, dass es das Lebendige an sich nicht als Teil einer übergeordneten Sphäre des Lebens erkennt, dem die Fliege ebenso wie es selbst als dazu passend angehört. Tut ein Erwachsener das gleiche, deuten wir seine Taten als Bosheit.
Zum Glück glaubt heute kaum noch jemand, der Wolf sei böse, weil er Rehe reißt. Im Kontext der Natur ist der Wolf gut; ebenso wie das Reh. Beide passen in ein Ganzes. Der Wolf ist ein Beschützer des Waldes vor dem Verbiss durch die Rehe. Damit schützt er auch deren Lebensraum.
Das Böse wird gut, sobald es seine Anmaßung erkennt. Das Gute bleibt gut, selbst wenn es von seinem Gutsein nichts weiß.
Offensichtlich oder verdeckt
Böses kommt in zwei Erscheinungsformen vor: offensichtlich oder verdeckt.
Das offensichtlich Böse rückt sichtbar gegen seine Beute vor. Es tötet, raubt und macht nieder. Sein Vorsatz, sich auf Kosten anderer auszudehnen, ist so unverblümt, dass er kaum zu übersehen ist.
Das subtil Böse wirkt überall dort, wo der eine das Verhalten eines anderen zu seinem Vorteil zu manipulieren versucht. Die Werkzeuge der Manipulation sind Aussagen, Bemerkungen, Informationen, Mimik und Gesten, deren Zielsetzung es ist, die Selbstbestimmung des Gegenübers zu untergraben und so den Einflussbereich des eigenen Egos ins Hoheitsgebiet anderer auszudehnen. Solche Absichten können bewusst oder unbewusst ausgeführt werden. Oft sind sie als neurotische Muster im Repertoire des alltäglichen Verhaltens verankert.
Verdeckt expansiv kann die Absicht sein, andere einzuschüchtern, zu entmutigen, moralischen Druck auszuüben, ihnen Schuldgefühle zu vermitteln, sie zu beeindrucken, sie zu Taten gegen Dritte anzustiften oder ihnen Sichtweisen einzupflanzen, die der eigenen ähnlich sind.
Verdeckt expansiv, und damit im Grundsatz böse, können aber auch Manöver sein, die auf den ersten Blick kaum je als böse gelten: sich bei anderen beliebt zu machen. Wer sich bei anderen beliebt macht, damit sie zu seinem Vorteil handeln, verfolgt unter dem Deckmantel der Liebe eine böse Strategie. Sie heißt Bestechung.
Nur wer sich auch des Bösen enthält, das in der Banalität des alltäglichen Austauschs verborgen liegt, setzt sich und andere frei. Das Böse ist stets Gefangenschaft auf engem Raum. Wer sich aufbläht, erhöht den Druck in seinem Inneren. Wer gefangen nimmt, wird von sich selbst gefangen sein.
Vom Nutzen der Widrigkeit
Das Individuum wird als Person aus dem Konflikt mit den Widrigkeiten der Welt herausgeboren. Es bezieht seine Position im Gegensatz zu dem, was es als schlecht oder böse erlebt. Ohne die Widrigkeit der Welt bliebe es Embryo im Mutterschoß.
Wenn er sich selbst, also den wahren Pol seiner Individualität, entdeckt hat, braucht der Einzelne keine Widrigkeit mehr, durch deren Ausgrenzung er seine Identität zu finden glaubt. Dann kann er sich über die Widrigkeit der Welt erheben, weil er versteht, dass sein Kern von je her über der Widrigkeit steht.
Das Schlechte ist ein Werkzeug des Bösen. Das Schlechte glättet seine Kanten und schleicht sich ein. Schlecht zu sein bedeutet, nicht wirklich zu passen, sondern zum eigenen Vorteil so zu tun, als ob man es täte.
Wohlgemerkt
Es gibt einen Unterschied zwischen anschleichen und einschleichen. Die Schlange schleicht sich an. Das ist Ausdruck ihres Wesens. Sie schleicht sich nicht ein, weil ihr Anschleichen nicht ihr wahres Wesen ummäntelt. Daher ist das Anschleichen der Schlange weder böse noch schlecht. Sich einzuschleichen ist ein geplanter Akt des Schlechten, bei dem es sich mit Berechnung unkenntlich macht. Wenn die Schlange sich anschleicht, täuscht sie die Beute nicht. Sie überrascht sie bloß. Das tatsächlich Schlechte täuscht über sein Wesen hinweg.
Auch das Schlechte setzt Bewusstheit voraus. Im Gegensatz zum offensichtlich Bösen, das den anmaßenden Charakter seiner Aufblähung nicht verbirgt, gehört zum Schlechten Berechnung. Das Böse ist erkennbar rücksichtslos, das Schlechte tut so, als sei es das nicht. Das Böse bricht durch die Tür und raubt. Das Schlechte kriecht durch die Ritzen und stiehlt.
Weil zum Schlechten Täuschung gehört, weiß das Schlechte von seiner Schlechtigkeit. Es kann sein Wissen darüber erst in einem zweiten Schritt übergehen; zum Beispiel durch rationalisierende Urteile, die seinen Betrug scheinbar rechtfertigen. Das Schlechte nimmt gerne die Rolle des Opfers ein, um von dort aus ein Täter zu werden, dem man nichts vorwerfen kann.
Was innen liegt, wird mit dem Etikett mein beklebt und was ihm als seines erscheint, wird vom Ego beschützt. So kommt es, dass zu den mächtigsten Übeltätern, die das Glück verhindern, oft nicht die Schlechtigkeit gehört, die aus anderen heraus wirkt, sondern das Schlechte, das innen umherschleicht. Dort liegt es als irrige Vorstellung vor, als Glaube, der Sie angeblich zu etwas Besserem macht, als Meinung, die Sie für unverzichtbar halten, als ewig gleiches Muster, Vergangenheit und Gegenwart zu deuten, als gewohntes Gefühl, das Sie steuert. Das Schlechte kann ein Introjekt sein, das man längst geschluckt hat oder eine eigene Absicht, die man zum Guten verklärt.
Wenn Sie frei sein wollen, werfen Sie alles hinaus, was Sie innen in Knechtschaft hält. Eine Idee, die Ihnen nicht wirklich guttut, ist wahrscheinlich eine Idee, die nicht gut ist. Unterscheiden Sie zwischen inneren Mustern, die Ihr Ego stärken und solchen, die heilsam sind. Schlechte Muster schleichen sich in Ihr Selbstbild ein, gute lösen es im Ganzen auf.
Da das Ganze sein Werden umfasst, sind Gut und Böse nicht nur Gegensätze, die miteinander ringen. Im Werden bedingen und bedürfen sie einander. Das Gute bedarf des Bösen um sich seiner zu besinnen. Wer Böses nicht erlebt hat, kann sich nicht dazu entscheiden, gut zu sein. Wo das Gewordene endgültig ist, gibt es nur noch eins.
Da Gutes seinem Wesen gemäß zusammenpasst, fügt es sich zu einer Einheit. Das Heilige kann nur aus dem bestehen, was von ihm als gut beurteilt wird. Zum Wesen des Guten gehört der Drang zum Heiligen, weil sich sein Wesen nur im Heiligen vollenden kann.
Das Böse ist eine Erscheinung des Werdens. Durch das Werden wird es in ein insgesamt Gutes eingefasst. Das Böse muss vergänglich sein, weil es dem Heiligen sonst nicht dienen könnte.
Wechselwirkungen
Das Böse wird besonders böse, wenn das Gute sich besonders gut gefällt. Nirgendwo kann sich Eitelkeit besser verstecken als hinter einem Gutsein, das das Gutsein betreibt, um sich selbst zu gefallen. Eitel Gutes kann Bitterböses nach sich ziehen.
Da sich nur Gutes in ein Ganzes vereinen kann und da das Ganze über seinen Teilen steht, ist das Gute dem Bösen überlegen.
Das Heilige schließt nichts aus, weil es sonst sein Heilsein verfehlt. Es ordnet allem den Platz zu, an dem es nicht verlorengeht.
Das Heilige besteht aus dem Guten, das sich zu ihm zusammensetzt, ohne dass die Summe des Guten das Heilige bereits ausmacht. Zum Heiligen gehört ein Jenseits-des-gut-seins, weil das Gutsein ein Passen ist und es jenseits des Heiligen nichts gibt, zu dem es passen könnte.
Während das Gute ausschließlich gut sein kann, kann das Böse nie ausschließlich schlecht sein, weil es Teil des Ganzen ist und deshalb im Ganzen auch dann zu etwas gut ist, wenn es nicht passen will und das Ganze bekämpft.
Da die Person ihren eigenen Vorteil betreibt, hat der Mensch die Freiheit, böse zu sein. Da das Wohl der Person mit dem Wohl des Ganzen unauflösbar verwoben ist, ist der Vorteil, der durch Böses kurzfristig erreicht wird, langfristig von Nachteil. Trotz der Freiheit, böse zu sein, überwiegt im Menschen der Drang zum Guten. In Wirklichkeit kann er nicht anders, weil er als Teil ganz werden will und zum Ganzen nur der Weg über das Gute führt.
Im Prinzip kann das Böse endlos kämpfen, endgültig siegen kann es nicht.
Zum Wesen des Heiligen gehört, den Platz des Bösen so zu bestimmen, dass das Böse von dort aus schließlich Gutes bewirkt.
Nur ein Eigensinn, der keiner Einschränkung unterworfen ist, kann tatsächliches Gutsein verkörpern.
Gruppendynamik
Der Mensch lebt in Gemeinschaften. Die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe setzt meist eine Anpassung an deren Regeln voraus. Anpassung heißt: Der Einzelne hat in den Augen seiner Gruppe gut zu sein. Innerhalb der Gruppe sollte er auf Bosheit verzichten; also darauf, sich zum Schaden der Gemeinschaft breit zu machen. Durch den Beitritt zu einer Gruppe, die gut zu sein fordert, ist das Potenzial des Bösen aber nicht aus der Welt geschafft. In der Regel wird der Anspruch, sich aufzublähen, an die Gruppe abgetreten. Das führt dazu, dass Gruppen, die Zugehörigkeit überwertig vertreten, nach außen hin expansiv und verdrängend sind. Das Böse, das sich im Inneren auf keinen Fall zeigen darf, rechtfertigt nach außen hin jedes Mittel.
Dass sich das Böse im Inneren auf keinen Fall zeigen darf, heißt nicht, dass es nicht auch dort seine Wirkung hat. Die Wirkung zeigt sich als Anpassungsdruck, den die Gruppe auf den Einzelnen ausübt. In der Gruppe der ausdrücklich Guten gibt es ein gemeinsames Böses, das den Einzelnen zum Vorteil der Gruppe bedrängt.
Böses kann Bindungen lösen, in denen das Gute unterworfen ist. Weil zum Heiligen ein Gutes gehört, das als Gutes vom Heiligen nicht zum Gutsein gezwungen wird, sondern in freier Entscheidung das Gutsein wählt, kann Böses, das Gutes aus der Unterwerfung befreit, dessen Mittel sein. Das Böse selbst kann aber nur zu etwas wahrhaft Gutem werden, wenn es seine Bosheit ebenfalls aus freien Stücken aufgibt. Die Freiheit des Guten geht ins Heilige über. Die Freiheit des Bösen ist Gefangenschaft. Es kann sich aus eigener Kraft aus sich erlösen.
Das Heilige kann nicht nur aus Gutem bestehen, das nur gut ist, weil es dem Befehl des Heiligen, gut zu sein, folgt. Ein Gutes, dessen Gutsein bloß dem Befehl dazu folgt, ist ein Schlechtes, das sein Sosein zum eigenen Vorteil wählt; statt das Heilige tatsächlich vorzuziehen.
Damit Freiheit zum Wesen des Ganzen gehört, muss es ein Gutes gestatten, das zum Gutsein nicht mehr verpflichtet ist. Ein solches Gutes ist eines, das böse sein kann, das weder zum Gutsein verführt, noch bestochen oder erpresst wird. Es ist ein Gutes, das weder durch Äußeres noch eigenes Gutsein als Gutes festliegt. Das endgültige Gutsein ist kein bestimmtes Sosein, sondern die Möglichkeit, aus der heraus es wählen kann. Gutes gedeiht in Erkenntnis, Böses bedarf der Verblendung.
Die Frage, wann der Mensch in den Augen seiner selbst und anderer als gut gilt, spielt eine große Rolle. Um Antworten zu finden, macht es Sinn, sich das grundsätzliche Wesen des Gutseins erneut vor Augen zu führen. Gut zu sein heißt, zu etwas zu passen.
Zwei Arten des Gutseins
Existenziell | Sozial |
Ich passe zu mir selbst. | Ich passe zu den anderen. |
Das existenzielle Gutsein kann seinerseits in zwei Aspekte unterteilt werden:
Bei der Bewertung des Gutseins zählt in sozialen Gemeinschaften letztendlich, was der Einzelne tut. Gefragt wird: Passt sein Verhalten? Wird aber gefragt, ob ein Verhalten passt, ergibt sich die nächste Frage zwingend: Wozu soll es passen? Darauf kann es zwei grundsätzliche Antworten geben.
Das Verhalten passt zum individuellen Wesen dessen, der es ausführt. Dann ist der Handelnde authentisch. Dieses Gutsein beruht auf der Passgenauigkeit zwischen persönlichem Verhalten und reflektierter Überzeugung. In diesem Sinne ein guter Mensch zu sein, kann zu individuell unterschiedlichen Sicht- und Verhaltensweisen führen.
Das Verhalten passt zu einer Übereinkunft, die von den bestimmenden Kräften der Bezugsgruppe als Leitschnur moralischen Verhaltens angesehen wird. Dieses Gutsein beruht auf der Passgenauigkeit zwischen persönlichem und sozial erwünschtem Verhalten. Ein derart definiertes Gutsein führt zu einer Vereinheitlichung von Sicht- und Verhaltensweisen.
Ob die Treue zu sich selbst oder die Anpassung an soziale Normen bei der Bewertung des Gutseins überwiegt, ist kaum verbindlich festzulegen. Es muss von Fall zu Fall entschieden werden, weil die Welt, zu der der Einzelne gehört, zugleich er selbst ist.
Auch das Verhalten des Menschen kann nur gut sein, wenn es zu seinem Wesen passt. Worin liegt aber die charakteristische Wesensart des Menschen? Doch darin, dass der Einzelne beim Menschen kein Exemplar, sondern Individuum ist. Deshalb kann der Mensch nur gut sein, wenn er die Passgenauigkeit zwischen Verhalten und persönlicher Überzeugung über die zwischen persönlichem und sozial erwünschtem Verhalten stellt. Der Mensch dient seiner Art, wenn er das Individuum gegen die Übermacht der Mehrheit schützt.
Im Gegensatz zum Exemplar, das nichts davon weiß, dass es exemplarisch ist, ist sich das Individuum seiner Individualität bewusst. Exemplar geht auf lateinisch ex-imere = herausnehmen zurück. Ein Exemplar ist ein beispielhaftes Muster, das aus einer Menge gleichartiger Dinge herausgegriffen ist. Das Individuum verweist wesenhaft auf die Einzigartigkeit des Selbst, das Exemplar ist nur Beispiel eines Musters, das das tut. Das Individuelle ist Gott, dem Symbol der ungeteilten Einzigartigkeit, daher näher, als das Kollektive. Es ist daher nicht so, dass Gott nur dort ist, wo zwei in seinem Namen zusammen sind. Er ist auch dort, wo einer bei sich selbst ist.
Nirgendwo sonst wird zwischen Gut und Böse so kategorisch unterschieden wie im Reich der Religion. Das ist logisch. Wenn es um die endgültige Zugehörigkeit zum Heiligen geht, steht die Frage, was in den Augen des Heiligen als gut gelten kann, unverrückbar im Raum.
Die einseitige Einschätzung egoistischer Motive als böse ist ein tief verwurzelter Brauch des Abendlands. Obwohl das Ego zu Recht als Grundlage des Bösen gilt, ist eine pauschale Gleichsetzung nicht angebracht.
Der qualitative Unterschied zwischen egoistisch und nicht-egoistisch ist primär keiner von gut und böse, sondern einer von eng und weit. Der egoistische Mensch hat einen engen Horizont: den seiner Person.
Dass der abendländische Glaube egoistische Motive systematisch als böse verurteilt, ist auch Ergebnis seines politischen Ansatzes; der seinerseits böse ist, insofern er den asymmetrischen Vorteil einer Gruppe auf Kosten anderer fordert. Der alttestamentarische Glaube diente einer Politik, deren Anspruch den Einzelnen, also den Mandanten des Egos, vollständig der Gruppe, also dem politischen Vorsatz unterstellte. Daher galt der Einzelne als böse, sobald sich sein Bemühen aufs eigene Wohl bezog; statt auf das der Gemeinschaft.
Tatsächlich böse ist das Ego nicht an sich, bloß weil es für das Wohl der Person sorgt, sondern erst, wenn es sich aufbläht, es der Person also über deren Bedeutung hinaus Vorteile verschafft; was es allerdings gerne tut... und zwar solange sich das Ich mit der Person verwechselt. Bleibt das Ego defensiv, schützt es die Person also gegen die Übergriffe anderer, ist es im Grundsatz gut. Man muss sich nicht vom Löwen fressen lassen um ein guter Mensch zu sein.
Mit dem Mythos vom Baum der Erkenntnis spricht die Bibel einen grundsätzlichen Zusammenhang an: den zwischen dem Bösen und der Bewusstheit des Ich. Richtig ist: Nur was sich erkennt, kann gegebenenfalls als boshaft bezeichnet werden.
Irrtum ist der Versuch, das Problem durch Rückschritt zu lösen, denn die Erkenntnis bringt nicht das Böse, also die verdrängende Tat hervor. Sie macht sie bloß kenntlich. Das Böse wird nicht überwunden, indem das Ich die Gabe zur eigenständigen Erkenntnis zurückweist und sich stattdessen etwas nicht Erkennbarem, nämlich bloß Geglaubtem, unterwirft.
Die Zurückweisung der Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, hebt die Gefährlichkeit des Bösen nicht auf. Im Gegenteil:
Wer gut sein will, indem er, böse sein zu können nicht als Potenzial seines Wesens annimmt, gibt die Verantwortung dafür (an den Teufel) ab. Das Mittelalter wimmelte von geplagten Kreaturen, die im Widerstreit ihrer Impulse eine Besessenheit durch böse Geister sahen.
Wer gut sein will, indem er bloß dem Bild des Gutseins entspricht, erschleicht sich einen Platz, der ihm nicht zukommt. Das Gute, das er von diesem Platz aus zu tun meint, ist nicht immer wirklich gut. Gut sein zu wollen, wird so zu einer Form der Schlechtigkeit.
Das eigentliche Problem der Erkenntnisfähigkeit liegt darin, dem persönlichen Vorteil durch Fehlurteile zu viel Bedeutung zuzumessen. Wenn der Sinn der Zurückweisung eigenständiger Urteilsfähigkeit jedoch mit Vorteilen begründet wird, die im Jenseits angeblich jenen winken, die auf Erden auf die eigenständige Vertretung ihrer Interessen verzichten, appelliert der Aufruf zum Verzicht an genau das, was er zu beseitigen versucht: den Eigennutz. Wie soll Eigennutz überwunden werden, wenn man ihn zum Motiv und Werkzeug seiner Überwindung macht?
Die Gefährlichkeit des Potenzials zum Bösen wird nicht überwunden, indem man es projektiv verteufelt und von sich weist. Sie wird überwunden, indem das Ich die Erkenntnis seiner selbst vorantreibt und in der Folge versteht, von welchem Platz aus das Ego dem Ganzen dienen kann. Wer das Potenzial zum Bösen nicht als ihm eigen annimmt, sondern es abzuspalten versucht, verliert die Kontrolle darüber. Zur Freiheit gehört die Freiheit zum Bösen. Wer das Potenzial zum Bösen abzuschaffen versucht statt es einzubinden, muss die Freiheit abschaffen. Menschen- und Weltverbesserern aller Couleur fehlt die Weisheit, der Versuchung zu widerstehen.
Indem das Ich seiner selbst bewusst wurde, hat es die fraglose Bindung ans Ganze aufgelöst. Religion ist der Impuls, die Bindung wiederherzustellen. Er kann sich rückwärts oder vorwärts wenden.
Spaltende Religion bindet zurück, indem sie die gewonnene Freiheit verweigert. Sie versucht, die gefürchtete Freiheit - die auch eine Freiheit zum Bösen ist - durch Gehorsam und Unterwerfung auszutilgen.
Integrative Religion schreitet voran. Sie stellt Bindung wieder her, indem sie Freiheit als Wesen des Ganzen entdeckt und die Freisetzung des Ich in eine Ordnung führt, die es nach der Befragung tatsächlich bejaht. Spaltender Glaube versucht, das Böse zu beseitigen. Heilender Glaube versucht, es zu verstehen. Mehr noch: Heilender Glaube versucht, sich aus dem Bösen herauszuverstehen; sich also durch ein Verständnis des Bösen aus dessen Herrschaft zu lösen.
Exemplarisches Beispiel eines spaltenden Glaubens ist die biblische Lehre. Beim Versuch, das Böse auszutilgen, das sie selbst als böse bestimmt, greift sie zu Mitteln, die Ausdruck des Bösen sind.
5 Moses 17, 5:*
... dann führe diesen Mann oder diese Frau, die solchen Frevel getan, zu deinen Toren und lasse sie zu Tode steinigen!... Die Zeugen sollen zuerst ihre Hand gegen ihn erheben, um ihn zu töten, danach aber das ganze Volk. So sollst du das Böse aus deiner Mitte austilgen!
Auch die Lehre Zarathustras ist spaltend. Ihr gemäß ist die Weltgeschichte Ausdruck des Kampfes zwischen dem guten Geist Ahura Mazda (persisch: اهورا مزدا = weiser Herr) und dem bösen Ahriman (اهريمن). Da das Wesen des Guten in der Bindung liegt, droht jedoch das, was sich die Abspaltung des Bösen zum Ziel setzt, selbst böse zu sein.
Wer sich des Bösen in sich nicht annimmt, sondern sich davon abzuspalten versucht, entbindet es aus der Führung des Guten. Glaube, der ausschließt, ist vorläufig. Er bleibt beim Urteil stehen. Glaube, der versteht, geht über das spaltende Urteil hinaus.
Religiöse Lehren befassen sich mit dem Platz des Einzelnen im Ganzen. Dabei geht es um die Zugehörigkeit des Selbstbestimmten. Bei der Bestimmung der Zugehörigkeit des Selbstbestimmten spielt der Gegensatz von Gut und Böse, also von passend und unpassend eine große Rolle.
Der Gegensatz von Gut und Böse kann verstanden oder moralisch definiert werden. Das Verstehen des Gegensatzes befasst sich mit der Erkenntnis dessen, was wahr ist. Die Benennung einer Moral entwirft Vorstellungsbilder. Moral sagt nicht, was wahr ist, sondern was sein soll.
Während es nur eine Wahrheit geben kann, gibt es viele Vorstellungsbilder, die vorgeben, was als wahr zu gelten hat. Vorstellungsbilder beruhen auf Meinungen und Sichtweisen Einzelner. Sie unterscheiden sich voneinander.
Religion betreibt Bindung ans Ganze. Sie verheilt Getrenntes. Deshalb kann auch nur ein Glaube, der niemanden ausschließt, ein vollgültig religiöser Glaube sein. Alles andere ist Politik oder Aberglaube, also Irrtum, der vom wahren Glauben abgefallen ist. Für wahre Religion ist das Ganze von höchster Bedeutung. Da sie die Anbindung freigesetzter Teile ans Ganze versucht, ist wahrer Religion Ausgrenzung wesensfremd. Jede Form von Ausgrenzung wirkt wahrer Religion zuwider.
Es gibt verschiedene religiöse Lehren. Nur eine trifft zu. Die zutreffende erfüllt zwei Bedingungen:
Sie findet jenseits von Bildern das Wirkliche, da das Ganze nur wirklich sein kann.
Sie schließt keinen Teil aus, weil sie sonst dem Ganzen widerspräche.
Um Selbstbestimmtes ans Ganze zu binden, muss eine religiöse Lehre das fördern, was es dem Teil ermöglicht, den Weg zum Ganzen selbst zu bestimmen. Das Mittel dazu ist Selbsterkenntnis. Nur was sich selbst erkennt, kann erkennen, welchen Weg es zum Ganzen gehen kann.
Die reine religiöse Lehre formuliert ihren Glauben so, dass seine Aussagen niemanden vom Ganzen ausschließen. Sie bestätigt das als eigentlich religiösen Akt, was das Menschsein bereits vor Übernahme trennender Vorstellungsbilder ausmacht: den Akt des Erkennens, dass und was er ist. Jede Lehre, die darüber hinausgeht, ist unrein.
* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.