Verwandtschaftliche Beziehungen des deutschen Begriffs heil bestehen zu ähnlichen Wörtern in germanischen, keltischen und slawischen Sprachen.
Die Tabelle zur Etymologie des Begriffs Heilung vermittelt einen Überblick. Sie verdeutlicht, dass heil Gesundheit und Ganzheit bezeichnet. Der Begriff heilig entspringt derselben Sprachfamilie. Er verweist auf eine Ganzheit, die über allem Aufgeteilten steht. Das Verb heilen kommt in zwei Varianten vor: heil werden und heil machen. Die Wunde heilt. Der Arzt heilt. Heilung heißt Ganzwerdung.
Sucht man den Ursprung des Begriffs gesund, stößt man auf die germanische Wurzel sunda- im Sinne von stark, kräftig. Heilung ist Ganzwerdung, der Kraft und Stärke entspringen. Wer gesund ist, kann seine ganze Kraft zum Ausdruck bringen. Seine Kraft nicht zum Ausdruck zu bringen, ist ungesund.
Kraft resultiert aus dem Miteinander unterscheidbarer Teile, die ihren jeweils passenden Platz im Ganzen einnehmen. Folglich ist Heilung ein integrativer Prozess. Dabei wird Fehlendes von Unfertigem angenommen.
Zur Etymologie des Begriffs Heilung
Sprache | Begriff | Sinn |
Englisch | whole | ganz, vollständig |
hale | gesund, rüstig | |
heal | heilen | |
Althochdeutsch | heil | gesund, unversehrt |
Schwedisch | hel | ganz |
Russisch | це́лый celyj |
ganz |
Gotisch | hails | gesund |
Walisisch | coel | günstiges Vorzeichen |
Das Motiv der Ganzheit kommt in der Psychiatrie auf vier grundsätzlichen Ebenen vor.
Diesen vier Ebenen entsprechen vier Möglichkeiten, die Ganzheit zu verfehlen.
Vier Ebenen der Ganzheit
körperlich | Ungestörte Funktion neuropsychologischer Vermögen |
personal | Das Ich erlebt die Elemente des relativen Selbst als ihm zugehörig. |
psychosozial | Die Person erlebt sich im sozialen Umfeld eingebettet. Sie erlebt sich zugehörig. |
spirituell | Das Ich erlebt sich als Repräsentant der Wirklichkeit. |
Alle mentalen Funktionen bedürfen eines intakten Zentralnervensystems (ZNS). Das ZNS ist ein modular aufgebauter Funktionskomplex, bei dem bestimmte Hirnareale Schlüsselfunktionen für die Ausführung neuropsychologischer Leistungen bereitstellen. Sind solche Hirnareale anlagebedingt ungenügend oder werden sie im Verlauf des Lebens geschädigt, können spezifische Funktionen nicht ausgeführt werden oder sie funktionieren nur auf vermindertem Niveau. Daraus ergeben sich neuropsychologische Funktionsstörungen:
Ursachen struktureller Störungen des ZNS
Sind neuropsychologische Funktionen gestört, liegt eine geistige Behinderung, eine Teilleistungsstörung oder ein organisches Psychosyndrom vor.
Der umgangssprachlich normale Mensch - also der, der nicht an einer Psychose erkrankt ist - erlebt die Elemente seines relativen Selbst als zusammengehöriges Ganzes. Er sagt: Meine Gedanken, meine Gefühle, meine Impulse, meine Erinnerungen, meine Urteile, meine Sinneswahrnehmungen und mein Körper sind die Elemente meiner Person, die als sie selbst ein Ganzes ist. Dieses Ganze nennt der Normale Ich.
Beim Verlust der personalen Ganzheit geht das Erleben der Ganzheit des Ich verloren. Die Psychiatrie spricht von Ich-Störungen.
Zuordnungen
Unvollendete Ebene | Funktionsniveau |
körperlich | behindert |
personal | psychotisch |
psychosozial | neurotisch |
spirituell | normal |
Geht die personale Ganzheit verloren, spricht die Psychiatrie von einer Psychose.
Nach schulmedizinischer Interpretation werden Halluzinationen nicht den Ich-Störungen zugeordnet, sondern als eigenständige psychopathologische Kategorie aufgefasst. Da aber davon auszugehen ist, dass Halluzinationen Gedanken und Vorstellungen des Kranken entsprechen, die dieser nicht als ihm selbst zugehörig erlebt, ist zu diskutieren, ob man sie nicht als einen Ausdruck des Verlusts der personalen Ganzheit und damit als eine Variante der Ich-Störung auffassen kann.
Der dritten Ebene der Ganzheit entspricht die Einbettung der Person in den sozialen Kontext. Der Gesunde erlebt den Ereigniszusammenhang des jeweiligen Geschehens und seine persönliche Reaktion darauf als ein psychosoziales Gefüge, mit dem sein inneres Erleben übereinstimmt. Er hat das Gefühl, dass sein Verhalten der Situation, in der er sich befindet, entspricht. Der Dualismus zwischen Ich und Nicht-Ich ist passend aufeinander eingestimmt. Die psychosozial angemessen eingebettete Person verhält sich so...
Ist die psychosoziale Ganzheit unvollendet, besteht zwischen der kranken Person und dem Umfeld ein Riss. Statt angemessen und emotional stimmig auf das jeweilige Jetzt zu reagieren, erlebt der Kranke Ängste, Impulse, Hemmungen und Stimmungsanomalien, die verhindern, dass sich Psyche und Kontext in eine kongruente psychosoziale Dynamik verzahnen. Die zwei Pole des psychosozialen Gefüges sind nur zum Teil in ein Ganzes verlötet.
Isolierte Störungen der psychosozialen Ganzheit können dem Spektrum der neurotischen Erkrankungen zugeordnet werden. Statt spontan mit dem Umfeld umzugehen, ist der neurotisch Kranke überwertig mit der Frage beschäftigt, wie er den Umgang gestalten soll.
Störungen der psychosozialen Einbettung werden durch Verlustängste verursacht. Fünf Themenfelder sind auszumachen: Verlust der/des...
Nicht nur der manifeste Verlust von Ganzheit macht krank, sondern auch die überwertige Befürchtung, Ganzheit zu verlieren. Das sieht man bei Erkrankungen, die durch Ängste hervorgerufen werden, die um den Verlust der körperlichen Unversehrtheit kreisen.
Bei der Hypochondrie beschäftigt sich der Kranke so unbelehrbar mit dem Erhalt seiner körperlichen Unversehrtheit, dass er soziale Funktionen nur noch eingeschränkt erfüllen kann.
Der Verlust der personalen Ganzheit kann als drohende Möglichkeit gefürchtet werden. Die Angst, verrückt zu werden, ist mit verschiedenen Krankheitsbildern verschwistert:
Beim Entfremdungssyndrom erscheint die Außenwelt oder Teile der eigenen Innenwelt so verändert, dass der Kranke fürchten kann, bereits von einer Vorstufe der Verrücktheit befallen zu sein.
Bei der Panikstörung kann der Schrecken der Symptome so massiv sein, dass der Kranke glaubt, die Angst sei kurz davor, die Integrität seines Erlebens endgültig zu sprengen.
Patienten mit Zwangsstörung können im Verlust selbst eines Quäntchens Kontrolle über die Ordnung ihrer Gefühle oder über die Ordnung ihres nächsten Lebensumfelds eine so große Gefahr sehen, dass auch sie sich unmittelbar vom Wahnsinn bedroht fühlen.
Zugehörigkeit ist das primäre psychologische Grundbedürfnis des Menschen. Auch ungeachtet psychologischer Bedürfnisse bietet sie so viele Vorteile, dass kaum jemand gegen soziale Verlustängste vollständig gefeit ist. Das Verhalten vieler wird jedoch so umfassend von entsprechenden Ängsten geprägt, dass ihre psychosoziale Einbettung gerade dadurch gefährdet ist; oder nur Einbettungen möglich sind, deren Qualität die Erfüllung anderer Bedürfnisse verhindert.
Abhängige Verhaltensmuster sind - zumindest in moderater Ausprägung - weit verbreitet. Um Verlustängste zu bannen, nimmt der Abhängige eigene Impulse so ausgiebig zurück, dass er seinen Platz im sozialen Umfeld als chronisch unbefriedigend erlebt. Er gehört zwar dazu, aber nur zum Preis der Unterordnung. Narzisstische Bedürfnisse bleiben auf der Strecke.
Das zweite psychologische Grundbedürfnis ist Selbstbestimmung. Selbstbestimmung ist zweierlei:
Die Angst, Selbstbestimmtheit zu verlieren, kann bei schizoiden Persönlichkeiten dazu führen, dass ihnen psychosoziale Ganzheit als zu riskant erscheint.
Das Selbstwertgefühl ist für das Wohlbefinden von zentraler Bedeutung. Vereinfacht kann man sagen...
Wer sich und sein Leben als Wert empfindet, dem geht es gut; selbst wenn es Umstände gibt, unter denen er momentan leidet.
Das Selbstwertgefühl ist das Resultat eines Urteils, das mehr oder weniger bewusst vollzogen wird. Je nachdem, welche Güter, Fähigkeiten, Erfolge, Positionen und soziale Ränge das Individuum für unverzichtbar hält, um sich für vollwertig zu halten und je nachdem, wie viel es davon zu haben glaubt, fällt das Urteil positiver oder negativer aus. Das Selbstwertgefühl fließt nahtlos in die Haltung ein, aus der heraus das Individuum dem Umfeld begegnet.
Menschen mit stabilem Selbstwertgefühl verhalten sich unbefangenen. Ihr Verhalten ist unkompliziert, kommunikativ, selbstbestimmt und wertschätzend. Ihre Grundstimmung ist zuversichtlich.
Körperliche Unversehrtheit, personale Ganzheit, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung sind die vier Faktoren, denen das Individuum entscheidende Bedeutung bei der Beurteilung seines Selbstwerts zumisst. Entsprechend groß ist die Angst, auf diesen Feldern dem eigenen Maßstab nicht zu genügen.
Chronische Krankheiten, die jene Fähigkeiten einschränken, die für gesunde Menschen üblich sind, können Anlass für Minderwertigkeitsgefühle sein. Als defizitär werden aber oft nicht nur manifeste Einschränkungen körperlicher Funktionen empfunden, sondern auch jede Abweichung vom klassischen Schönheitsideal des leiblichen Erscheinungsbilds. Zu klein, zu groß, zu dick, zu dünn: Das sind Komparative, die am Selbstwertgefühl vieler saugen, wie transsilvanische Vampire am Hals ihrer schlafenden Besucher. Abstehende Ohren, unerwünschte Farben von Augen, Haaren oder Haut, Muttermale an der falschen Stelle oder Brüste, die die Pracht der Brüste Aphrodites um zwei Prozent verfehlen, sind in der Lage, den Geist ihrer Träger dermaßen zu trüben, dass diese ein Leben lang niemals die Sonne ohne Schleier sehen. Das Ideal kann ein Argument für oder gegen die Wirklichkeit sein. Oft dient es bloß dazu, sie zu entwerten oder um sich unter Druck zu setzen.
Defizite beim Erleben der personalen Ganzheit werden bei Psychosen offensichtlich. Der Psychotiker erlebt seine Person dermaßen von außen bestimmt, dass er nicht selten den Eindruck hat, seine Gedanken und Gefühle würden ihm von missgünstigen Manipulatoren als fertige Module eingepflanzt. Sich als fremdbestimmte Marionette zu erleben, ist nichts, was mit einem stabilen Selbstwertgefühl vereinbar wäre. Als pathologisches Konstrukt zu dessen Heilung können Größenphantasien entwickelt werden, deren abenteuerlicher Realitätsverlust entweder auf Dauer nicht trägt oder so wenig konsensfähig ist, dass er zur weiteren Entfremdung vom Umfeld und damit zu einem zusätzlichen Verlust an Zugehörigkeit führt.
Die Erfahrung der personalen Ganzheit kann auch bei Menschen verdeckte Risse aufweisen, die kein Psychiater als Psychotiker bezeichnen würde. Alle projektiven Abwehrmechanismen, besonders der der projektiven Identifikation haben das Zeug, die Fassade der personalen Ganzheit zwar stehen zu lassen, hinter dem Putz aber Bruchlinien ins Mauerwerk zu setzen, die die Gewissheit, eine intakte Person zu sein, graduell schwächen. Anderen Elemente des eigenen Egos zuzuschreiben, untergräbt das Gefühl der persönlichen Integrität. Auch das führt dazu, dass das Selbstwertgefühl schwächer ausfällt, als es dem seelischen Gleichgewicht guttäte.
Einer Gruppe oder zumindest einem Menschen anzugehören, den man für wertvoll hält, ist für den normalen Menschen unerlässlich, um nicht am eigenen Wert zu zweifeln. Können Zugehörigkeiten nicht verwirklicht werden, fühlt sich das Individuum abgelehnt und ausgeschlossen. Dann bedarf es einer Menge Selbstbewusstheit, um das Selbstwertgefühl stabil zu halten. Wem das erforderliche Maß an Selbstbewusstheit fehlt, läuft Gefahr, bei jedem Verlust und jeder Infragestellung einer Zugehörigkeit mit psychischen Symptomen zu reagieren, deren Funktion es ist, weitere Infragestellungen des Selbstwertgefühls abzuwehren.
Das Vermögen, über sich selbst zu bestimmen, ist eng mit dem Selbstwertgefühl verbunden. Je reifer das Individuum wird, desto mehr wird es Abhängigkeit als Defizit erleben. Äußeren Kräften unterworfen zu sein, ist nichts, was einer ungestörten Selbstwertregulation Vorschub leisten würde. Sich zu unterwerfen, kann zwar als taktisches Manöver angewendet werden, um soziale Vorteile zu erzielen, die Gesetzmäßigkeiten der Selbstwertregulation erfordern dazu aber entweder die Idealisierung dessen, dem man sich unterwirft und/oder die Abwertung Dritter.
Ist die psychosoziale Ganzheit verwirklicht, erlebt sich der Mensch als normal-gesunde Person. Er deutet sich als separates Ich, das passend in eine Außenwelt verfugt ist, die nicht zum Ich gehört, sondern kategorisch davon zu unterscheiden ist. Das Selbst- und Weltbild des normalen Erlebens ist dualistisch. Für das normale Bewusstsein ist das Feld des Daseinsvollzugs kein Ganzes, das Ausdruck eines Ganzen ist, sondern ein Ganzes, das aus zwei Hälften besteht.
Einem derart gesunden Dasein ist ein latenter Unfrieden beigemengt, der vorübergehend durch Erfolg, Erwerb oder bereichernde Erfahrung beigelegt werden kann. Das Bewusstsein um die Vergänglichkeit der Person und die Erkenntnis, dass selbst der Begeisterung über den größten Gewinn Ernüchterung folgt, verhindern, dass der normale Mensch auf Dauer glücklich in sich ruht.
Stets scheint ihm ein Teil zum Glück zu fehlen. Immer wenn er das scheinbar Fehlende gefunden hat, erweist sich der Fund zuletzt als ungenügend. Was ihm tatsächlich fehlt, ist spirituelle Ganzheit; also die Erfahrung, dass er selbst die Trennlinie zwischen Ich und Welt übersteigt und es ein Trugschluss ist, dass ihm überhaupt ein Teil der Welt zur Ganzheit fehlt. Verkennt die Person ihre spirituelle Ganzheit, ist sie normal. Erlebt sie sie, ist sie im Wortsinn der Heilung vollständig geheilt. Die Erfahrung des ungeteilten Selbst kann nur machen, wer die Illusion des separaten Ich als feststehende Einheit überwindet. Der Fluss fließt. Das Ich ist ein Strudel, der unterwegs entsteht und vergeht. Sich daran festhalten zu wollen, ist ein Griff ins Leere. Leere kann man nicht greifen, sondern nur lassen.
Entsprechend den vier Ebenen der Ganzheit sind vier Arten der Heilung zu nennen:
Heilungen
Typ | Ansatzpunkt | Ziel |
organisch | Hirnstruktur | Wiederherstellung neuropsychologischer Funktionen |
personal | Hirnstoffwechsel | Wiederherstellung eines funktionalen Transmitterstoffwechsels |
psychosozial | Ego | Stärkung des Egos zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit als Mitspieler im sozialen System |
spirituell | Selbst | Befreiung aus den Grenzen des Egos durch Ablösung von dessen Selbstbild |
Warum uns der Mut fehlt, wir selbst zu sein? Weil in uns die Zeit stillsteht, wir aber glauben, in ihrem Verlauf etwas gewinnen oder verlieren zu können.
So unterschiedlich die angesprochenen Instanzen, so unterschiedlich sind die Methoden, die zur Erlangung der Ganzheit auf den vier Ebenen anzuwenden sind.
Für viele strukturelle Defizite und Schäden am ZNS sind keine grundsätzlichen Heilungsmöglichkeiten bekannt. Schwerpunkte der therapeutischen Bemühungen sind daher...
Das wesentliche Werkzeug zur Heilung organisch bedingter Leistungsstörungen des ZNS sind neuropsychologische Übungsprogramme, die defizitäre Funktionen möglichst bis zur vollen Wiederherstellung ergänzen.
Beim derzeitigen Stand der Wissenschaft ist davon auszugehen, dass das Erleben der personalen Ganzheit wesentlich von intakten Stoffwechselprozessen im Zentralnervensystem abhängt. Dafür spricht vieles:
Das wesentliche Werkzeug, das heute zwecks Wiedererlangung der personalen Ganzheit eingesetzt wird, ist die Psychopharmakologie. Parallel dazu sind psychotherapeutische Hilfen zielführend, die vor allem projektive Abwehrmuster abschwächen.
Zwischen den Feldern
Manifest zerbrochen ist die personale Ganzheit beim psychotisch erkrankten Menschen. Oben wurde aber darauf hingewiesen, dass die Erfahrung der personalen Ganzheit auch bei Menschen geschmälert sein kann, die nicht an einer Psychose erkrankt sind; wenn auch nur unbewusst und unterschwellig: nämlich durch den Gebrauch projektiver Abwehrmanöver, die Eigenschaften oder Funktionen der eigenen Person anderen Personen zuordnen.
Da die personale Ganzheit dabei in der Regel formal erhalten bleibt, ist das wichtigste Mittel zur Behebung solcher Störungen aber keine Medikation, sondern die psychotherapeutische Arbeit an der persönlichen Reifung. Der Zielpunkt einer solchen Arbeit liegt nicht in der personalen, sondern in der psychosozialen Heilung, um die Störungen, die projektive Muster bei der Einbettung verursachen, aufzuheben. Die Festigung der personalen Ganzheit ist hier ein beiläufiger Effekt.
Ist die personale Ganzheit intakt, liegt der Schwerpunkt der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen auf der psychosozialen Heilung. Psychosoziale Heilung bedeutet, dass all jene Faktoren beseitigt werden, die einer unbefangenen Einbettung des Patienten in den Ereigniskontext des Umfelds im Wege stehen. Die Befangenheit des neurotischen Menschen wird durch fehlendes Selbstvertrauen und daraus resultierende Verlustängste verursacht. Fehlt das Selbstvertrauen, orientiert sich der Kranke zu wenig an seinem inneren Prozess. Er legt stattdessen übermäßig Wert auf Bestätigung von außen und macht sein Selbstwertgefühl von schwankenden Bedingungen abhängig, auf die er keinen oder keinen zuverlässigen Einfluss hat. Das führt zu...
Als Ursache des fehlenden Selbstvertrauens sind pathogene Kommunikationsmuster, traumatisierende Erfahrungen und realitätsfremde Selbsteinschätzungen auszumachen. Störungen, die auf solche Ursachen zurückzuführen sind, können durch Einsicht und gezielte Verhaltensänderungen aufgehoben werden. Die wesentlichen Werkzeuge zur Wiedererlangung der psychosozialen Ganzheit sind Psycho- und Verhaltenstherapie.
Gesellschaft und Ganzheit
Der Begriff weist darauf hin: Bei der psychosozialen Heilung spielt das soziale Umfeld eine große Rolle. Es gibt Bedingungen vor und setzt heilender Ganzwerdung Grenzen.
Die Zugehörigkeit zum sozialen Umfeld bildet einen der beiden Pfeiler, die das Leben als Ausgestaltung des Psychologischen Grundkonflikts bestimmen. Außerdem hängt die Deutung eines Verhaltens als gesund oder krank von den Maßstäben des sozialen und kulturellen Umfelds ab. Beides führt dazu, dass die Zugehörigkeit zum Umfeld oft eine Anpassung des Einzelnen an Erwartungen erfordert, die seiner Identität widerspricht. Um Spannungen zu vermindern, die daraus entstehen, passt der normale Mensch sein Selbstbild dem tatsächlichen oder vermeintlichen Erwartungsdruck des Umfelds an. Er hält sich für etwas anderes als das, was er ist.
Die Anpassung des Selbstbilds erfolgt durch Verleugnung von Teilaspekten des tatsächlichen Selbst. Neben der Verleugnung kommt die übrige Palette der Abwehrmechanismen zum Einsatz. Je mehr Aspekte angepasst werden, desto mehr wird das Selbstbild verfälscht. Es bildet nicht mehr ab, was der Einzelne ist, sondern das, was er entgegen seinem tatsächlichen Wesen sein soll.
Selbstverständlich ist der Einzelne bei der Verfälschung seines Selbstbilds nicht nur Opfer jener Umstände, die ihn von außen bedrängen. Die Verfälschung des Selbstbilds ist ebenso Resultat eigener Ansprüche; je nachdem, welche Rollen er im Umfeld für sich einfordert.
Die spirituelle Heilung geht über die psychosoziale hinaus. Obwohl sie ihr teils widerspricht, umfasst und vertieft sie sie zugleich. Die Übergänge sind fließend.
Bei der psychosozialen Heilung spielen Bewertungen und Urteile eine große Rolle. Im Dienste der psychosozialen Heilung wird das eigene Verhalten und Empfinden mit einem Soll verglichen. Was dem Ziel der Einbettung ins Umfeld entgegensteht, wird durch Abwehrmechanismen aus dem Bewusstsein entfernt. Dadurch werden Qualität und Umfang des Selbstbewusstseins vermindert. Die psychosoziale Heilung legt den Schwerpunkt auf die Einbettung einer als separate Einheit definierten Person in ihr Umfeld. Sie geht nicht über die Polarität Ich/Nicht-Ich hinaus.
Bei der spirituellen Heilung treten Urteile und Wertungen in den Hintergrund. Stattdessen versucht das Individuum, sämtliche Aspekte seiner selbst wahrzunehmen und sie so sein zu lassen, wie sie sind. Dabei erfüllt die Akzeptanz der sogenannten negativen Gefühle eine Schlüsselfunktion. Unangenehme Gefühle vermitteln Einsichten in das eigene Wesen, gegen die man sich sträubt. Gerade diese Einsichten sind es jedoch, die man auf dem Weg zur Heilung braucht. Sie sind das Fehlende am Unfertigen. Wer gesund wird, sagt: Das bin ich auch. Er nimmt sich vollständig an.
Während die psychosoziale Heilung jedoch die Identifikation mit den Erscheinungen des relativen Selbst beibehält und sie zur Stärkung eines handlungsmächtigen Egos verwendet, betreibt die spirituelle Heilung eine Des-Identifikation von allem Erkannten. Der spirituell Gesunde sagt: Das bin ich nicht. Gelingt die Des-Identifikation, wird das absolute Selbst, also das Subjekt aus den Begrenzungen freigesetzt, die der Einbindung in die dualistische Interaktion zwischen Person und Welt eingewoben sind.
Die wesentlichen Werkzeuge zur spirituellen Heilung sind absichtslose Achtsamkeit, Meditation und die Ablösung des Subjekts von allen selektiven Identifikationen mit Objekten oder objektivierbaren Konstruktionen. Das vorläufige Ich bleibt Objekt, das endgültige ist Subjekt.
Zwecks besserer Anschaulichkeit kann die Darstellung von Ganzheit und Heilung auf vier Themenbereiche aufgeteilt werden. Ganzheit heißt aber auch, dass die vier Bereiche nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern ganzheitlich ineinander verzahnt sind. Das wird in der Praxis deutlich.
Körperlich bedingte Funktionsstörungen beeinträchtigen die psychosoziale Einbettung. Gegebenenfalls kann auch die personale Ganzheit verlorengehen.
Regelhaft führt der Verlust der personalen Ganzheit zu erheblichen Störungen der psychosozialen. Umgekehrt können Störungen der psychosozialen Einbettung bei gefährdeten Personen zum Zusammenbruch der personalen Ganzheit führen. Psychosoziale Belastungen können psychotische Schübe auslösen.
Im Rahmen psychotischer Episoden kann es zu Erfahrungen kommen, die spiritueller Ganzheit entsprechen; oder ihr zumindest ähneln.
Eine umfassende Betrachtung des seelisch kranken Menschen wird den Blick bei der Wahl ihrer Ziele und Mittel nicht auf einzelne Ebenen beschränken. Je nach individueller Konstellation, kann Heilung parallel auf allen vier Ebenen angestrebt werden.
Das Streben nach Ganzheit ist ein grundsätzlicher Impuls. Er wirkt auf personaler, psychosozialer und kultureller Ebene. Er ist Grundprinzip aller Spiritualität.
Das Bedürfnis nach psychosozialer Ganzheit bezieht sich nicht nur auf den Horizont unmittelbarer Bezugspersonen, sondern auch auf den des kulturellen Umfelds. Ganzheit heißt Überwindung von Grenzen. Streben nach Ganzheit heißt auch, von außen Neues aufzunehmen. Von außen Neues in ein kulturelles Umfeld aufzunehmen, kann jedoch in dessen Innerem neue Grenzen setzen. Die Eingrenzung von Neuem kann zur Ausgrenzung von Bisherigem führen.
Breitbandmedizin
Was zur Heilung des Einzelnen unentbehrlich ist, ist es auch zur Heilung von Gemeinschaften: die Anerkennung der Wahrheit. Wahrheit ist die einzige Basis, auf der sich alle treffen können, weil sie niemandem gehört. Nichts heilt Gemeinschaften mehr, als sich darauf zu einigen, was als wahr überprüfbar ist.
Kultur ist alles, was Gemeinschaften als Organisationsprinzip hervorbringen um ihre Binnenstruktur zu regeln oder um ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit abzubilden. Da Vorstellungen falsch sein können und soziale Strukturen ungerecht, ist keineswegs alles, was als Kultur bezeichnet wird, zu begrüßen. Auch der Zufluss kultureller Formen von außen ist nicht immer bereichernd. Gegebenenfalls gilt: Je mehr die Formen das tiefere Wesen des Menschen missachten, desto problematischer können sie sein. Die unreflektierte Anpassung an gesellschaftliche Normen und das soziale Umfeld, das sie repräsentiert, kann zu einer Entfremdung des Einzelnen von sich selbst führen. Daraus resultiert ein Defizit innerer Ganzheit, das erst durch eine spirituelle Heilung behoben werden kann. Spirituelle Heilung ist ein Projekt, das sich nur eine Minderheit nachhaltig zum Ziel setzen wird.
Integration im Sinne der Ganzwerdung einer gemeinschaftlichen Struktur nur als politische Frage zu betrachten, greift zu kurz. Sie ist vor allem ein psychologisches Problem; und als solches nicht beliebig steuerbar. Das Wohl vieler hängt in großem Umfang von gesellschaftlichen Bedingungen ab. Dazu gehört, innerhalb der Gesellschaft nicht auf Gruppengrenzen zu stoßen, die die Kompensationsmechanismen des individuellen Zugehörigkeitsempfindens überfordern.
Die Aufspaltung der Gesellschaft in ein Patchwork paralleler Untergruppen, führt bei vielen zu einer Störung der psychosozialen Einbettung, die ihr Wohlergehen nachhaltig stört und den sozialen Frieden gefährdet.
Andererseits wird die Heilung des Einzelnen erschwert, wenn ihm sein jeweils abweichendes Sosein gesellschaftlich nicht zugestanden wird. Starre Normen aufzustellen, die die Pluralität der Gesellschaft beschränken, um einer gefürchteten Zersplitterung Einhalt zu gebieten, ist der dialektische Gegenpol zur unreflektierten Entgrenzung. Das eine schadet. Das andere auch.
Zur Heilung gehört die Frage, wann sie eintritt. Wer unter seelischen Erkrankungen leidet und sich damit an einen Arzt oder eine Psychologin wendet, will wissen, wann die geplante Therapie zur Behebung seines Leidens führt. Eine erste Antwort darauf lautet: Das ist kaum vorherzusehen und individuell extrem variabel.
Der eine ist seiner Symptome nach wenigen Gesprächen oder der einwöchigen Einnahme eines geeigneten Medikaments entledigt, der andere wird zu einem chronisch leidenden Menschen, dem es nach zwanzig Jahren Behandlung bei fünf Therapeuten und mit dreißig verschiedenen Medikamentenkombinationen nicht wirklich besser geht.
Die Zeit, die man braucht, um seelisch zu gesunden, hängt von vielen Faktoren ab:
Der Art der Erkrankung: Eine akute Reaktion auf eine schwere Belastung hat bessere Chancen rasch zu vergehen als eine Persönlichkeitsstörung, die sich seit der Kindheit entwickelt hat.
Hat jemand viele Schicksalsschläge zu verkraften oder lebt er in einer Gemeinschaft mit großen psychosozialen Spannungen, kann das eine Genesung sehr erschweren.
Heilung und Haltung
Es gibt verschiedene Grundhaltungen, die man sich selbst gegenüber einnehmen kann. Diese Grundhaltungen sind zugleich Heilungsversuche. Welche man davon anwendet, bestimmt wesentlich darüber mit, ob Heilungsversuche vorankommen oder auf der Stelle treten. Grundsätzlich gilt: Je tiefer die Schichten sind, die man zu heilen versucht, desto länger braucht man dazu.
Grundhaltung | Prognose | Zeitbedarf |
In mir gibt es allerlei, was dort nicht hingehört: schlechte Gedanken, schlechte Impulse, schlechte Gefühle. Ich und mein Leben sind nicht das, was sie sein sollten. All das Schlechte soll einfach nur weg. Ich verurteile mich für die Übel, die ich in mir finde. Ich verurteile mich. |
sehr ungünstig | gering |
Ich erkläre mich zum Opfer äußerer Umstände. Wenn es mir besser gehen soll, muss die Welt anders werden. Ich beklage mich. |
ungünstig | gering |
In mir gibt es vieles, was zwar widersprüchlich ist und unter dem ich derzeit leide, es macht aber Sinn, immer neue Facetten und Zusammenhänge in mir zu entdecken; denn so steigere ich mein Selbstbewusstsein. Ich wende mich neugierig und wertschätzend nach innen. Ich erkunde mich. |
günstig | groß |
Ich erkunde mich ohne Vorbehalte und löse mich dann von der Vorstellung, das zu sein, was ich erkundet habe. Ich übersteige mich. |
sehr günstig | sehr groß |
Es macht Sinn, auch die ersten beiden Grundhaltungen als Selbstheilungsversuche zu betrachten. Und zwar aus folgenden Gründen:
Wer sich über äußere Ursachen beklagt, entsorgt Widersprüche aus seinem Selbstbild nach außen. Er sagt: Mit mir wäre eigentlich alles in Ordnung, wenn es bloß nicht so viel Schlechtes um mich herum geben würde. Eine solche Sichtweise kann Missstände erträglicher machen. Man sieht sich zumindest nicht in der Schuld.