Viele betrachten Leid als bloßen Störfaktor der Lebendigkeit. Dabei ist es eine Chance, um lebendiger zu werden. Viele wollen Erfolg und haben kein Interesse an Erfahrung. Viele wollen ans Ziel, aber vermeiden den Weg.
Das Wasser großer Ströme stammt aus verschiedenen Quellen. So ist es vermutlich auch beim Leid. Kaum einer zweifelt daran, dass Leid und leiden sprachgeschichtlich miteinander verwandt sind. Sie sind es nicht (1); zumindest kann der Zusammenhang nicht belegt werden (2). Vom Sinn her gehören sie trotzdem zusammen; und sind zurecht in ein Vorstellungsbild vereint.
Das Hauptwort Leid zur Bezeichnung einer widerwärtigen Erlebnisqualität entstammt der germanischen Wurzel laiþa = widerwärtig, unangenehm. Widerwärtigkeit ist eine Spielart der Gegenwärtigkeit: die, bei der zwischen einander gegenwärtigen Objekten eine abstoßende Kraft besteht.
Das Verb leiden im Sinne von dulden, ertragen, Unglück empfinden, entspringt der indoeuropäischen Wurzel leit[h]- = (fort-)gehen, fahren, reisen. Das Leiden, im Sinne eines Frauenleidens oder eines Leidens am eigenen Widerspruch ist die substantivierte Form des Verbs. Das heutige Sprachgefühl verknüpft es nahtlos mit dem Leid.
So sehen es die Nachbarn
Zur Bezeichnung des Leidens in den romanischen Sprachen (z. B. französisch souffrir) und im Englischen (to suffer) werden Abwandlungen des lateinischen sufferre = darunterhalten, ertragen, dulden verwendet. Darin sind das Verb ferre = tragen und die Präposition sub = unter enthalten. Die benannten Sprachtraditionen verweisen auf die Tatsache, dass der Leidende Widrigkeiten unterliegt, ihnen also unterworfen ist und sie von unten zu ertragen hat.
Da Unterworfenheit der Gegensatz zur Freiheit ist, ist die Behebung eines konkreten Leides ein spezieller Fall eines grundsätzlichen Themas: dem Streben nach Freiheit an sich. Vielsagend ist dabei, dass Leid behoben wird. Der Leidende wird aus einer Position, in der er dem Widrigen unterworfen ist, über dessen Einfluss hinausgehoben.
Der Sinnzusammenhang zwischen dem Widrigen einerseits sowie Fahrten und Reisen andererseits ist offensichtlich; ebenso der zwischen Leid und dem Umstand, unterworfen zu sein. Es gibt kaum eine Reise ohne Widrigkeit, also ohne dass es notwendig wäre, Hürden und Hindernisse zu überwinden. Das gilt erst recht für die Reise durch die Wirklichkeit, die der Mensch als Leben bezeichnet.
Obwohl das pessimistische Übertreibungen sind, ist viel daran wahr. Niemand, der am Leben teilnimmt, kann leidvollen Erfahrungen entgehen.
Leid erfüllt wichtige Funktionen. Es stößt geistige Entwicklungen an und löst komplexe Handlungen aus. Man leidet, wenn die Realität nicht mit Wünschen, Erwartungen und Bedürfnissen übereinstimmt. Dann setzt man sich in Bewegung. Leid ist ein mächtiger Antrieb zu Veränderung, Wachstum und Aufbruch.
Jede geistige Entwicklung besteht im Erwerb von Erkenntnissen, durch deren Einsatz man Leid beseitigen, ihm vorbeugen sowie Freiheit, Glück und Zufriedenheit erreichen kann.
Zum Wesen des Bewusstseins gehört, Missstände als Leid zu erleben und sie durch Anwendung erworbenen Wissens zu überwinden. Daher ist Wissenserwerb von zentraler Bedeutung. Dem dient Erfahrung. Erfahrungen sind Experimente mit der Realität, durch die Einblicke erworben werden. Erfahrungen erweitern den Verstand. Sie können erfreulich oder leidvoll sein. Wichtige Erfahrungen werden oft durch Leid bezahlt. Leid ist Lehrgeld.
Wenn sich Wider- in Zuspruch verwandelt, entstehen Freude und Lust. Wenn selbst im Widerspruch Zuspruch erkannt wird, kommt Glück auf. Glücklich ist, wer sich im Widerspruch so zuspricht, dass er ihn nicht fürchten muss. Ich kann mich stellen. Wenn ich mich stelle, werde ich das Missliche überwinden. So heißt der Schlüssel zur Tür zwischen zwei Welten.
Die Grundlage allen Leids liegt in der persönlichen Existenz. Jede Person begegnet einer Wirklichkeit, deren Dynamik ihren Bestand infrage stellt. Alle Formen des Leids sind mit den grundsätzlichen Gefährdungen des persönlichen Daseins verknüpft: Tod, Verletzung, Zurücksetzung, Entmachtung, Entmündigung, Verlust.
Formen seelischen Leids
Es gibt körperliches und psychisches Leid. Wegen der psychosomatischen Verbindung beider Ebenen beeinflussen und durchdringen sich beide Pole wechselseitig.
Das persönliche Leben ist unauflösbar mit dem Körper verbunden. Funktionsstörungen des Körpers erlebt man als unmittelbar bedrohlich. Man leidet unter Schmerz, Übelkeit, Schüttelfrost oder Schwindel.
Körperliches Leid kann massive Auswirkungen auf das seelische Befinden haben. Schon mittelgradige Zahnschmerzen oder ein verdorbener Magen reichen aus, um die Freude an allem zu verderben, woran man sich freuen könnte. Heftige körperliche Symptome drängen alles andere in den Hintergrund.
Chronischer Schmerz organischer Ursache kann zu dauerhaften Persönlichkeitsveränderungen führen. Schaukeln sich organisch bedingter Schmerz und seelische Reaktion wechselseitig auf, kann von einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10: F45.41) gesprochen werden. Andererseits können sich primär seelische Konflikte als körpernahe Symptome bemerkbar machen. Dann spricht man von einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10: F45.40) oder von einer Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.0).
Körpernahe Angstäquivalente
Angst kann als seelisches Leid wahrgenommen werden. Oder sie bringt sich auf körperlicher Ebene zum Ausdruck. Als...
Der Mensch hat zwei grundsätzliche psychologische Bedürfnisse: Er will dazugehören. Und er will über sich selbst bestimmen. Beiden Bedürfnissen gerecht zu werden, ist oft schwer. Je nachdem, welches Bedürfnis zugunsten des anderen unerfüllt bleibt, entsteht ein jeweils spezifischer Leidensdruck; umso mehr, je starrer das Missverhältnis ist.
Setze ich einseitig auf Zugehörigkeit, bleibt der Anspruch, über mich selbst zu bestimmen, unerfüllt. Ich fühle mich nicht ernst genommen, bevormundet und zurückgesetzt. Ich leide unter Selbstwertzweifeln, Schüchternheit, sozialphobischen Ängsten oder hilfloser Wut.
Setze ich einseitig auf Selbstbestimmung, gehöre ich nicht dazu. Ich leide unter Einsamkeit und unerfüllter Sehnsucht nach vertrauter Nähe.
Auch körperliches Leid kann dem Thema des psychologischen Grundkonflikts zugeordnet werden. Die Beeinträchtigung körperlicher Funktionen droht sowohl Zugehörigkeit als auch Selbstbestimmung zu untergraben.
Ungehindert an der Gemeinschaft kann nur teilnehmen, wer durch organische Leiden nicht daran gehindert wird... und erst recht nur, wer nicht daran stirbt.
Große Teile der persönlichen Selbstbestimmung setzen einen reibungslos funktionierenden Körper voraus. Wer nicht mehr laufen kann, kann auch nicht mehr entscheiden, es zu tun. Gegebenenfalls fällt er der Obhut von Helfern und Betreuern anheim, die über seinen Kopf hinweg bestimmen.
Ein großer Teil des seelischen Leids beruht auf Selbstwertzweifeln. Ein Minderwertigkeitsgefühl kann das gesamte Erleben beeinträchtigen. Es gehört zum Spektrum der Schamgefühle. Grundlage des Minderwertigkeitsgefühls ist ein narzisstisches Defizit. Darunter versteht man einen Mangel an Selbstbejahung.
Oft ist der Zweifel am eigenen Wert nicht bewusst. Oft drückt er sich nur durch die unreflektierte Bereitschaft aus, im sozialen Rollenspiel Positionen einzunehmen, in denen es viel zu leiden und wenig zu genießen gibt. Oder er zeigt sich als großspuriges Auftreten, das den Zweifel verdeckt.
Dem kann abgeholfen werden. Aber der Weg ist oft steinig. Um ein stabiles Selbstwertgefühl zu begründen, das nicht mit äußeren Umständen steht und fällt, gilt es, unangenehme Gefühle unerschrocken als wertvolle Erfahrungen anzuerkennen. Wer sich dergestalt selbst erlebt und erlitten hat, kann sich fortan selbst gut leiden. Ein Selbstwertgefühl, das darauf angewiesen ist, dass stets Erfreuliches passiert, steht auf schwankendem Boden. Wer weiß, dass er mit sich durch dick und dünn geht, bekommt mehr Achtung vor sich selbst.
Selbstwertzweifel haben verschiedene Ursachen:
Ursachen des Selbstwertzweifels
Die soziale Ursache | Die existenzielle Ursache |
liegt im gesellschaftlichen Umfeld, das den Einzelnen bereitwillig missachtet. | liegt in der grundsätzlichen Egozentrik des normalen Selbstbilds. |
Wesentliche Grundsteine des Selbstbilds werden in der Kindheit gelegt. Empfängt das Kind aus dem Umfeld abwertende Botschaften, wird es sie in der Regel in sein Selbstbild übernehmen. Man spricht von pathogenen Introjekten. Pathogene Introjekte sind irreführende Kognitionen, die das Kind auf die Bewertung seines Wesens anwendet und sich damit schadet.
Strafe oder Folge
Leid ist Folge unangemessenen Denkens und Handelns. Im Kinderzimmer sind die Folgen unerwünschten Handelns oft als Strafen gedacht. Ebenso bei der Justiz. Obwohl beides Leid erzeugt, sind Strafen von bloßen Folgen zu unterscheiden. Ein Strafimpuls handelt aus dem Kontext sozialer Rivalität heraus. Zu diesem Zweck grenzt er auch aus. Er sagt: Wenn du das tust, gehörst du nicht zu uns. Strafe will den Bestraften in eine Rangordnung beugen.
Die Wirklichkeit steht in keinem Rivalitätsverhältnis zu dem, dessen Taten sie mit Leid quittiert. Der Leidende bleibt vollgültig Ausdruck der Instanz, die ihm Leid zufügt. Die Wirklichkeit teilt Leid nicht zu, um unterzuordnen. Sie sagt: Lass mich in Dir zu. Beachte mich als Dich selbst. Dann bist Du im Einklang mit Dir.
Die Folgen ungünstiger Prägungen können überwunden werden, wenn man den Zusammenhang zwischen Prägungen und der gegenwärtigen Bereitschaft erkennt, seinerseits Elemente des eigenen Wesens zurückzuweisen und sich damit selbst zu schwächen. Dazu gilt es, angemessene von irreführenden Introjekten zu unterscheiden.
Das normale Selbstbild des Menschen ist egozentrisch. Da der Horizont des Egos eng umschrieben ist, lebt der egozentrische Mensch in steter Gefahr, von Selbstwertzweifeln bedrängt, beeinflusst oder beherrscht zu werden. Das Minderwertigkeitsgefühl ist auf unserem kulturellen Niveau quasi flächendeckend; zumindest eine unbewusste Minderwertigkeitsbefürchtung. All die Manöver, die der normale Mensch zur Abwehr der leidvollen Zweifel zur Anwendung bringt, bleiben Notbehelf, bis er sein Selbstbild über das Ego hinaus erweitert hat.
Schicksal und Reaktion
Das Hindernis, das wir als Quelle des Leides erleben, mag jenseits von uns liegen. Dann trifft es uns von außen. Das Erlebnis des Leidens ist aber Teil unserer selbst. Es ist unsere Reaktion auf das, was wir als schädlich erachten. Wenn wir Leid als bloßen Schaden deuten, für den wir nicht verantwortlich sind, können wir Leid, das auf unserer Reaktion beruht, niemals beheben.
Wie jedes Erlebnis, hat auch Leid seinen Wert. Wenn man Leid verwertet, statt es zu verwerfen, verwandelt es sich in Wissen und Kraft.
Politisch und sozial ist das Minderwertigkeitsgefühl der Normalität ein entscheidender Faktor. Ohne es wären Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung anders. Beide Ordnungen fördern die egozentrische Ich-Bezogenheit, um sich aufrechtzuerhalten. Minderwertigkeitsbefürchtung und Gesellschaftsstruktur bilden eine kybernetische Gestalt. Kybernetisch (griechisch kybernetes [κυβερνητης] = Steuermann.) heißt: Das System steuert sich selbst. Die Gesellschaftsstruktur begünstigt Minderwertigkeitsbefürchtungen. Diese festigen die Struktur der Gesellschaft.
Wie jeder Anwalt braucht auch das Ego Mittel, um für seinen Mandanten Gutes zu tun. Das Ego strebt daher nach Macht und ist von seinem Anspruch überzeugt, sich so viel wie möglich davon zu verschaffen. Deshalb ist es ständig damit beschäftigt, sich selbst zu bestärken; und zwar nicht nur gegen potenzielle Gegner in der Außenwelt. Auch von seinem Mandanten verlangt es eine Vollmacht. Es behauptet, dass es ohne sie nicht wirksam für ihn kämpfen könne. Weil das Ego beteuert, den Vorteil seines Mandanten und nichts als dessen Vorteil zu betreiben, sind viele bereit, die erwünschte Vollmacht auszustellen. Gutgläubig überlassen sie dem Anwalt die Führung ihrer selbst. Die Behauptung des Anwalts, selbstlos auf Seiten des Mandanten zu stehen, ist eines seiner Mittel, um sich zu ermächtigen. Dreierlei ist dabei problematisch:
Kein Anwalt ist jemals selbstlos. Ein Teil seiner Mühen gilt dem eigenen Vorteil. Dazu stellt der Anwalt eine Rechnung aus, die aus den Ressourcen des Mandanten zu begleichen ist. Um sich zu erhalten, zehrt das Ego an den Kräften des Selbst.
Im Ringen um mehr Macht, versucht das Ego, nicht nur äußere Feinde zu entmachten, sondern auch seinen Auftraggeber. Zum Wesen des Egos gehört der Putsch gegen das Selbst. Aus dem Anwalt der Person wird ein Unterdrücker ihres Kerns.
Da nirgendwo mehr gelitten wird als im Kampf falscher Bilder gegen die Wirklichkeit, erzeugt die Führung des Egos genau das Leid, das im nächsten Schritt als Argument dafür dient, ihm die Führung zu belassen.
Wer dem Ego erlaubt, die Macht über sich zu ergreifen, macht aus seinem Diener einen Haustyrannen. Wer glaubt, das Ego strebe aus seinem Wesen heraus nach dem Glück des Selbst, kann das Glück niemals finden. Um glücklich zu sein, muss das Selbst über dem Ego stehen. Dazu muss es das Ego im Auge behalten.
Im Titel der Infobox heißt es: Eine Metapher mit paranoidem Einschlag. Während die Metapher Zusammenhänge erhellt, werden andere durch den Einschlag verdunkelt. Der Grund dafür ist folgender...
Das Ego als einen Anwalt zu bezeichnen, verführt dazu, es als separate Instanz zu betrachten, die auf eigene Faust handelt. Das ist unscharf gedacht. Tatsächlich gibt es kein Ego als virtuelle Person. Vielmehr gibt es ein egozentrisches Selbstbild, mit dem sich das Ich in der Regel gleichsetzt. Substanz dieses Selbstbilds sind egozentrische Vorstellungen, die sich das Ich zu eigen macht. Es übernimmt sie, weil es sie irrtümlicherweise für richtig hält.
Die Machtergreifung des Egos ist daher nicht das Werk einer bösen Instanz, die auf das Ich zugreift und es so zum Opfer degradiert, wie es der paranoide Einschlag der Metapher unterstellt. Vielmehr fällt das Ich der eigenen Verblendung zum Opfer. Es nimmt irreführende Sichtweisen und Deutungen der Wirklichkeit an, die zweierlei bewirken:
Beides fixiert das Ich überwertig in eine Opposition zur Wirklichkeit, die eine Lawine neurotischen Leides nach sich zieht. Tatsächlich führt nicht der Kampf gegen vermeintliche Webfehler der Außenwelt ins Glück, sondern die Erkenntnis der Irrtümer im Inneren. Das Ego im Auge zu behalten, heißt daher: zu erkennen, welche Vorstellungen in die Irre führen und welche ins Licht.
... begegnete ihm je eine Verdrießlichkeit, so würde sie doch gleich wiedergutgemacht. So heißt es im Märchen vom Hans im Glück.
Hans war mit einem Batzen Gold nach Hause unterwegs. Als ihm das Gold zu schwer wurde, tauschte er es gegen ein Pferd. Als das Pferd ihn abwarf, tauschte er es gegen eine Kuh. Als die Kuh nicht gleich Milch gab, tauschte er sie gegen ein Schwein. Als das Schwein ihm hätte Ärger machen können, tauschte er es gegen eine Gans. Zum Schluss hatte Hans nichts mehr.
Wie man Leid begegnet, ob man es bloß beseitigen will, ob man es vermeidet, betäubt, es im Dienste einer besseren Zukunft erträgt oder etwas daraus zu lernen versucht, bestimmt, ob man mit Gold nach Hause kommt oder mit leeren Händen. Die erste Botschaft des Märchens warnt vor übereilter Verkürzung leidvoller Erfahrungen.
Das Märchen hält aber auch eine zweite Botschaft bereit: Wer Besitz weggibt, ist frei. Wer frei ist, ist glücklich. Die beiden Botschaften verweisen gemeinsam darauf, dass es im Umgang mit Leid zwei Grundsätze gibt, die sich komplementär ergänzen.
Notwendiges von überflüssigem Leid zu unterscheiden, ist die halbe Kunst des Lebens und die wichtigste Aufgabe der Psychotherapie.
Erträgt man notwendiges Leid, wendet man damit eine zukünftige Not ab, die ansonsten einträfe.
Montag schreibt Max eine wichtige Klausur. Obwohl er das Wochenende viel lieber mit Silke in Grömitz verbrächte, entscheidet er sich dafür, zu Hause für die Prüfung zu büffeln.
Überflüssiges Leid dient der Pflege falscher Selbst- und Weltbilder.
Gewiss: Leid zu vermeiden, ist eine fruchtbare Taktik.
Körperliches Leid nicht zu vermeiden, wenn es vermeidbar ist, ist in der Regel Narretei. Wohlgemerkt: in der Regel. Nicht immer.
Komplexer als bei drohender Durchfallerkrankung oder Zahnausfall sind die Verhältnisse bei seelischem Leid. Natürlich kann auch hier durch Voraussicht Leid vermieden werden.
Das menschliche Dasein ist aber so komplex, dass es selbst bei klügster Voraussicht aussichtslos ist, jede Lebenslage zu vermeiden, der leidvolle Erfahrungen entspringen können. Egal wie man es anstellt, an allen Ecken und Enden lauern Angst, Trauer, Verluste und Niederlagen. Schlimmer noch: Bemüht man sich grundsätzlich, Leid zu vermeiden, handelt man sich meist noch mehr davon ein.
Wer Leid aus dem Erleben entfernt, indem er es grundsätzlich vermeidet, verpasst die Chance, dass er am Leid etwas lernt. Die Ängstlich-vermeidende Persönlichkeit tappt genau in diese Falle.
Gelingt es nicht, das Aufkeimen schmerzhafter Gefühle durch ausweichendes Verhalten zu vermeiden, kann man sich dazu entscheiden, das Leid zu erleben oder man setzt Abwehrmechanismen ein, die das momentane Befinden verbessern. Häufig eingesetzte Manövern sind...
Es gibt Leid, dessen Ausmaß die Fähigkeit lähmt, sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Das Vermögen, Leid als Herausforderung anzunehmen, setzt die Erwartung voraus, dass man etwas zu seiner Bewältigung beitragen kann. Ab welchem Ausmaß der Glaube an die eigene Handlungsmöglichkeit erlischt, ist von Person zu Person verschieden.
Betäubung ist ein legitimes Mittel um Leid zu dämpfen, von dem man sich ohne Dämpfung überfordert sieht.
So legitim Betäubung im Umgang mit heftigem Leid erscheint, so sinnvoll ist aber auch die Frage, ab wann man Leid ohne Dämpfung annehmen kann.
Und dann gibt es noch Mittel zur Betäubung aller Arten von Ungemach, die nicht nur verhindern, dass man aus leidvollen Erfahrungen gestärkt hervorgeht, sondern darüber hinaus zusätzlich schaden. Alkohol und Drogen betäuben Trauer, Angst, Schmerz und alle übrigen Gefühle, die man sonst nicht mag. Ihr ständiger Einsatz verhindert jedoch, dass man lernt, Leid aus eigener Kraft zu bewältigen. Und: Sie richten körperliche und soziale Schäden an, unter denen man zusätzlich zu leiden hat.
Leid ruft aber auch Mitleid hervor... und damit Helfer auf den Plan. Wo gelitten wird, kann von innen oder von außen Abhilfe erfolgen. Sind Helfer nicht in der Lage, ihr Mitleid zu zügeln, neigen sie dazu, jedes Leid, das sie bei ihren Schützlingen entdecken, vorauseilend zu beheben. Der Effekt für den Beschützten mag kurzfristig wohltuend sein, langfristig hat übertriebene Hilfe aber einen ähnlichen Effekt wie ein Betäubungsmittel. Sie entfernt den Stachel des Leides, der zur eigenständigen Suche nach Lösungen reizt und führen so zu einer Spielart erlernter Hilflosigkeit, der neues Leid auf dem Fuße folgt. Lieber ein bisschen zu wenig als ein bisschen zu viel, ist eine sinnvolle Regel für Helfer, die die Selbstheilungskräfte ihrer Schützlinge nicht ersticken wollen.
Die Variante der Leidbewältigung mit Hilfe von Sahnetorten hätte man auch als Ablenkung bezeichnen können. Da es im Leben glücklicherweise nicht nur Unerfreuliches gibt, kann man sich, sobald etwas Unangenehmes spürbar wird, Erfreulichem zuwenden... und schon ist der Kummer ganz oder fürs Erste vergessen.
Ablenkende Manöver können Luft verschaffen, bis man sich den emotionalen Herausforderungen stellen kann, oder man setzt sie so beharrlich ein, dass schmerzhafte Erfahrungen auf Dauer verdrängt bleiben.
Eine weitere Methode der Verdrängung besteht darin, Leid nicht als nützliche Erfahrung anzunehmen, sondern stattdessen Schuldige dafür zu suchen.
Es mag zwar sein, dass man im Gefolge der Aktionen anderer massiv zu leiden hat, die Vorstellung, dass Leid aber zwangsläufig anderen vorzuwerfen ist, macht für den Sinn des Leidens ebenso blind, wie für die Tatsache, dass es reaktiv empfunden wird und daher wesentlich von den eigenen Deutungen abhängt. Tatsächlich ist unvermeidliches Leid, das jedem Leben inneliegt, kein Unheil, für das stets jemand haftbar gemacht werden müsste. Es ist Bestandteil des Lebens selbst und entsteht aus der Rivalität unterschiedlicher Personen, die in jedes soziale Bezugsfeld eingewoben ist.
Hinter jeder Schuldzuweisung steckt die Erwartung, dass sich Menschen so zu verhalten haben, wie es einem imaginären Kodex oder einem vermeintlichen Konsens entspricht. Da Menschen weder dazu verpflichtet sind, es zu tun, noch es tatsächlich machen, ist die Schuldzuweisung zwecks Verdrängung leidvoller Gefühle oft einer der nutzlosesten Maßnahmen, die man sich denken kann. Nützlicher als gegen Schuldige im Geiste zu wüten, ist es, zu prüfen, ob die Erwartungen, gegen die sie verstoßen, realitätsgerecht sind. Im Übrigen gilt es, das Erlebnis der Ohnmacht und des Ausgesetztseins in der Willkür des Daseins zuzulassen, ohne von der Ebene des Erlebens auf die des Urteilens und Argumentierens zu wechseln.
Leid wird nicht nur erduldet oder vermieden, es wird auch aufgesucht; oder es wird daran festgehalten. Das bekannteste Beispiel mag der sexuelle Masochismus sein. Er hat aber weniger Bedeutung als verdeckte Formen. Während der sexuelle Masochismus unmittelbar auf Lustgewinn abzielt und nur solange praktiziert wird, wie er sein Ziel erreicht, fixieren die verdeckten Formen Leidende oft in eine tragische Verstrickung, deren Gewinn ausbleibt. Zwei psychodynamische Varianten stehen im Vordergrund:
Während Asketen, die das Glück mit Stachelkronen, Peitschenhieben, Nagelbrettern und Hungerqualen erzwingen wollen, die Ausnahme sind, sind ihre kleinen Brüder im Geiste gar nicht so selten. Viele Menschen folgen unbewussten Vorstellungen, die Leid und Heilserwartung so eng miteinander verknüpfen, dass sie allfälliges Leid nicht nur willfährig erdulden, sondern es sich bei Gelegenheit sogar an Land ziehen. Sie sind überwertig bereit, Opferpositionen einzunehmen und ziehen daraus psychologischen Gewinn:
Gehäuft sind solche Mechanismen bei Menschen mit depressiver Verhaltensstruktur zu beobachten.
Eine sinnvolle Unterscheidung
Es macht Sinn, Mitgefühl und Mitleid von einer pathogenen Variante des Mitleidens zu unterscheiden.
Mitgefühl und Mitleid entlasten den Leidenden. Wer dem Leidenden verständnisvoll beisteht oder ihm Mitleid entgegenbringt, muss jedoch nicht mit ihm gemeinsam leiden.
Pathogen, also leidbringend, ist eine Identifikation mit dem Leidenden, die den, der sich identifiziert, tatsächlich mitleiden lässt. Steht der Leidende dem Mitleidenden persönlich nahe, ist diese Form des Mitleidens schlüssig und braucht nicht hinterfragt zu werden.
Derselbe Mechanismus kann aber auch missbraucht werden. Es gibt Menschen, die so mit einer eigenen Leidensposition identifiziert sind, dass sie allfälliges Leid aus ihrem Umfeld auf sich übertragen.
Ein derartiges Mitleiden entlastet den ursprünglich Leidenden oftmals nicht. Im Gegenteil: Der Mitleidende riskiert, sein eigenes Leid derart zu betonen, dass es um den ursprünglich Leidenden gar nicht mehr geht.
Als pathologische Zuspitzung kennt man diesen Mechanismus bei der körperlichen Selbstverletzung. Sie wird vor allem von Borderline-Persönlichkeiten praktiziert um sich selbst zu spüren. Zu leiden ist für viele eher akzeptabel als bedeutungslos und unsichtbar zu sein.
Da das absolute Selbst nicht in Erscheinung tritt, neigen selbstunsichere Personen dazu, ihr Dasein durch Schmerz zu konkretisieren. Wer sich seiner selbst ungewiss ist, fürchtet verlorenzugehen. Leid zeigt ihm an, wo und dass er da ist.
Es liegt auf der Hand: Da es hier um Sichtbarkeit und Beachtung geht, fallen dem Anna-Karenina-Prinzip vor allem Menschen anheim, die wenig Beachtung erfahren haben. In mehr oder wenig starker Ausprägung ist deren Zahl Legion.
Die Betonung des Leidens in der christlichen Mythologie hat aber auch zu seiner Verklärung geführt. Unter der Vorstellung, man werde von Gott als einer der seinen bevorzugt, wenn man möglichst viel Leid auf sich lädt und auf irdische Freuden verzichtet, haben Gläubige Leid funktionalisiert. Leid wurde nicht mehr nur als eine Herausforderung betrachtet, der es sich zu stellen gilt, sondern es wurde als Mittel zum Zweck religiösen Ausdrucks kultiviert. Was aber kultiviert wird, wird nicht beseitigt und überwunden, sondern bewahrt und vermehrt.
Zur Verklärung des Leidens gehört der Kult des Gehorsams. Gehorsam ist nichts anderes als die Bereitschaft, ein Leid zu erdulden, weil es von oben angeordnet wird. Der Gehorsame verzichtet darauf, das zu tun, was seinem momentanen Wohlbefinden entspräche. Stattdessen trägt er die Last, die ihm auferlegt wird. Die biblische Ideenwelt fördert die Leidensbereitschaft im Diesseits, indem sie eine fürstliche Entschädigung im Jenseits verspricht.
Die Verklärung des Leidens förderte asymmetrische Gesellschaftsstrukturen, denen ihrerseits neues Leid entsprang, weil sie den Einzelnen daran hinderten, für sein Wohl zu sorgen. Dem Leid, das die christliche Caritas behoben hat, steht das Leid gegenüber, das sie durch seine Verklärung erzeugte. Es ist schwer zu entscheiden, welche Waagschale überwiegt.
Wer Leid weder vermeidet, betäubt, verdrängt oder verklärt, hat jene letzte Möglichkeit, damit umzugehen. Er kann sich dem Erleben stellen und sein Leid als einen Teil des Lebens anerkennen, bis er darüber hinausgewachsen ist. Wenn Sie sich zu dieser Möglichkeit entscheiden, können Sie Folgendes tun: