Seelische Gesundheit


  1. Kategorien
  2. Was bin ich
  3. Normalität
  4. Seelische Gesundheit
Es gibt nichts und niemanden, der über Ihnen steht. Wenn Sie sich zu etwas machen, verleugnen Sie das. Jede Identifikation ist eine Herabsetzung der Identität auf einen Bruchteil.

1. Kategorien

Seelische Gesundheit wird oft mit psychischer Normalität verwechselt. Dadurch wer­den wesentliche Unterschiede übersehen. Tatsächlich ste­hen die Begriffe für verschiedene Kategorien; sowohl, was die Erlebnisqualität betrifft, also auch bezüglich der innerseelische Dynamik, die beiden Kategorien zugrunde liegt.

Betrachtet man die Grundmuster, die das eine und das andere bedingen, erkennt man, wie unterschiedlich die Kategorien in Wirklichkeit sind.

Psychodynamik
Seelische Gesundheit Psychische Normalität
Des-Identifikation von allem Objektiven Identifikation mit der eigenen Person, mit kulturspezifischen Rollen, Meinungen und Wertvorstellungen
Bewahrung bzw. Wiederentdeckung der Identität durch Verzicht auf Identifikation Absicherung durch Anpassung an definierbare Verhaltensmuster
Entbindung aus einschränkender Struktur Einbindung in schützende Struktur

2. Was bin ich

Die Kernfrage des menschlichen Selbstverständnisses lautet: Was bin ich? Alle anderen Fragen sind dieser einen nachgeordnet. Die Beantwortung der Kernfrage beeinflusst die Antwort auf alle übrigen. Wie die Kernfrage beantwortet wird, hängt von der Methode ab, die man zu ihrer Beantwortung benutzt. Es gibt zwei grundsätzliche Möglich­keiten.

  1. Identifikation
  2. Des-Identifikation
2.1. Identifikation

Der Begriff Identifikation ist aus zwei lateinischen Wörtern zusammengesetzt: facere = machen und idem = gleich. Identifikation heißt Gleichsetzung von etwas mit etwas. Sind mit den beiden Etwas' Objekte gemeint, kann Identifikation folgerichtig sein.

Die Fundstücke aus der Grube Messel konnten als Bestandteile des Bernsteinzimmers identifiziert werden; wobei rätselhaft ist, wie sie aus der Neuzeit ins Eozän gelangen konnten! Vielleicht ist die Zuordnung voreilig und es handelt sich in Wirklichkeit um Gallensteine der Sumpfralle Messelornis cristata.

Definition besteht aus lateinisch de = ab, weg und finis = Grenze. Eine Definition ist eine Abtrennung durch Grenzsetzung; also die Aufteilung von etwas Übergeordnetem in untergeordnete Teile. Das gilt auch, wenn die Definition zunächst zusammenfasst. Sagt man: Alle gelben Frösche gehören zu den Pfeilgiftfröschen, wird der Begriff Pfeilgift­frosch gegenüber anderen Froscharten abgegrenzt.

Die "Identität" eines Objekts ist bloß Erscheinung. Sie erscheint solange, wie das Objekt in Erscheinung tritt. Identisch ist nur der Hintergrund, aus dem die Erscheinung auftaucht.

Wird Identifikation zur Definition des Selbst benutzt, beschränkt sie den Blick auf Begrenzbares. Das geht am Wesen des Subjekts vorbei. Das reine Subjekt ist nicht begrenzbar. Es hat keine festen Eigenschaften, die als Grenze dienen könnten.

2.2. Identität

Im Begriff Identität fehlt das Verb facere. Die Identität des nach seiner Identität fragenden Sub­jekts wird durch keinen Gleichsetzungsprozess erzeugt. Sie ist dem Subjekt durch sich selbst vorgegeben. Iden­tität ist kein Resultat von Beschluss und Willkürentscheid. Sie ist daher unveränderlich und entzieht sich allem, was auf der Welt getan, gewünscht und beschlossen wird.

Während das Resultat einer Identifikation Vorstellung bleibt, ist Identität absolute Wirklichkeit an sich. Die Identität einer Instanz, die Identifikationen durchführen kann, geht der Fähigkeit zur Identifikation voraus. Identifikation ist daher untauglich, um die Identität dieser Instanz zu bestimmen; genau so wenig, wie sich Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann.

Identität Ich bin, was ich bin.
Identifikation Ich bin, wofür ich mich halte.

3. Psychische Normalität

Identifikation ist kein Alles-oder-nichts. Sie kann mit unterschiedlicher Eindringlichkeit vollzogen werden. Je tiefer eine Identifi­kation in das Identitätsgefühl eindringt, desto mehr wird wahre Identität überlagert. Der Mensch mag dann psychisch normal sein, seelisch ist er krank. Er ahnt nicht, was er ist und verliert sich in dem, wofür er sich hält.

Identifikationen

  • primär mit der Person
  • sekundär mit deren Rollen
  • tertiär mit gemeinsamen Vorstellungen, die das Rollenspiel erleichtern

Idealisierung

Wertvorstellungen sind nützliche Helfer; wenn man sie als Hypothese erkennt und nicht zum Gott erklärt. Identifiziert man sich so unauf­lösbar mit einer Wertvorstellung, dass die Bindung nicht mehr in Frage gestellt werden kann, hat man sich zu einem Partikel herabgesetzt.


Psychisch normal ist die Identifikation des Ich mit Konkretem. Die primäre Identifikation ist die mit dem eigenen Körper. Sobald im Laufe der Kindheit Wahrnehmungs-, Denk- und Vorstellungs­prozesse nicht nur stattfinden, sondern als eigene Geistestätigkeit erkannt werden, erweitert sich die primäre Identifikation vom bloß materiellen Körper auf ein Körper-und-Geist-Konzept: die eigene Person. Das Kind denkt: Ich bin diese Person. Ich bin in meinem Körper und begegne von dort aus der Welt. Jenseits meiner Person ist das Nicht-Ich.

Je mehr die Person entdeckt, in soziale Bezüge eingebunden zu sein, desto mehr sekundäre Identifikationen kommen hinzu:

Sekundäre Identifikation führen zur Gleichsetzung des Ich mit sozi­alen Rollen. Das Verhalten des psychisch normalen Menschen wird durch jene Muster bestimmt, die zu der Rolle passen, die er spielen will oder spielen zu müssen glaubt.

Parallel zur Identifikation mit sozialen Rollen vollziehen sich ter­tiäre Identifikationen. Aus dem Interesse heraus, schützenden Beziehungssystemen (ich-du, ich-ihr) anzu­gehören, erfolgt eine Angleichung an deren Wertvorstellungen und Weltbilder. Die Person identifiziert sich mit der Weltsicht jener Gruppe, der sie angehören will oder muss.

Psychische Normalität ist relativ. Sie ist kulturspezifischen Vorgaben angepasst.

4. Seelische Gesundheit

Zur seelischen Gesundheit führt die Des-Identifikation von Konkretem. Je weniger das Identitätsgefühl in Konkretem verankert wird, desto offener bleibt die Verbindung zwischen Selbst und jeweiliger Situation, in der das Selbst als Adressat des Erkennens und Ursprung des Handelns wirksam wird.

Auch der seelisch Gesunde spielt soziale Rollen. Auch er hat Wertvorstellungen. Wohl­gemerkt: Er spielt Rollen, aber er verwechselt sich nicht. Er hat Vorstellungen, setzt sich aber nicht dergestalt mit ihnen gleich, als seien es Eigenschaften seiner selbst. Dem seelisch Gesunden ist bewusst, dass er nichts von dem ist, was er konkret benennen, erkennen oder vorübergehend repräsentieren kann. Der seelisch Gesunde verkleinert sein Identitätsgefühl nicht ins Partikulare. Er definiert sich nicht als Teil.

Das Verhalten des seelisch gesunden Menschen wird durch kein konkretes Rollensche­ma festgelegt; ebenso wenig durch unverrückbare Urteile darüber, was richtig, falsch, gut oder böse ist. In jeder Situation verhält er sich so, wie es seiner Wahrnehmung der Situation entspricht. Der seelisch Gesunde ist unberechenbar.

Seelische Gesundheit ist absolut. Sie hat alle kulturspezifische Vorgaben überwunden.

4.1. Stufengrade der Entbindung

Identifikationen sind Einbindungen in eingrenzende Vorstellungen. Sie bergen und geben Schutz. Zugleich engen sie ein und vermindern den Grad der Lebendigkeit. Wer glaubt, dies oder das zu sein, beschränkt sich auf das, was er als dies definiert. An den Schranken, die er selbst errichtet, fühlt er sich zurückgewiesen. Dort erlebt er neurotisches Leid; also solches, das nicht durch die Wirklichkeit verordnet ist, sondern im Gefolge ihrer Fehldeutung entsteht.

Entbindung aus Einbindung verringert das Leid, das durch selbstgewählte oder beibe­haltene Beschränkung entsteht.

Zwang oder Wahl
Psychologische Beschränkungen können gewählt werden oder sie sind aufgezwun­gen. Der Zwang, diese oder jene Identifikation zu vollziehen, ist entweder exis­tenziell oder sozial. Der Zwang ist existenziell, wenn er dem Faktum des Ausge­setztseins auf der dualistischen Ebene der Wirklichkeit entspringt. Er ist sozial, wenn ihm das Gutdünken übermächtiger Bezugspersonen zugrunde liegt.

Psychologische Beschränkungen sind gewählt, wenn sie der Furcht des Individu­ums entspringen, mit sich selbst identisch zu sein. Psychologische Beschränk­ungen sind beibehalten, wenn sie ursprünglich erzwungen waren, nach Wegfall des Zwangs aber kein Impuls entsteht, sie abzustreifen.

4.1.1. Psychische Gesundheit

Seele

transpersonal

Psyche

intrapersonal

Man kann psychische von seelischer Gesundheit unterscheiden, obwohl sie faktisch ein Kontinuum bilden. Seelische Gesundheit ist ohne psychische nicht möglich, psychische ist unterwegs zur seelischen. Bei der Beschreibung der beiden Konzepte wird auf den Unterschied zurückgegriffen, der umgangssprachlich zwischen Seele und Psyche ge­macht wird. Beim Wort Seele wird eine Ebene mitgedacht, die die persönliche Existenz überschreitet. Psyche gilt als mentale Funktionsebene der separat konzipier­ten Person.

Psychisch gesund im Gegensatz zu psychisch normal ist derjenige, der Rollen zwar spielt, aber weiß, dass seine Identität darin nicht zu finden ist. Psychisch gesund ist, wer sein Weltbild als Konzept begreift, dem nicht er untergeordnet, sondern das ihm untergeordnet ist. Der psychisch Gesunde sagt: Ich bin eine Person, die außer dem Gesetz des Personseins keinem weiteren Gesetz untersteht.

Unterschiede
Seelische Gesundheit Psychische Gesundheit
Des-Identifikation von Rolle, Wertvorstellung und Person Des-Identifikation von Rolle und Wertvorstellung
Die Person ist in mir. Ich bin das Subjekt der Wirklichkeit. Ich bin im Körper. Der Körper ist in der Welt.
4.1.2. Spiritualität

Spiritualität ist der bewusste Blick über psychische Gesundheit hinaus. Wer sich spiri­tuell ausrichtet, findet sich nicht damit ab, bloß freie Person zu sein, deren Freiheit an den Grenzen des Personseins endet. Der Spirituelle fragt: Was bin ich darüber hinaus? Ist die Vorgabe, diese konkrete Person zu sein, Ausdruck einer Identität, die die Person übersteigt? Dazu versucht er, alle Aspekte des persönlichen Seins zu erkennen.

Sein und Wahrnehmung
Wahrnehmung ist ein dualistischer Prozess. Das Subjekt sieht das Objekt. Das Subjekt umfasst daher nicht die ganze Wirklichkeit. Vielmehr ist es deren Ich-sein-können. Die Identität des Subjekts geht über das Ich-sein-können hinaus. Das Subjekt muss Ich sein. Die Wirklichkeit kann Nicht-Ich sein.

Sein Bemühen um vollständige Erkenntnis seines relativen Selbst dient einem letzten Zweck: Das Erkannte als Objekt zu betrachten und sich davon loszusagen.

4.1.3. Selbstverwirklichung

Vollgültige seelische Gesundheit wird selten erreicht. Der Weg dorthin führt über die Des-Identifikation von der Person. Seelische Gesundheit besteht in der Verwirklichung des absoluten Selbst. Verwirklichung heißt dabei nicht, dass das absolute Selbst aus dem Nicht-wirklich-sein ins Wirklichsein entwickelt wird und sich in der Wirklichkeit als Wahrnehmungsobjekt erkennt; so dass es auf sich zeigen könnte und dabei sagt: Das da bin ich.

Selbstverwirklicht ist das Subjekt, wenn es sich aus der Illusion entbindet, Partikel in einem Gefüge anderer Partikel zu sein. Das sich selbst verwirklichende Subjekt entbindet alles, was es nicht selbst sein kann; und wird selbst dadurch entbunden. Dann steht es ihm frei, als entbun­denes Subjekt der Wirklichkeit wirksam zu sein.