Ob man sich einsam fühlt, wenn man allein ist, hängt davon ab, ob man sich selbst genügt oder ob man glaubt, dass man von anderen ergänzt werden muss.
Von außen betrachtet sind Einsamkeit und Alleinsein kaum voneinander zu unterscheiden. Tatsächlich sind es unterschiedliche Erlebnisweisen.
Der Unterschied liegt in der Ausrichtung des Bewusstseins und den emotionalen Folgen, die der Unterschied nach sich zieht.
Die Untersuchung des Begriffs allein fördert Einsichten zutage. Allein ist eine Bildung aus all und ein. All gehört im Sinne von ausgewachsen zur Wortgruppe um alt, die ihrerseits auf den indoeuropäischen Ursprung al- = wachsen zurückgeht. Das All ist das Älteste von allem. Es ist so alt, dass alles andere nach ihm kam. Für das All gibt es nichts, worauf es angewiesen wäre.
Allein sein zu können, entspricht einem Zustand der Reife. Wer allein sein kann, ist jenem Zustand entwachsen, in dem er biologisch noch keine autonome Einheit war: dem Zustand der Kindlichkeit.
Auch im Begriff einsam finden wir das Zahlwort eins. Was ihm aber fehlt, ist das all; und somit der Hinweis, dass die betreffende Einheit durch Wachstumsprozesse autonom geworden ist.
Vielsagenderweise geht die Endsilbe -sam in einsam auf die indoeuropäische Wurzel sem- = in eins zusammen, einheitlich, samt zurück. Diesem Stamm entspringt auch das Verb sammeln. Obwohl das Thema der Einsamkeit auf Einssein und Einheit verweist, zeigt die Bedeutungsfacette des Sammelns an, dass die psychologische Einheit nicht erreicht, sondern Ziel eines Prozesses ist, der nach fehlenden Teilen Ausschau hält, um sie einzusammeln. Einsam fühlt sich der Sammler, wenn er andere Personen für die fehlenden Teile seiner Einheit hält. Einsamkeit entspricht folglich einem Zustand, der die eigene Einheit nicht umfasst. Wer sich einsam fühlt, erlebt sich nicht als Ganzes, sondern bloß von den anderen abgetrennt.
Man sagt: Er kann gut mit sich allein sein. Man sagt nicht: Er kann gut mit sich einsam sein. Man kann allein sein. Aber man ist einsam oder mehr noch, man muss es sein, wenn man nicht allein sein kann. Wer allein sein kann, ist mit sich allein. Wer ohne sich allein ist, ist einsam.
Wenn Sie einsam sind, dann...
Objektkonstanz
Als Objektkonstanz bezeichnet die Psychologie die Fähigkeit des Kindes, die körperliche Abwesenheit der Mutter hinzunehmen, weil es ihre emotionale Gegenwart in seinem Bewusstsein aufrechterhalten kann.
Die Fähigkeit zur Objektkonstanz ist eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Autonomie. Volle Autonomie geht darüber hinaus. Sie erkennt das schützende Gute im eigenen Selbst.
Der Einsame richtet sich auf abwesende Personen aus, deren Zuwendung er vermisst. Da er sich nur wertvoll fühlt, wenn sein Wert von anderen bestätigt wird, erlebt er sich, allein gelassen, wertlos und verloren. Da er diese Gefühle nicht wahrhaben will, setzt er alles daran, sie aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Dazu schaut er von sich weg und versteift seinen Blick erst recht in die unbestimmte Ferne, wohin die Personen, deren Bestätigung er zu brauchen glaubt, verschwunden sind. Im Schatten seiner Achtsamkeit fürchtet er sich selbst als Vakuum. Die Gegenwart wird als bedrückende Leere empfunden.
Einsamkeit wird vor allem von Menschen erlebt, die abhängige Verhaltensmuster praktizieren. Der Abhängige ist überzeugt, dass er Bezugspersonen braucht, die für ihn entscheiden. Wenn niemand da ist, weiß er nicht, was er machen soll. Da etwas zu machen Angst vertreibt, fühlt er sich doppelt unbehaglich.
Wer allein mit sich ist, ohne sich einsam zu fühlen, glaubt im Gegensatz dazu nicht, dass nur die Liebe anderer ihm Wert verleiht. Daher begreift er das Alleinsein als Gelegenheit, sich ungestört mit der eigenen Aufmerksamkeit zu versorgen. Sein Blick bleibt in der Nähe, wo er die Gegenwart als Fülle erlebt. Wer sich seiner selbst bewusst ist, kann den Wert des Alleinseins schätzen.
Erfahrungsfelder
Einsamkeit | Alleinsein |
Blickt nach außen. | Blickt nach innen und außen. |
Übersieht sich. | Erkennt sich. |
Denkt ans Dort-und-Dann. | Bleibt im Hier-und-Jetzt. |
Hegt Ansprüche und Erwartungen. | Pflegt Selbstgenügsamkeit. |
Verharrt im Bedürfnis nach Zugehörigkeit. | Strebt nach Selbständigkeit. |
Passt sich vorauseilend an. | Handelt selbstbestimmt. |
Vereinnahmt | Respektiert |
Bekämpft unliebsame Gefühle. | Durchlebt Gefühle, wie sie kommen. |
Deutet Unerfülltsein von Bedürfnissen als Misslingen der Einheit. | Deutet Unerfülltsein von Bedürfnissen als Teil der Einheit. |
Kindliches Erfahrungsfeld | Entwachsenes Erfahrungsfeld |
Viele formal Erwachsene sind kindlichen Mustern keineswegs entwachsen. Abhängige Muster sind weit verbreitet. Sie belasten zwischenmenschliche Beziehungen und führen zu problematischen gesellschaftlichen Verhältnissen.
Der Mensch ist auf soziale Kontakte angewiesen. Es ist nicht nur so, dass der Einzelne erst da ist und von dort aus Kontakte sucht. Er ist aus dem Kontakt anderer heraus entstanden und kann sich überhaupt nur dadurch zu dem entwickeln, was er werden kann, wenn er seinerseits Bezogenheit erlebt. Die Polarität zwischen Gemeinschaft und Einsamkeit ist daher ein existenzielles Thema und die Fähigkeit, mit sich allein zu sein, ohne diesen Zustand prompt als Missstand zu erleiden, ist eine Fähigkeit, die erst errungen werden muss. Und selbst, wenn der Mensch die Fähigkeit dazu errungen hat, wird es ihm kaum je guttun, von da ab immer nur allein zu sein. Der Gewinn, den der Mensch aus sozialen Kontakten zieht, ist so groß, dass auch der Selbständigste auf Dauer nicht darauf verzichten kann, ohne dass seine innerseelische Dynamik verarmt und seine Stimmung in den Sinkflug geht.
Kinder sind in besonderer Weise auf Zuwendung angewiesen. Kleine Kinder gehen ohne fürsorgliche Bezugspersonen schlichtweg zugrunde. Fehlen Bezugspersonen oder sind sie unzuverlässig, fühlt das Kind sich zu Recht in seiner Existenz bedroht. Daraus können schwerwiegende Entwicklungsstörungen entstehen.
Die Mehrzahl der betroffenen Kinder neigt in der Folge dazu, Bezugspersonen zur Zuwendung zu verführen, indem sie deren tatsächliche oder vermeintliche Erwartungen vorauseilend erfüllen. Auch als Erwachsene handeln sie noch wie liebe Kinder. Sie sind von der Idee besessen, dass das Leben ohne andere selbst abschnittsweise nicht zu ertragen ist. Sie leiden ständig unter Trennungsangst.
Beide Verhaltensmuster dienen der Abwehr des bedrohlichen Gefühls der Einsamkeit. Beide Muster führen jedoch nicht in echte Gemeinsamkeit, sondern in Rollenspiele, die das Gefühl der Einsamkeit nicht beheben, sondern verdrängen. Das liebe Kind bleibt Untertan. Das schwarze Schaf bleibt Außenseiter. Ebenbürtige Begegnungen von gleich zu gleich entstehen nicht.
Wenn Sie sich einsam fühlen, stellen Sie sich dem Gefühl und Ihrem Problem. Stellen Sie nicht die Erwartung in den Raum, dass andere Ihr Problem lösen, indem sie auf eigene Freuden verzichten.
Verschiedene Bedingungen können dazu führen, dass Einzelne Sonderwege gehen. Drei davon seien erwähnt:
Autistischen Störungen liegen vermutlich neuropsychologische Defizite zugrunde (Bölte, Sven et al.: Neuropsychologie des Autismus, Zeitschrift für Neuropsychologie). Bei den Betroffenen sind Hirnregionen fehlentwickelt, die zur Wahrnehmung und Deutung interaktioneller Signale, z.B. Mimik, Gestik, Sprachmelodie, notwendig sind. Der Autist nimmt Signale eher als separate Details wahr, denn als Puzzle ganzer Gestalten. Resultat sind Beziehungsstörungen und sozialer Rückzug.
Selbstbestimmt ist der Rückzug des Eremiten (griechisch erēmos (ερημος) = leer, einsam, verlassen) in die Einsamkeit... So könnte man es sagen. Es so zu sagen, führt jedoch in die Irre. Was der Eremit sucht, ist in der Regel keineswegs Einsamkeit. Die Begegnung mit Menschen ist ihm vielmehr nicht Begegnung genug. Der Eremit zieht sich aus der Menschenwelt zurück, um jenseits von deren Oberflächlichkeit die Begegnung oder Vereinigung mit einer höheren Instanz zu erreichen. Die Leere, die der Eremit aufsucht, ist eine Einladung an die Fülle, darin aufzutauchen.
Oben wurden die Erfahrungsfelder des Alleinseins und der Einsamkeit einander gegenübergestellt. Zugleich wurde der Fähigkeit, mit sich allein im Einklang zu sein, eine höhere persönliche Reife zugeordnet. Das kann den Eindruck erwecken, die Erfahrung der Einsamkeit sei bloß pathologische Begleiterscheinung eines unreifen Realitätsbezugs, die sich bei hinreichender Reifung in Luft auflöst; und für den normalen Erwachsenen folglich kein Thema ist. Dieser Eindruck kann in die Irre führen.
Das persönliche Dasein des Individuums ragt als spezielles Sosein in die dualistische Ebene der Wirklichkeit hinein. Es trifft dort grundsätzlich auf Widrigkeiten von Seiten dessen, was der eigenen Person nicht angehört. Zu existieren (lateinisch existere = heraustreten), also etwas Fremdem gegenüberzustehen, ist die unmittelbare Existenzform der Person. Daher kann Einsamkeit fast überall erfahren werden; auch von Personen, die mit beiden Beinen voll im Leben stehen und im Kontakt mit anderen unbefangen sind.
Von daher stimmt es zwar, dass das Individuum durch umfassende Reifung dazu kommen kann, die Erfahrung der Einsamkeit als bloße Erfahrung und sein wahres Wesen als vollständig zugehörig zu erkennen, der Weg dorthin ist aber so weit, dass kaum jemand ihn zu Ende geht. Es ist der Weg zur mystischen Erkenntnis, von deren Hafen aus das Individuum versteht, dass sein Dasein in der Welt der Gegensätze ein Dortsein ist, das Dortsein in einer Erscheinungswelt wo Einsamkeit erfahren wird, ohne dass sie den Hafen des Erfahrenden erreicht.
Im Umgang mit dem Gefühl der Einsamkeit sind verschiedene Strategien möglich. Allein zu sein ist zunächst ein äußerer Zustand. Durch fehlendes Selbstbewusstsein wird er zur Einsamkeit. Dann wird der äußere Zustand von unangenehmen Gefühlsqualitäten begleitet. Unangenehme Gefühle kann man bekämpfen. Oder man kann etwas Richtiges tun. Tut man etwas Richtiges, führt das oft zur Gemeinschaft mit anderen.
Selbstbewusst ist, wer sich dessen bewusst ist, was ihn selbst ausmacht. Manches, was mich ausmacht, entdecke ich beim Alleinsein, anderes nur, indem ich anderen begegne.
Ohne die anderen kann ich mich nicht finden. Ohne sie zu verlassen, verliere ich mich.
Bei der Wahl zwischen Begegnung und Rückzug können verschiedene Motive bedeutsam sein.
Nicht jeder, der sich der Gemeinschaft entzieht, tut es, um mit sich allein zu sein. So mancher fürchtet sich vielmehr davor, in der Gemeinschaft von anderen vereinnahmt zu werden. Er entscheidet sich daher zur...
Flucht in die Einsamkeit
Während selbstbewusste Menschen passende Gelegenheiten nutzen, um mit sich allein zu sein, kann die Angst vor der Begegnung mit anderen zur Flucht in die Einsamkeit führen. Ein solches Muster nennt man schizoid. Der Schizoide geht anderen aus dem Weg, weil er davon überzeugt ist, der Kontakt zu Ihnen schadet mehr als er nützt.
Nicht jeder, der Gemeinschaft sucht, tut es, um anderen zu begegnen. So mancher fürchtet sich vielmehr, auf sich allein gestellt nicht zu bestehen. Er entscheidet sich daher zur...
Flucht in eine scheinbare Gemeinsamkeit
Während selbstbewusste Menschen passende Gelegenheiten dazu nutzen, in der Begegnung mit anderen eigene Impulse zu entdecken, kann die Furcht vor eigenverantwortlichem Handeln dazu führen, dass man ständig in der Gruppe Deckung sucht. Dann ist man zwar immer dabei, aber nicht wirklich mit anderen zusammen. Man versucht nicht in der Gemeinschaft eigene Positionen zu bestimmen, sondern einseitig im Gleichklang zu sein. Ein solches Muster nennt man abhängig oder dependent. Der Abhängige macht sich anderen nur soweit erkennbar, wie er dabei nichts riskiert; außer trotz äußerlicher Zugehörigkeit innerlich einsam zu bleiben.
Begegnung ist mehr als bloßes Zusammensein. Man kann zehn Jahre zusammen zur Arbeit gehen, ohne sich je zu begegnen. Man kann Kinder betreuen, ohne für sie jemals als individuelles Gegenüber erreichbar zu sein. Echte Begegnung heißt dreierlei:
Wer den Anderen wahrnimmt und ihn annimmt, wie er ist, ohne sich selbst dabei anzupassen, macht notwendige Schritte zur Überwindung der existenziellen Einsamkeit, die seinem Dasein als besondere Person grundsätzlich inneliegt.
Beziehung heißt, anderen entgegenzukommen. Tatsächliches Entgegenkommen ist aber nicht nur beflissene Verbrüderung, sondern oft auch Konfrontation. Wirklich zu einer Gemeinschaft gehört nur, wer es bei Bedarf riskiert, in der Gemeinschaft allein dazustehen; falls die Gemeinschaft tatsächlich Interesse an der Individualität jener Person hat, die zu ihr stößt.
Angebote zur Konfluenz gibt es zuhauf. Alle Gemeinschaften, die sich um unverrückbare Lehrsätze scharen, bieten scheinbare Gemeinsamkeit im Tausch gegen Zustimmung. Echte Gemeinschaft entsteht nicht durch bloße Vereinbarung einheitlicher Weltanschauungs- und Verhaltensmuster. Sie bedarf der Begegnung autonomer Personen und des Eingeständnisses, dass Sichtweisen individuell voneinander abweichen. Abweichende Sichtweisen prompt mit Sanktion zu belegen, mag ausgrenzende Gemeinschaften festigen, die Gemeinschaft als Ganzes nimmt dabei Schaden. Gemeinschaften, die individuelle Sichtweisen missbilligen, fördern Vereinzelung unter dem Deckmantel scheinbarer Verbundenheit.
Ein großer Teil dessen, was Gemeinschaften ausmacht, schöpft das Potenzial nicht aus. Häufig entbehrt Gemeinschaft echter Begegnung. Oft ist sie nur Rollenspiel, Gewohnheit, Stützkorsett bei fehlender Eigenständigkeit oder das Resultat vermiedener Abgrenzung gegenüber bloßem Gruppendruck. Obwohl fast jeder einem Netzwerk von Beziehungen angehört, ist Einsamkeit daher weit verbreitet.
Ein guter Weg, chronischer Einsamkeit zu entkommen, liegt in der kreativen Nutzung des Alleinseins. Von dort aus ist es leichter, echte Gemeinsamkeit zu finden.