Ein Wort macht den Unterschied
So wird es kommen. So soll es kommen!
Erwarten und Bewirken
Erwarten ist das Gegenteil des Bewirkens. Während die Erwartung eine passive Grundhaltung benennt, spricht das Bewirken vom aktiven Pol. Wie nicht anders zu erwarten, bewirkt das Bewirken mehr als das Erwarten.
Das Leben hat Sie geschaffen. Damit hat es Sie bejaht und angenommen. Das Leben erwartet, dass auch Sie sich annehmen... und dass Sie das Leben so bejahen, wie sich das Leben Ihnen anvertraut.
Das Beste, was Sie von einem Anderen erwarten können ist, dass er sich treu bleibt.
Der Begriff Erwartung besteht aus zwei Teilen: der Vorsilbe er- und dem Verb warten. Führt man sich vor Augen, was beide Teile bedeuten, gewinnt man Einblick ins Wesen einer problemträchtigen psychologischen Haltung: der Erwartung.
Er- signalisiert als Vorsilbe den Beginn eines Geschehens oder das Erfüllen eines Zwecks. Bei Verben, die mit er- beginnen, weist der auslautende Bestandteil auf das Mittel hin, durch das der Zweck erfüllt wird.
Dementsprechend spricht das Wort erwarten davon, das ein Ziel, nämlich die Verwirklichung des Erwarteten durch die Tätigkeit des Wartens erreicht werden soll. Von dem Zeitpunkt an, ab dem man etwas erwartet, braucht man zu dessen Verwirklichung nichts mehr zu tun.
Warten seinerseits geht auf das Hauptwort Warte zurück. Eine Warte ist ein Ausguck, von dem aus man Ausschau hält.
Antizipatorisch oder normativ
Von einer psychologischen Abhandlung kann man erwarten, dass sie sich an die Normen der wissenschaftlichen Wortwahl hält. Deshalb seien zwei Fremdwörter eingeführt: antizipatorisch und normativ.
Von einer antizipatorischen Erwartung spricht man, wenn man einen zukünftigen Ereignisverlauf für wahrscheinlich hält. Man geht davon aus, dass er eintrifft.
Deutlicher wird das Wesen der Erwartung, wenn man ihre Varianten betrachtet. Hinter der Erwartung kann eine bloße Vermutung stecken oder ein Anspruch.
Als Marian im Urlaub zu den Aleuten aufbrach, erwartete er pralle Sonne, Bikinimädchen und Beach-Life pur. Als er beim Verlassen des Flughafens von einem Eisbären angegriffen wurde, war er bitter enttäuscht. Seine Erwartung fußte auf einer Vermutung. Er dachte, die Aleuten liegen in der Südsee. Hätte er damals in Erdkunde beim alten Salzmann bloß mal besser aufgepasst!
Marians Erwartung war antizipatorisch.
Als Karl-Friederich zu seiner Vortragsreihe über die gerichtsmedizinische Abgrenzung der Eisbärenbissverletzung vom Sonnenbrand abreiste, hatte er erwartet, dass ihn die Aleuten bei der Ankunft mit Blumengirlanden überschütten. Da nichts dergleichen geschah, war er indigniert. Unglaublich mit welch insularer Dilettanz man auf den Aleuten mit Ehrengästen umspringt. Hinter Karl-Friederichs Erwartung steckte ein Anspruch.
Karl-Friederichs Erwartung war normativ.
Erwartungen spielen in zwischenmenschlichen Beziehungen eine zentrale Rolle: entweder als Hypothesen, wie der Andere sich wahrscheinlich verhalten wird oder als Ansprüche, wie er sich verhalten sollte. Antizipatorische Erwartungen treffen umso eher zu, je besser man sich kennt.
Normative Erwartungen werden umso problematischer, je enger eine Beziehung wird.
Hätte die Verkäuferin Mareike statt des georderten Müslibrots Schokocroissants in die Tüte gepackt, hätte Mareike auf ihrer Bestellung bestanden. Zum Glück war das nicht nötig. Die Verkäuferin erfüllte Mareikes Erwartung, ohne dass es zu Kampfhandlungen kommen musste.
Wussten Sie, dass Croissant auf Deutsch zunehmende Mondsichel heißt? Ich auch nicht. Erst jetzt habe ich bei Wikipedia den Hinweis darauf gefunden. Mal schauen, wie die Verkäuferin kuckt, wenn ich die Dinger das nächste Mal auf Deutsch bestelle.
Gibt es zwei Varianten eines Phänomens und könnte jede davon eintreffen oder nicht, ergeben sich vier Konstellationen.
Vier Konstellationen
Variante | Erwartung erfüllt oder nicht | Psychosoziale Problematik | Aus dem Alltag |
Vermutung | + | - | Florian hatte erwartet, dass sich Annika über die Einladung zu seinem Geburtstag freut. Das tat sie auch. |
- | - | Annika hatte gedacht, dass sich Florian über den gelben Pullover zum Geburtstag freut. Als er es nicht tat, tauschte sie ihn gegen blaue Socken um... Wohlgemerkt: den Pullover, nicht den Freund. Hätte Annika gekränkt reagiert, weil Florian der Pullover nicht gefiel, hätte hinter ihrer Erwartung ein Anspruch gestanden: dass Florian ihr durch seine Begeisterung über das Geschenk bestätigt, wie gut sie seine Wünsche erraten kann. Dann hätte sie womöglich ihn ausgetauscht: gegen Jens. | |
Anspruch | + | + | Jens erwartet, dass ihm Silke morgens ein gebügeltes Hemd bereitlegt. Solange sie es tut, ist seine Welt in Ordnung. |
- | +++ | Silke macht wegen Depressionen eine Therapie. Als sie Jens darum bittet, zukünftig selbst seine Hemden aus dem Schrank zu holen, schmollt er drei Tage lang. |
Ob eine Erwartung auf einer bloßen Vermutung beruht oder ob ein Anspruch dahintersteckt, zeigt sich, wenn die Erwartung enttäuscht wird.
Eine Erwartung, die sich als irrige Vermutung entpuppt, wird ohne emotionalen Aufwand korrigiert; oder die überraschende Erkenntnis des Irrtums führt gar zu Heiterkeit.
Beim Anspruch fühlt sich der, dessen Erwartung unerfüllt bleibt, zurückgewiesen oder abgewertet. Er zieht sich gekränkt zurück, oder macht Druck, um seinen Anspruch durchzusetzen.
Irrtümliche Vermutungen machen wenig Probleme, Ansprüche umso mehr. Selbst wenn ein Anspruch konfliktfrei erfüllt wird, hat er unerwünschte Nebenwirkungen. Er fixiert die Beziehungspartner in ein starres System. Wird er nicht erfüllt, kommt es zu innerseelischen oder interaktionellen Konflikten.
Je persönlicher eine Beziehung wird, desto riskanter ist es, den Anderen Erwartungen auszusetzen, hinter denen Ansprüche stehen. Nicht weil der Andere zu schlecht wäre, als dass man von ihm etwas erwarten könnte. Das wird er in der Regel nicht sein. Ansprüchliche Erwartungen führen jedoch zu eigener Passivität; und sie vergiften Beziehungen.
Gehört eine normative Erwartung zum Weltbild des einen, ohne dass die Setzung vom anderen mitgetragen wird, entsteht Zwietracht.
Wer etwas erwartet, ist in einer Warteposition. Statt im eigenen Interesse zu handeln, erwartet er, dass andere etwas für ihn tun: sich nämlich so zu verhalten, wie es zu den unerfüllten Bedürfnissen des Wartenden passt. So macht er sich abhängig. Abhängigkeit führt zum Gefühl der Ohnmacht und, falls das Erwartete ausbleibt, zu Aggression.
Zwei Pole des Erwartens
Erwarten ist nicht gleich erwarten. Das Warten kann aus einer passiv-ergebenen Haltung heraus geschehen. Bleibt das Erwartete aus, führt das zur Resignation. Oder dem Erwarten ist ein Bewirkenwollen beigemischt. Dann ist das Erwarten fordernd. Aus der Forderung entsteht Zwietracht.
Zwei Formen des Bewirkens
Reifes Muster | Unreifes Muster |
Je reifer man ist, desto mehr versucht man, Bedürfnisse und Wünsche durch eigene Fähigkeiten zu erfüllen. | Je unreifer man ist, desto mehr spannt man andere für die Erfüllung von Bedürfnissen und Wünschen ein. |
Im reifen Muster strebt man nach Selbständigkeit. Man wirkt aus eigener Kraft unmittelbar auf die Wirklichkeit ein. | Im unreifen Muster bleibt man abhängig. Man wirkt selektiv, also einseitig mit gezielter Beeinflussungsabsicht auf den Anderen ein. |
Das reife Muster setzt an überpersönlichen Tatsachen an. | Das unreife Muster setzt am Gegenüber an, ohne das Gegenüber als solches zu achten. |
Das reife Muster setzt frei. | Das unreife Muster vereinnahmt. |
Zwei Muster der Beziehung
Ich lasse Dich sein, wie Du bist... | Ich erwarte von Dir, dass... |
Etwas vom Anderen zu erwarten, führt beim Anderen zu einer Zuspitzung des psychologischen Grundkonflikts. Wer etwas erwartet, weist dem Anderen eine bestimmte Rolle zu. Da der Impuls zur Selbstbestimmung angeboren ist, aktiviert er damit Widerstand. Der Andere fühlt sich durch die Erwartung in seiner Freiheit eingeschränkt. Entweder, er verweigert das Erwartete, um seine Autonomie zu bewahren, oder er beugt sich im Interesse der Zugehörigkeit. Beugt er sich, wird er den Verlust an Autonomie an anderer Stelle in Rechnung stellen.
Kinder sind von der Hilfe ihrer Eltern abhängig. Vieles können sie nicht selbstständig erreichen. Dementsprechend sind viele Erwartungen von Kindern an Erwachsene ein stimmiger Ausdruck ihres Wesens. Werden kindliche Erwartungen zu früh und zu drastisch enttäuscht, weil ihre Eltern von ihrer Rolle überfordert sind oder schlichtweg zu egoistisch, um Elternpflichten zu erfüllen, wird die kindliche Entwicklung gestört.
Statt unter dem Schutz achtsamer Eltern Mut und Selbständigkeit zu entwickeln, verlieren solche Kinder das Vertrauen in den guten Gang der Dinge. Sie werden übervorsichtig. Statt eigene Fähigkeiten auszutesten und durch ein ausgewogenes Wechselspiel von Erfolg und Scheitern persönlich auszureifen, verlassen sie sich lieber auf andere.
Die Psychologie spricht von einer Fixierung. Das Festhalten an der kindlichen Vorstellung, dass es fürsorgliche andere geben sollte, die sich um das Wohl des Fixierten kümmern, führt in einen Kreislauf, der das Problem vertieft.
Vorwurf
Hinter jedem Vorwurf steckt eine normative Erwartung. Wird jemandem eine Schuld vorgeworfen, ergibt sich daraus nahtlos die Erwartung, dass er sie begleicht. Jeder Vorwurf ist ein Habenwollen.
Statt sich auf den Erwerb eigener Fähigkeiten zu konzentrieren, und dazu gehört auch die Fähigkeit, es gelassen hinzunehmen, wenn Bedürfnisse vorerst unerfüllt bleiben, spezialisiert sich so mancher auf die Techniken der Manipulation.
Riskante Methoden der fordernden Erwartungshaltung
Wer solche Techniken gut beherrscht und ein geeignetes Gegenüber findet, das unter Trennungsängsten leidet, kann damit recht erfolgreich sein. Auf Dauer werden asymmetrische Beziehungen, bei denen der eine den anderen für seine Bedürfnisse vereinnahmt, jedoch zerrüttet.
Erwartungshaltungen entsprechen einer passiven Grundposition. Die fordernde Erwartungshaltung (englisch demanding dependency) wird aber erst durch ihre aktive Komponente wirklich problematisch. Um das Grundprinzip zu verstehen, das diese Art des Bewirkenwollens von der unproblematischen Art unterscheidet, gilt es zwischen den zwei Polen der menschlichen Existenz zu unterscheiden.
Der Mensch ist Subjekt und Objekt zugleich. Zum Wesen des Subjekts gehört eine besondere Dynamik. Zum einen ist es den Dingen ausgeliefert, zum anderen kann es sein Wesen nur erfüllen, wenn es die Erlösung aus dem Ausgeliefertsein betreibt. Daher liegt das Bedürfnis nach Selbstbestimmung im Wesen der Subjektivität verankert.
Je intimer eine zwischenmenschliche Beziehung ist, desto mehr gerät sie zu einer Begegnung zweier Subjektivitäten.
Der Begriff zwei Subjektivitäten ist ein sprachliches Hilfskonstrukt. Tatsächlich gibt es nur ein Subjekt. In einer absolut erwartungsfreien Begegnung wird den Beteiligten die Einheit ihrer Subjektivität gewahr. Die indische Philosophie sagt: Tat tvam asi. Der Andere bist Du.
Da in der intimen Beziehung aber das Subjekt angesprochen ist, wirkt die Zuweisung einer objektiven Funktion durch eine Erwartung zerstörerisch. Je intimer eine Beziehung werden soll, desto mehr muss sie das ursprüngliche Sosein des Anderen beachten.
Definierte Rollen
Begegnen sich Menschen nicht als Subjekte, sondern liegt der Schwerpunkt auf dem objektiven Pol, dann sind Erwartungen weniger problematisch. Der Schwerpunkt liegt auf dem objektiven Pol, wenn man sich im Rahmen definierter Rollen begegnet.
Dass ein Kunde vom Verkäufer Beratung erwartet, wird das Verhältnis kaum trüben, ebenso wenig wenn ein Kellner vom Gast normativ erwartet, dass er die Speisen bezahlt.
Das Erläuterte zeigt zweierlei:
Die Erwartung des Kellners ist nicht unreif, da sie sich nicht an das Subjekt des Gastes richtet, sondern an dessen objektive Rolle als Gast.
Der Unterschied zwischen reifem und unreifem Bewirken liegt am Angriffspunkt der Aktivität. Die fordernde Erwartungshaltung ist verfehlt, weil sie ein Subjekt ohne Erklärung zum Objekt macht.
Menschen neigen zu unterschiedlichen Grundmustern bei der Formulierung antizipatorischer Erwartungen. Es gibt Optimisten, Pessimisten und Realisten. Die Wahl des Musters kann über das ganze Leben entscheiden.
Der Optimist glaubt, die Dinge laufen optimal (lateinisch optimus = der Beste). Optimal heißt: Gibt es in der Zukunft verschiedene Möglichkeiten, kommt es stets so, wie es für den Optimisten am besten ist.
Nachdem Karl-Friederich Marians Eisbärenbissverletzung versorgt hatte - es handelte sich zum Glück nur um einen harmlosen Kratzer -, war Marian wieder zuversichtlich. Wenn das Schicksal ihn auf die Aleuten verschlug, dann gewiss nur, damit er hier der süßesten Aleutin begegnet, die der Archipel je zu Gesicht bekam. Und es wäre doch gelacht, wenn dieses Geschöpf einem Helden, der verletzt vom Kampf gegen Eisbären zurückkehrt, nicht seufzend in die Arme fiele.
Karl-Friedrich war derweil der Ansicht, dass das Fehlverhalten der Aleuten einem bloßen Bildungsdefizit anzurechnen sei und dass sie, wenn er den Vortrag erst einmal gehalten hat, ihn nicht nur mit Blumengirlanden überschütten, sondern zugleich in ekstatische Zuckungen verfallen würden.
Karl-Friederich und Marian hatten eins gemeinsam: Sie waren unverbesserliche Optimisten.
Namensgebung :)
Entgegen optimistischer Annahmen, den Bewohnern der Aleuten werde zugestanden, den klangvollen Namen Aleutinaken zu tragen, gibt sich die deutsche Sprache nicht die Mühe, sie namentlich von ihren Inseln zu unterscheiden. Sie speist uns mit dem Begriff Aleuten ab. Das muss nicht sein. Hätte das Deutsche im Falle der Guatemalteken die gleiche Dummheit begangen, wären wir des schönen Begriffs beraubt und müssten uns mit einem tumben Guatemaler begnügen. Im Falle der Aleuten kommt das schlechte Wetter ihrer Heimat hinzu. Ein Volk, das so tapfer in Nässe, Nebel und Dunkelheit ausharrt, hat einen Namen verdient, der sich vom klammen Boden gischtumtoster Eilande ins Licht erhebt. Daher wird der Petitionsausschuss des Bundestages angerufen: Abgeordnete! Nutzen Sie Ihre Macht zu etwas Sinnvollem. Ändern Sie die Volksbezeichnung der Aleuten in Aleutinaken.
Pessimismus geht auf das lateinische pessimus zurück. Pessimus ist der Superlativ von malus = schlecht. Während der Optimist von der Zukunft erwartet, dass sie seine Wünsche erfüllen wird, erwartet der Pessimist das Gegenteil: die Verwirklichung all seiner Befürchtungen.
Ausgestorbene Spezies :)
Früher gab es reine Pessimisten und reine Optimisten. Beide Spezies sind ausgestorben.
Beim letzten reinen Pessimisten handelte es sich um einen nicht namentlich bekannten Australopithecinen. Man fand ihn in der Astgabel eines versteinerten Mangobaums. Der Australopithecine war davon überzeugt, dass die Mango, die unweit im Geäst des Baumes hing, herabfallen würde, bevor es ihm gelänge, sie zu ernten. Für den Fall, dass er vom Baum stiege, um die herabgefallene Mango am Boden zu verzehren, erwartete er mit tiefster Überzeugung, dass ihn dann prompt Hyänen fräßen. Der Australopithecine verhungerte, bevor er sein zögerliches Erbgut weitergeben konnte.
Der Zeitabstand vom Pleistozän, als der letzte reine Pessimist verhungerte, und dem Jahr 2014 vor Christus, als Ugudulf erfror, ist beträchtlich. Offensichtlich ist Optimismus eine bessere Erfolgsstrategie als Pessimismus; wenngleich auch Optimismus - zumindest in der reinen Form - als lebensgefährlich zu gelten hat.
Nach Redaktionsschluss...
... erreichte uns die Meldung, dass Ugudulf wohlauf ist. Er befindet sich im Paradies. Dort betreibt er eine Manufaktur für Wollpullover, mit denen er Reisende ausstattet, die unterwegs in die Berge sind um Fledermäuse zu beobachten. Keinen der Reisenden lässt Ugudulf jedoch weiterziehen ohne ihm von seiner wundersamen Rettung zu berichten. Als er nämlich der Kälte fast erlegen war und sich die Sterne am Himmel schon blau verfärbten, kam die Heilige Susanna mit einem Krug frisch aufgebrühten Husten- und Bronchialtees vom Firmament herab, taute den froststarren Optimisten mit ihrer Herzensgüte wieder auf und nahm ihn mit ins Reich der Herrlichkeit. Der Vorgang belegt, dass ungetrübter Optimismus zwar dem Wohlmeinen des Jenseits gegenüber angebracht sein mag, nicht jedoch der Witterung des Westgotenlands.
Der Begriff Realismus geht auf das lateinische res = Sache zurück. Der Realist orientiert sich nicht an Hoffnungen, Wünschen und Befürchtungen, sondern an Tatsachen, die er feststellen kann.
Während das Beste und das Schlechteste Bewertungen sind, also Vorstellungen und Urteile im Kopf des Bewerters, liegen Tatsachen in der Wirklichkeit. Dort sind sie Leitschnur... für den, der sie beachtet.
Optimismus hat unter Psychologen mehr Fürsprecher als sein trüber Gegenpol: der Pessimismus. Doch Vorsicht: Optimismus ist nur dort behilflich, wo Realismus das Terrain bereits erkundet hat. Wer mit einem Es wird schon gut gehen! in die Eigernordwand steigt, könnte dort Dinge erleben, die er als Pessimist nicht einmal befürchtet hätte.
Erwartungen können Probleme schaffen... und sie können krank machen. Dabei sind zwei Störungsbereiche zu unterscheiden.
Antizipatorische Erwartungen sind nützliche Werkzeuge der Verhaltenssteuerung: wenn sie zutreffen. Ein mangelnder Realitätssinn oder fehlende Erfahrungen führen zu einem antizipatorischen Defizit, also einer irrigen Hypothesenbildung.
Antizipatorische Erwartungen führen umso weniger in die Irre, je realistischer die Wirklichkeitseinschätzung dessen ist, der sie hegt. Faktoren, die zu unrealistischen Einschätzungen der Wirklichkeit beitragen, führen dementsprechend zu gehäuftem Scheitern.
Jedes Scheitern durch irrige antizipatorische Erwartungen untergräbt Zuversicht und Selbstwertgefühl. Es drohen Depressionen und Ängste.
Bestimmte Persönlichkeitsvarianten sind ohne einen Überschuss an normativen Erwartungen nicht denkbar.
Eine Sonderstellung nimmt die depressive Persönlichkeit ein. Sie erwartet vordergründig nicht, dass man ihre Erwartungen erfüllt. Sie verhält sich vielmehr so, als sei die Erfüllung der Bedürfnisse und Erwartungen anderer Gesetz. Ihre normative Erwartung, dafür gehörigen Dank zu erhalten, liegt aber stets sprungbereit auf der Lauer.
Normative Erwartungen formuliert man als Täter. Kaum jemand ist davon völlig frei. Fast jeder macht sich im Kopf zu einem Regisseur, der das Verhalten anderer bestimmen will und steuernd reagiert, wenn der Andere vom Drehbuch abweicht. Das ist ein Übel.
Grundregel
Statt die Freiheit des Anderen zu beschränken, befreien Sie sich selbst aus Ihren Schranken. Denn: Wer die Freiheit des Anderen beschränkt, macht sich unbeliebt. Wer den Mut zu freiem Handeln hat, wird respektiert.
Normativen Erwartungen ist man aber auch als Opfer ausgesetzt. Kaum jemand lebt in einem Umfeld selbstlos liebevoller Menschen. Fast jeder sieht sich mit Erwartungen konfrontiert und mit übergriffigen Reaktionen, wenn er sie nicht erfüllt. Das kann zu einer Plage werden.
Da normative Erwartungen das seelische Gleichgewicht bedrohen, Beziehungen zerrütten und die Kommunikation in Sackgassen führt, sucht so mancher einen Ausweg. Für Täter und Opfer seien Möglichkeiten dazu angedeutet...
Respektieren Sie das Selbstbestimmungsrecht der anderen. Unterlassen sie alle Versuche der Manipulation und erst recht jede Drohung. Statt dem Anderen die Freiheit streitig zu machen, genau das zu tun, was er für richtig hält, nehmen Sie sich selbst die Freiheit, konsequent im eigenen Interesse zu handeln.
Sie sind unzufrieden mit dem Beitrag, den Ihr Partner im Haushalt leistet. Sie haben ihn darauf angesprochen, um einen Kompromiss zu finden. Ihr Partner hält Absprachen jedoch nicht ein. Die meiste Arbeit bleibt an Ihnen hängen. Falsch wäre es, über das Thema zu streiten. Besser ist, keine Hemden mehr für ihn zu bügeln.
Indem Sie die Hemden liegen lassen, sparen Sie Arbeit ein. Das gestörte Gleichgewicht des Gebens und Nehmens wird um das Gewicht des eingesparten Bügelns ausgeglichen. Indem die Hemden liegen bleiben, entstehen Tatsachen, denen Ihr Partner schwerer ausweichen kann, als beschwörenden Worten. Vermutlich wird er bald aktiv.
Da niemand, der sich selbst verleugnet hat, es gerne sieht, wenn andere in Treue zu sich halten, geht von dem, der sich normativem Druck des Umfelds beugt, der Anspruch aus, dass andere das Gleiche tun.
Sehen Sie sich mit Erwartungen des Umfelds konfrontiert, gilt es zunächst zu unterscheiden.
Wenn Sie Erwartungen erfüllen, die Sie für stimmig halten, wird das zu Ihrem Vorteil sein. Problematisch wird es, wenn Ihnen eine Erwartung unberechtigt erscheint. Dann stellt das Leben Sie vor die Wahl...
Das Erstere wird gelegentlich weise sein. Das Letztere fällt umso leichter, je weniger Sie Ihrerseits den Anderen mit normativen Erwartungen bedrängen. Erwarten Sie von ihm, dass er jede Ihrer Entscheidungen für gut befindet und Sie stets bejaht, führt das in eine Verstrickung wechselseitiger Bemächtigungsversuche.
Erlauben Sie dem Anderen, dass er emotional so reagiert, wie ihm tatsächlich zumute ist. Dann werden auch Sie dazu befreit, Sie selbst zu sein.