Wahn


  1. Begriff und Prinzip
  2. Vorkommen
  3. Wahnthemen
  4. Entstehungsmechanismen
  5. Abgrenzungen und Übergänge
  6. Religiöse Überzeugungen
  7. Politische Extreme
  8. Therapie
Wahn ist Vorstellung. Wahnhaft ist, wer Vermutungen zur Gewiss­heit erklärt, ohne zu erkennen, dass er ihre Gewissheit nicht erkennen kann.

Systematischer Wahn ist ein Missbrauch des Denkens zum Schutz der Person.

1. Begriff und Prinzip

Wer wähnt, geht von irrigen Vermutungen aus, die er selbst in die Welt setzt oder die er ungeprüft von anderen übernimmt. Statt wahrzunehmen, was wahrnehmbar ist, entwirft der Wahn­kranke Vorstellungsbilder, die er zur Realität erklärt.

Sprachgeschichtlich gehen Wahn und wähnen auf dieselbe indo­germanische Wurzel wie gewinnen zurück: uen[ǝ]-. In ihrer Grundbedeutung benennt die Wurzel ein Umherstreifen, Trachten und Nach-etwas-Suchen.

Selbst wenn sein Inhalt oft so erscheinen mag, ist Wahn nicht nur abwegig, sinnlos und absurd. Er hat vielmehr ein Ziel und bietet Gewinn. Er entzündet sich am Unterschied zwischen dem, was wirklich ist, und dem, wie der Kranke sich und die Welt gerne sähe. Wahn ist der Versuch, einen Kampf gegen die Wirklichkeit durch Bilder zu gewinnen. Je mehr der Wahnkranke seinen Irrtum verleugnet, desto weiter versteigt er sich in Sichtweisen, die das Umfeld nicht teilt. Das gesteigerte Beharren auf dem abwegigen Inhalt wird zum Werkzeug des Wahnkranken, um ein Eingeständnis seiner Verirrung zu vermeiden.

Ein erster Krankheitsgewinn des Wahns liegt in der Illusion, Gewissheit zu haben. Da Wissen als Macht empfunden wird, vermittelt auch das vermeintliche Wissen des Wahns ein Gefühl persönlicher Sicherheit; und zwar ungeachtet dessen, ob er die persönliche Sicherheit durch seinen Inhalt in Frage stellt.

So entsteht ein paranoider Kreislauf: Je schwerer der Irrtum ist und je länger er behauptet wird, desto mehr Mut bräuchte der Kranke, sich den Irrtum einzugestehen und sich dadurch zusätzliche Verunsicherung zuzumuten. Oft hat er ihn nicht.

Wahnhaftes Erleben

Ich weiß, dass die Nachbarn Böses wollen. Wer mich vom Gegenteil zu überzeugen versucht, steckt mit ihnen unter einer Decke. Zu Hause werde ich mit Mikrofonen abgehört. Durchs Fernsehen sendet man mir verschlüsselte Botschaften zu. Auf der Straße schauen mich alle an. Ich werde nahtlos überwacht.

Wahn und Wahrnehmung

Typisch für paranoides Erleben sind Wahn­wahrnehmungen.

Als ein roter Wagen um die Ecke bog, wusste ich, dass ich bis aufs Blut würde kämpfen müssen.

Die Wahnwahrnehmung zeigt, wie neutrale Wahrnehmungen durch Vorstellungsinhalte überlagert werden. Statt die Wahrnehmung so stehen zu lassen, wie sie ist, werden Zusammenhänge hinein­interpretiert. Resultat sind abgekapselte Weltbilder, deren Struktur von den Ängsten und Wünschen des Egos bestimmt wird.

2. Vorkommen

Wahn ist ein häufiges Symptom der Psychose. Er kommt bei verschiedenen Erkrankungen vor und ist meist mit typischen Begleitsymptomen verwoben. Bei der Wahnhaften Störung, der sogenannten Paranoia, ist die Wahnbildung in der Regel das einzige Symptom der Krankheit. Treten weitere psychotische Symptome hinzu, schließt das die Diagnose einer Wahnhaften Störung aus. Man wählt dann eine andere diagnostische Kategorie.

Krankheiten mit Wahnbildung gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO

Name ICD Merkmale
Alzheimer­krankheit F00 Meist kein systema­tischer Wahn
Begleitet vom Abbau kognitiver Funktionen
Gedächtnis­störungen, Desorien­tierung, Verwirrtheit
Vaskuläre Demenz F01 Ähnlich wie bei der Alzheimer­krankheit
Delirium tremens F10.4 Flüchtige wahnhafte Verkennungen im Rahmen des Alkohol­entzugs
Psychotische Störung bei Konsum psychotroper Substanzen F11.5
-19.5
Wahnbild­ungen unter Drogen­einfluss
Schizo­phrenie F20 Systematischer oder flüchtiger Wahn, begleitet von Ich-Störungen und Halluzinationen
Wahnhafte Störung
Paranoia
F22 Systematischer Wahn ohne Begleit­symptome
Akute vorübergehende psychotische Störung F23 Wahnbildungen bei vorüber­gehenden psychotischen Zuständen
Induzierte wahnhafte Störung
(Folie à deux)
F24 Übertragung eines Wahninhaltes von einer dominanten auf eine regressive Person
Schizoaffektive Störung F25 Schizo­phrener Wahn bei zeitgleich depressiver oder maniformer Störung
Manie F30 Größenwahn bei gehobener Stimmung
Depression F32.3 Verschul­dungs-, Versündi­gungs- oder Verarmungs­wahn bei schweren depressiven Episoden
Borderline-Syndrom F60.3 Flüchtige Wahn­bildungen bei Erregungs­zuständen

3. Wahnthemen

Obwohl im Grundsatz jede Überzeugung wahnhaft werden kann, also durch gegen­läufige Beweise und Indizien unkorrigierbar, kreist wahnhaftes Denken meist um bestimmte Themen, die mit der existenziellen Position des Menschen in Gesellschaft und Kosmos in Verbindung stehen. Dazu gehören:


Typische Wahnbilder und ihre Themen

Name Erscheinungs­bild
Verfolgungs­wahn Überzeugung, durch andere Leute oder anonyme Mächte überwacht, beobachtet, verfolgt oder bedroht zu werden
Beeinträch­tigungswahn Überzeugung, durch Gedankeneingebung, leibliche Beeinflussung oder physikalische Kräfte gesteuert, verändert, beherrscht oder beeinflusst zu werden
Hypochon­drischer Wahn Überzeugung, schwer erkrankt zu sein
Im Gegensatz zur hypochondrischen Störung finden sich dabei oft skurrile Vorstellungen über Anatomie und Funktionsweise des Körpers; zuweilen verbunden mit zoenästhetischen Halluzinationen, also Wahrnehmungsstörungen, die sich nicht auf die Felder der Sinnesorgane beziehen, sondern auf die Binnenwahrnehmung leiblicher Prozesse.
Nihilis­tischer Wahn Überzeugung, nicht mehr zu existieren oder Überzeugung, dass die ganze Welt nicht existiert
Verarmungs­wahn Wahnhafte Überzeugung, finanziell ruiniert zu sein
Schuldwahn Wahnhafte Überzeugung, sich durch verwerfliches Handeln versündigt zu haben
Sexueller Wahn Wahnhafte Überzeugungen, die sich um sexuelle Themen ranken: zum Beispiel, dass sexuelle Phantasien von anderen ausgelesen werden können
Liebeswahn
Erotomanie
Wahnhafte Überzeugung mit einer anderen Person in einem geheimen Liebesverhältnis zu stehen, oder von einer Person geliebt und begehrt zu werden, obwohl diese Person das nicht offen äußert
Größenwahn Wahnhafte Überzeugung, besondere Fähigkeiten zu haben
Abstam­mungs­wahn Wahnhafte Überzeugung, ein Kind berühmter Eltern zu sein
Berufungs­wahn Wahnhafte Überzeugung, zu einer besonderen Rolle berufen zu sein
Dermato­zoenwahn Überzeugung, dass die Haut von Parasiten besiedelt ist. Gehäuftes Vorkommen bei Kokain- und Stimulanzienmissbrauch.

Mit Abstand am häufigsten ist der paranoide Wahn. Seine zentralen Themen sind Selbstbestimmung und Ausgeliefertsein. Der Kranke wähnt sich bösen Mächten ausgesetzt. Er sichert ein Stück Selbstbestimmung indem er unverrückbar auf seiner Deutung beharrt. Der paranoide Wahn entspricht dem Archetypus der umgangssprachlichen Verrücktheit. Die Perspektive des Kranken ist in eine Position verrückt, die zu Realitätsdeutungen führt, die andere nicht nachvollziehen können.

Die verschiedenen Varianten des Größenwahns befassen sich mit dem Eigenwert. Beim Liebes-, Abstammungs- und Berufungswahn ist offensichtlich, dass sich der Kranke durch seine wahnhafte Deutung die Illusion eines besonderen Selbstwerts verschafft.

Am anderen Ende kreisen Wahnthemen um Unwert, Vernichtung und Schuld. Meist sind sie mit schweren Depressionen verschwistert; entweder indem sie die quälende Schwermut durch Erklärungsmodelle bebildern oder indem ihre düstere Weltdeutung die Schwermut vertieft.

4. Entstehungsmechanismen

Wahn kann flüchtig sein. Dann wird er auf Irrtum beruhen und im Nichts verschwinden, wenn der Irrtum erkannt wird. Wahn kann aber auch systematisch sein. Dann sind psychologische Mechanismen am Werk, die das Eingeständnis der Verirrung vor sich selbst und anderen verhindern. Zum besseren Verständnis der psychologischen Besonderheiten, die ins Wahnerleben führen, mag es nützlich sein, sieben Aspekte hervorzuheben, die sich psychodynamisch überlappen und ineinander verzahnen:

  1. der Verbindung von Wahn und psychologischem Grundkonflikt
  2. der Rolle des Denkens bei der Entstehung des Wahns
  3. der Störung der Selbstakzeptanz des Wahnkranken
  4. des psychologischen Interesses, am Wahn festzuhalten
  5. des Zusammenhangs zwischen mangelnder Selbstwahrnehmung und Beziehungserlebnissen
  6. der überspitzten Egozentrik des mutwilligen Wähnens
  7. die Verleugnung der Bedeutungslosigkeit der Person
4.1. Wahndynamik und psychologischer Grundkonflikt

Beim Wahn treffen beide Impulse des Grundkonflikts mit Wucht aufeinander. Sie verschmelzen zu einer krankhaften Legierung, bei der der Kranke weder zwischen Ich und Nicht-Ich noch zwischen Wirklichkeit und Phantasie eindeutig unterscheidet.

Im Wahn werden Meinungen willkürlich zur unumstößlichen Wahrheit erklärt und jeder Abgleich mit anderen Sichtweisen verweigert. So wird ein autonomer Binnenraum gegen Einflüsse von außen abgesichert. Je weniger der Wahninhalt aber von anderen bestätigt wird, desto mehr verliert der Kranke das Gefühl der Zugehörigkeit. Die Unerträglichkeit der zunehmenden Absonderung treibt ihn schließlich in die Phantasie, dass alles um ihn herum auf ihn selbst bezogen ist. Man spricht von einem wahnhaften Beziehungserleben. Der Kranke sieht sich nicht nur als Zentrum des eigenen Erlebens, sondern zunehmend als Zentrum sämtlicher Ereignisse überhaupt.

Wahnarbeit

Flüchtige Wahnbildungen können im Rahmen illusionärer Verkennungen durch verschiedene organisch oder toxisch bedingte Beeinträch­tigungen der Sinneswahrnehmung oder der zentralnervösen Informationsverarbeitung angestoßen werden.

Im Delir verwechselt Erwin den Krankenpfleger kurzfristig mit seinem Onkel.

Erst beim systematischen Wahn, wie er bei der Paranoia, also der Wahnhaften Störung oder der Schizophrenie vorliegt, spielen Abwehr­mechanismen zur Festigung des wahnhaften Weltbilds eine maßgebliche Rolle. Statt einer flüchtigen Verkennung entsteht eine unerschütterliche Überzeugung.

Durch die Phantasie der paranoiden Bezogenheit wird eine wahnhafte Zugehörigkeit erlebt. Durch den meist feindselig gedeuteten Bezug bleibt die Distanz zugleich gewahrt und das brüchige Autonomiegefühl wird aufs Neue gefestigt.

Pathologische Selbstbestimmungen
Wahn tritt regelhaft bei Schizophrenen auf. Gleichzeitig zeigt schizophrenes Verhalten oft drei weitere Merkmale. Es wirkt...
  1. verschroben
  2. verstiegen
  3. manieriert

Auch diese Symptome lassen sich vor dem Hintergrund des psychologischen Grundkonflikts deuten. Es sind pathologische Varianten der Selbstbestimmung. Wahn hält an willkürlichen Behauptungen fest. Schon das Wort Behauptung zeigt, dass er dem Kranken dazu dient, sich gegenüber anderen abzugrenzen. Verschrobene Vorstellungen, verstiegene Ideen und manieriertes Verhalten haben ähnliche Effekte. Sie weisen dem Kranken eine Besonderheit zu, durch die er sich sichtbar unterscheidet. Sie sind eigenartig. Das heißt: Sie betonen seine Eigenart.

Wahn und verschrobene Ideen vereinnahmen den Verstand für missbräuchliche Zwecke. Es werden eigenwillige Standpunkte eingenommen um eine Selbstbe­stimmtheit zu simulieren, die als Ersatz für echte Selbstbestimmung durch Selbstbeachtung gedeutet werden kann.

Es mag sein, dass ich sonst unterworfen bin, meine Überzeugung kann mir aber niemand gegen meinen Willen streitig machen.

Wenig überrascht, dass diese willkürliche Selbstbestimmtheit den Kranken sozial isoliert. Man spricht auch von einem psychotischen Autismus. Der Psychosekranke lebt in seiner privaten Vorstellungswelt, die mit der Vorstellungswelt anderer kaum vereinbar ist. So kommt es, dass sich Patienten mit Verfolgungswahn kaum je zusammentun. Sie sagen kaum je: Wir werden verfolgt. Jeder wahnhaft Verfolgte bleibt in seinem Verfolgtsein allein. Eine Ausnahme ist die Folie à deux.

Die sogenannte Folie à deux (französisch für: Verrücktheit zu zweit) verweist auf einen zweiten Entstehungsmechanismus wahnhafter Störungen, bei dem das Zugehörigkeitsbedürfnis eine entscheidende Rolle spielt.

Unter einer Folie à deux versteht man den gemeinsamen Wahn zweier Personen. Dabei geht der Wahn von einer dominanten Person aus, die ihr Gegenüber von ihren Vorstellungen überzeugt. Da die zweite psychologisch so abhängig von der ersten ist, dass sie es nicht wagt, eine eigenständige Weltsicht aufrechtzuerhalten, übernimmt sie den Wahninhalt der ersten. Indem sie das tut, sichert sie die Zugehörigkeit zu ihrem Gegenüber ab; das durch den geteilten Wahn seinerseits Zugehörigkeit erleben kann.

Ähnliche psychologische Mechanismen spielen bei der Ausbreitung dogmatischer Glaubensinhalte eine große Rolle. Auch dort werden Verstellungsbilder zur Gewissheit erklärt, deren Gewissheit nicht überprüft werden kann. Zugleich wird von dominanten Personen auf andere Druck ausgeübt, die Inhalte zu übernehmen; sodass Gruppen mit starkem Zugehörigkeitsgefühl und betonter Abgrenzung zum ungläubigen Umfeld entstehen.

4.2. Entgleisung des Denkens

Denkprozessen kommt bei der Wahnbildung eine zentrale Rolle zu. Der Kranke neigt dazu, Gedachtem, also Vorstellungsbildern, bei der Wahrheitsfindung mehr Bedeutung beizumessen, als dem, was durch Wahrnehmung überprüft werden kann. Der Gesunde nimmt erst wahr. Dann macht er sich über das Wahrgenommene Gedanken. Dann überprüft er das Gedachte durch Abgleich mit der wahrnehmbaren Wirklichkeit.

Diese Reihenfolge wird beim Wahn außer Kraft gesetzt. Was er sich denkt, ist dem Wahnkranken bereits gewiss; auch ohne dass es einer Überprüfung bedürfte. Wird der primäre Wahngedanke durch das Umfeld angezweifelt oder sprechen andere Indizien gegen ihn, setzen neue Denkprozesse ein. Der Kranke zieht alle Register der theoretischen Argumentation um Zweifel abzuwehren.

Die Deutung des Unangenehmen als Machenschaft der Außenwelt macht aus dem Unangenommenen etwas Unannehmbares.

Je systematischer ein Wahngebäude wird, desto geringer ist die Aussicht, dass der Wahnkranke den Ausgang findet.

Ein flüchtiger Wahn, zum Beispiel im Rahmen einer Demenz oder eines Delirs, kann am nächsten Tag vergessen sein. Im Gegensatz dazu wird ein Wahn systematisch, wenn der Kranke beharrlich sämtliche Aspekte seines Weltbilds in ein Wahngebäude verwebt. Die Einarbeitung sämtlicher Aspekte der Wirklichkeit in ein Wahngebäude nennt man Wahnarbeit. Durch die Wahnarbeit wehrt sich der Wahnhafte gegen die Infragestellung seiner Wahninhalte. Da der Verstand leicht zu missbrauchen ist, findet der Kranke für jeden Einwand ein Argument, das ihn scheinbar entkräftet.

4.3. Vom Annehmen und Ablehnen

Eine weitere Grundlage des Wahns ist eine übermäßig wählerische Selbstakzeptanz. Der Wahnkranke lehnt so viele Aspekte, Gefühle, Impulse und Erlebnisweisen seiner selbst als nicht zu ihm selbst gehörig ab, dass der Zusammenhang des Ich-Erlebens verlorengeht. Er entwickelt sogenannte Ich-Störungen.

Dass ich mich ausgegrenzt fühle, liegt an der Feindseligkeit der Kollegen. Ich bin ein Opfer. Mit dem Gefühl, das ich erlebe, habe ich nicht mehr zu schaffen als mit einem Virus, das mich befällt. Es wurde mir von anderen gegeben. Es wurde mir von außen eingeflößt. Das Gefühl soll weg. Auch die Impulse, die mein Verhalten steuern, sind nicht meine eigenen. Ich werde von außen fremdbestimmt.

Im Gegensatz zum Neurotiker, der sein Selbstbild durch bloße Verdrängung, Verleug­nung und Verharmlosung unliebsamer Tatsachen verteidigt, rechnet der Wahnkranke wichtige Teile seiner selbst entweder vollständig der Außenwelt zu oder er deutet sie als bloße Auswirkung der Außenwelt, die sein Inneres unangenehm bestimmt.

Die Ablehnung eigener Erlebnisweisen durch das vom tatsächlichen Selbst entfremdete Selbstbild wird vom Kranken so erlebt, als ob er von anderen abgelehnt würde. Erleb­nisweisen, die er nicht akzeptiert, werden im nächsten Schritt als Folge fremder Machenschaften gedeutet.

Abwehrstrategien
Das Ich will wissen, wie, was und wer es ist. Es macht sich ein Bild davon.

Das gesunde Ich ist bereit, sein Selbstbild bei Bedarf an die Wirklichkeit anzupassen.

Bis ich es selbst erlebt habe, hätte ich nie gedacht, dass ich auf ein schreiendes Baby so unbeherrscht reagieren könnte.

Das neurotische Ich sträubt sich, zur Kenntnis zu nehmen, was seinem Bild widerspricht... und gibt halbherzig nach, wenn Widerstand zwecklos erscheint.

Eigentlich bin ich nicht so. Dass mir da mal die Hutschnur geplatzt ist, lag an meiner Übermüdung. Und außerdem hat mich das Blag ja auch wirklich genervt.

Das psychotische Ich lässt sich durch nichts beirren; erst recht nicht durch Fakten. Was es nicht als zu sich selbst gehörig akzeptieren will, schreibt es komplett der Außenwelt zu. Den Mangel an echter Selbstbestimmung ersetzt es durch Willkür.

Das war nicht meine Wut. Die Wut wurde mir von meinen Widersachern eingeflößt, um einen Keil zwischen mich und die Mutter des Kindes zu treiben.

4.4. Psychologisches Interesse

Wahn und Irrtum ist gemeinsam, dass das Bild der Wirklichkeit nicht mit ihrer realen Struktur übereinstimmt. Bemerkenswert beim Wahn ist aber, dass der Wahnhafte die Aufklärung des Irrtums auch dann nicht begrüßt, wenn sie ihn erleichtern sollte. Stattdessen setzt er der Aufklärung sogar beharrlich Widerstand entgegen. Das deutet darauf hin, dass es beim systematischen Wahn ein psychologisches Interesse an seiner Aufrechterhaltung gibt.

Offensichtlich ist das psychologische Interesse bei Wahninhalten, die das Selbstwert­gefühl unmittelbar steigern: beim Größenwahn, beim Liebeswahn oder beim Berufungswahn.

Aber auch bei bedrohlichen Wahninhalten findet man den gleichen Widerstand:

Sie sind es aber nicht. So etwas wollen sie gar nicht hören. Das belegt, dass Wahn mehr ist als eine bloße Fehlfunktion kognitiver Prozesse durch Transmitterstörungen. Wahn ist auch ein Lebensstil, den der Kranke wählt, weil ihn die Bedrückungen der Krankheit annehmbarer erscheinen, als die Begegnung mit der Wirklichkeit. Wahn ist eine problematische Lösungsstrategie, die meist schwere Kollateralschäden nach sich zieht.

Vom Trema zur Apophänie - Krankheitsgewinn des Wahns

Im Vorfeld des Wahns erlebt der Kranke oft ein unbestimmtes Unbehagen oder bange Erwartung. Er lebt im Gefühl, dass etwas Grundsätz­liches nicht in Ordnung ist, ohne zu verstehen, woher das Unbehagen kommt. Diesen Zustand nennt man Trema oder Wahnstimmung. Der Kranke spürt, dass eine Veränderung in der Luft liegt.

Als Apophänie (griechisch apo [απο] = von und phainein [ψαινειν] = zeigen) bezeichnet man den Übergang vom unverstehbaren Unbehagen in die Erleichterung eines wahnhaften Erklärungsmodells durch einen sogenannten Wahneinfall. Plötzlich zeigen sich dem Kranken Sinnzusammenhänge, die ihm seinen misslichen Zustand endlich erklären:

Dass es mir so schlecht geht, liegt an den Intrigen der Nachbarn. Dass mir nichts gelingen will, ist eine Folge übler Machenschaften. Das Tuscheln der Nachbarn im Treppenhaus, das merkwürdige Knacken im Stützgebälk und der Umstand, dass neulich die Tasse nicht mehr dort stand, wo ich sie hinterlassen hatte... all das gehört zu einem Komplott.

Die wahnhafte Verknüpfung bedeutungsloser Einzelheiten zu einem geschlos­senen Erklärungsmodell befreit den Kranken von Ungewissheit, Vereinsa­mungsangst und Selbstwertzweifeln. Der Wahn liefert einen Krankheits­gewinn. Durch Wahnarbeit wird ein Wahnsystem errichtet. Gegebenenfalls werden dazu Wahnerinnerungen verwendet. Dabei handelt es sich um vermeintliche Erinnerungen an Ereignisse, die entweder niemals stattfanden oder die in wahnhafter Weise umgedeutet werden.


4.5. Selbstwahrnehmung und Beziehungswahn

Der Selbstwahrnehmung kommt eine wichtige Aufgabe bei der Regulation des seelischen Erlebens zu. Nur wer sich selbst sieht, ist gesund; und je weniger man sich selbst erkennt, desto kränker wird man.

Sehen und gesehen werden

Wer sich selbst zu wenig beachtet, glaubt, die Welt tue es zu viel. Statt sein Zentrum zu sehen, wähnt der Kranke, im Zentrum zu stehen. Beim Paranoiden ist das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden, so unerfüllt, dass er die fehlende Selbstwahrnehmung durch die wahnhafte Gewissheit ausgleicht, beobachtet zu werden.

Typisch für den wahnhaften Menschen ist sein Mangel an Selbstwahrnehmung. Seine ganze Aufmerksamkeit ist nach außen gerichtet; wo er nach Widersachern und Verfolgern Ausschau hält. So entsteht ein Rückkopplungs­mechanismus. Die Psyche bedarf zur erfolgreichen Eigenregulation, dass sie wahrgenommen wird. Dementsprechend erwartet sie, Zuwendung zu bekommen und beachtet zu werden. Da der Wahnkranke das nicht selbst tut, meint er, dass die Welt es täte. Er entwickelt den Wahn, dass sich alles Mögliche auf ihn bezieht und sich das Umfeld in ausgeprägt einseitiger Weise mit ihm befasst; so als hätten die Leute nichts Wichtigeres zu tun, als sich, wenn auch in boshafter Weise, ständig um den Kranken zu kümmern.

Ein Beziehungswahn geht meist davon aus, dass der Zuwendung des Umfelds Ablehnung oder gar Feindschaft eingewoben ist. Dabei handelt es sich um projizierte Selbstablehnung. Das Selbstwert­gefühl Wahnhafter ist entweder unauthentisch durch Größenideen ersetzt oder es ist kaum vorhanden.

Selbstwert
Die Bedeutungsbeimessung, die dem parano­iden Wahn inneliegt, hat mit der Selbstwert­regulation zu tun. Gehäuft haben Wahn­kranke bereits vor dem Wahn entwertende Botschaf­ten problematischer Bezugspersonen verinnerlicht (→ Introjektion). Im zweiten Schritt vertieft der Wahn selbst das Problem. Der Wahnkranke wird nicht mehr ernst genommen. Das Umfeld geht irritiert auf Distanz; was die Überzeu­gung des Kranken bestätigt, Zielscheibe von Ablehnung und Feindschaft zu sein.
4.6. Überspitzte Egozentrik

Der Wahnfreie praktiziert zwei Bezugsmuster im Verhältnis zur Wirklichkeit:

  1. Er überlässt sich der Welt, wie sie ist. Er fließt in den Lauf der Dinge ein und schwingt mit den Wellen der Ereignisse mit. Er vertraut darauf, dass er seinen Schnitt machen wird, wenn er sich vom Wellengang der Welt bestimmen lässt. Das ist primäres Normalverhalten.

  2. Vom Leid und der Flüchtigkeit des Glücks ernüchtert, die er im Wellengang erlebt, sucht er einen Weg zu sich selbst, um sich der Macht der Welt zu entziehen. Das ist religiöses Grundverhalten.
Frei macht nicht, sich der Dinge zu bemächtigen. Frei macht, sich ihrer Macht zu entziehen.

Der Wahnhafte hat ein eigenes Muster. Er bemächtigt sich der Deutungshoheit über die Dinge durch die Willkür seiner Setzungen. Während der Wahnfreie sich auf die Dinge einlässt oder versucht, sich ihrer Macht zu entziehen, versucht der Kranke, seine Macht über die Dinge durch Willkür zu stärken.

Bezugsverhältnisse zur Welt

normal Die Welt ist, wie sie ist. Ich überlasse mich. akzeptierte Egozentrik
religiös Die Welt bleibt, wie sie ist, aber sie betrifft mich nicht. kritisierte Egozentrik
wahnhaft Die Welt ist so, wie ich es behaupte. betonte Egozentrik

Im egozentrischen Muster sieht sich das Ich als Teil der Welt. Der Normale nimmt seine Egozentrik ungefragt hin. Der Religiöse will sich von ihr befreien. Der Wahnhafte baut sie zur Burg aus.

4.7. Verleugnete Bedeutungslosigkeit der Person

Im Kontext der Wirklichkeit als Ganzes ist der Einzelne quasi bedeutungslos. Persön­liche Bedeutungslosigkeit ist beängstigend, weil der Bedeutungslose umso mehr Missachtung fürchten muss, je bedeutungsloser er ist. Beim Gesunden wird das bedrohliche Gefühl durch relative Bedeutungen gemildert, die ihm durch seine Positionen im sozialen Umfeld und die Aufgaben zukommen, die er sich im Leben stellt.

Reicht die relative Bedeutung, die der Alltag der Person zuweist, nicht aus, um die Angst vor der Bedeutungslosigkeit zu stillen, bietet ein Wahn wirksame Abhilfe. Durch den Wahn wird ein im Grundsatz als bedeutungslos empfundenes Dasein dramatisch intensiviert.

Ich bin wichtig

Am Ursprung des Wahns steht das Bedürfnis nach persönlicher Bedeutung. Indem der Wahnkranke in Opposition zur Realität geht, erfährt er eine Intensivierung des Erlebens, die seiner Person eine besondere Bedeutung zu geben scheint oder dazu führt, dass sie tatsächlich Bedeutung bekommt.

Die Intensivierung des Ich-Erlebens wird durch Bedeutungen erreicht, die der Wahn­kranke Ereignissen zuschreibt, denen er allerorten begegnet. Indem er Ereignissen, die ihn betreffen, zunehmend Bedeutung zuweist, weist er sich selbst Bedeutung zu.

In der Regel bleibt das intensivierte Selbsterleben des Wahnhaften im Horizont seiner privaten Existenz gefangen und erfüllt dort die Funktion, die Bedeutungslosigkeit seines Daseins zu verleugnen. Zuweilen setzt der Kranke seine Wahnideen jedoch konsequent in Taten um. Im Gefolge der resultierenden Wahndynamik kann das dramatisierte Selbsterleben in eine Dramatisierung des gesamten weiteren biographischen Verlaufes übergehen.

Eine fatale Dramatisierung

Ein hervorstechendes Beispiel für die fatale Dramatisierung eines Selbst­erlebens durch die wahnhafte Verfestigung abwegiger Ideen ist Hitlers Werdegang vom erfolglosen Niemand im Schatten der Gesellschaft zu einer Figur im Rampenlicht. Seine "granitene" Überzeugung von der Sonderrolle, die die "Vorsehung" angeblich Deutschland zugewiesen hat und von seiner Berufung, diesem Deutschland durch die Vernichtung des vermeintlich boshaften Judentums aufs Podest der Geschichte zu verhelfen, gab seinem bis dahin belanglosen Dasein eine dramatische Bedeutung, die es ohne den Wahn nie erreicht hätte.

5. Abgrenzungen und Übergänge

Üblicherweise geht die Psychiatrie davon aus, dass es zwischen wahnhaft und wahn­frei eine klare Grenze gibt. Theoretisch ist diese Grenze leicht zu definieren: wahnhafte Überzeugungen sind durch Argumente quasi unkorrigierbar, nicht-wahnhafte sind es nicht.

In der Praxis ist zu fragen, ob es zwischen der Unverrückbarkeit des mani­festen Wahns und der Beeinflussbarkeit sonstiger Vorstellungen nicht doch fließende Übergänge gibt, wobei man am einen Ende beeinflussbarer Vorstellungen solche findet, gegen deren Änderung kein Widerstand zu spüren ist und am anderen Ende solche, gegen deren Infragestellung es einen erheblichen psychologischen Widerstand zu geben scheint. Diesbezüglich sei auf zwei psychologische Phänomene hingewiesen:

  1. die paranoide Persönlichkeit
  2. identitätsstiftende Vorstellungen
5.1. Paranoide Persönlichkeit

Von der Paranoia, also der Wahnhaften Störung, wird die paranoide Persönlichkeits­störung abgegrenzt. Die paranoide Persönlichkeit neigt zu besonderer Empfindlichkeit gegenüber Kritik oder Zurückweisung. Indem sie anderen unlautere Absichten unterstellt und alles und jedes zu deren Ungunsten auslegt, verstrickt auch sie sich in Erklärungsmodelle, deren Realitätsgehalt strittig ist. Solange die Sichtweisen aber nicht unkorrigierbar sind, bleibt man bei der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung und sieht von der einer Psychose ab.

Paranoide Persönlichkeiten werden gelegentlich auch als sensitiv bezeichnet. Übergänge zum sensitiven Beziehungswahn sind wahrscheinlich. In diesem Sinne kann die Paranoia auch als Extremfall einer paranoiden Persönlichkeit aufgefasst werden. Im Unterschied zu eindeutig psychotischen Wahnvorstellungen, die der Realität oft grotesk widersprechen, klingen die irrigen Vorstellungen der paranoiden Persönlichkeit in der Regel realitätsnah.

Eins ist Wahn und Irrtum gemeinsam: Sich für wissend zu halten, obwohl es nicht stimmt.

Eins bietet vor beidem Schutz:
Sich dessen bewusst zu sein, wann man im besten Falle nur vermutet.
5.2. Identitätsstiftende Vorstellungen

Viele Menschen hegen Vorstellungen, deren Hauptfunktion in der Absicherung eines persönlichen Identitätsgefühls zu liegen scheint, nicht aber im ernsthaften Versuch, die Wirklichkeit wahrheitsgetreu abzubilden. Solche Vorstellungen müssen nicht paranoid sein, sie sind aber oft ähnlich abgeschirmt wie die Vorstellungen Paranoider. Oft sind sie weltanschaulicher Natur und bilden die Grundlage politischer oder konfessioneller Lager.

Zu vermuten ist, dass solche Vorstellungen deshalb so hartnäckig beibehalten werden, weil auch sie der Person eine Bedeutung zuweisen, an der im Sinne einer trotzigen Selbstbestimmung festgehalten wird. Andererseits begründet das verfestigte Weltbild eine Gruppenzugehörigkeit, von der der fest Überzeugte der bloßen Wahrheit zuliebe nicht ablassen will.

6. Religiöse Überzeugungen

Bei voller Überzeugungsintensität entspricht der fundamentalistische Glaube an mythologische Bilder pathogenetisch einem induzierten Wahn.

Somit sind beide Voraussetzungen erfüllt, den fundamentalistischen Glauben an dessen übernatürlichen Ursprung als induzierten Wahn aufzufassen. Der Gläubige ist vom Impuls zur Zugehörigkeit bestimmt; der Zugehörigkeit zu einem Gottesvolk, dem großes Heil versprochen ist. Als Bedingung für den Heilsempfang benennt der Glaube Dogmen, die ebenso unverrückbar wie ein individueller Wahn für wahr zu halten sind. Der Gläubige hat seine Person durch das Bekenntnis eindeutig kenntlich zu machen. Durch das Bekenntnis weist er ihr eine Bedeutung zu, die ihren Bestand angeblich garantiert.

In der Auserwähltheitsphantasie religiöser Propheten klingt das Kriterium des von außen Gemachten an, das als diagnostisches Merkmal psychotischen Erlebens gilt. Der "Auserwählte" sagt nicht: Ich will, dass ihr mir folgt. Er sagt: Ich wurde zu eurem Führer erwählt.

Dem, was tatsächlich wahrzunehmen ist, misst solcher Glaube nur wenig Bedeutung zu. Wie beim individuellen Wahn, wird der Wahrheitsgehalt des Vorstellungs­inhalts für größer gehalten, als der der erkennbaren Wirklichkeit. Vom Baum der Erkenntnis zu essen, gilt folgerichtig als schwere Sünde.

Wohlgemerkt

Natürlich ist kaum ein Anhänger konfessioneller Glaubensgruppen im schulmedizinischen Sinn wahnhaft. Das liegt aber nicht am Anspruch des Glaubens, sondern daran, dass sich die Mehrzahl seiner Anhänger nur oberflächlich damit identifiziert; oder die Identifikation bezieht sich nur auf abgeleitete Werte und Kultur­routinen, nicht aber auf die dogmatischen Grundaussagen. Der Glaube bleibt eine identitätsstiftende Vorstellung im Dienste der Gruppenzugehörigkeit, ohne dass die realitätswidrigen Mythen ernsthaft für wahr gehalten werden.

Im medizinischen Sinn spricht man erst dann von Religiösem Wahn, wenn der Kranke aus seinen Überzeugungen einen persönlichen Auftrag Gottes ableitet, als auserwähltes Individuum auf das Weltgeschehen einzuwirken.

Inhalt eines religiösen Wahns kann aber auch die Überzeugung eines depres­siven Menschen sein, durch nicht wiedergutzumachende Sünden der Verdammnis anheimgefallen zu sein. Man spricht dann von einem Versündi­gungswahn, dessen Inhalt aus verinnerlichten religiösen Überzeugungen hervorgeht.

7. Politische Extreme

Übergänge zwischen Glaube, identitätsstiftenden Vorstellungen und Wahn, die im Bereich konfessioneller Religion zu finden sind, sind auch bei politisch extremen Positionen erkennbar.

8. Therapie

Die Therapie des Wahns fußt auf zwei Methoden:

  1. Vermittlung von Einsicht
  2. pharmakologische Beeinflussung kognitiver und emotionaler Prozesse

Die Wirksamkeit beider Methoden ist oft beschränkt. Glücklicherweise gelingt vielen Kranken ein Kompromiss. Sie leben parallel in zwei Welten.

Wahndynamik und doppelte Buchführung
Wahnhafte Überzeugungen können das gesamte Verhalten des Kranken steuern, oder sie existieren parallel zu einem oberflächlich angepassten Normverhalten. Je mehr sie das Verhalten bestimmen, desto höher ist die Wahndynamik. Bestehen sie parallel zum Normverhalten, spricht man von doppelter Buchführung.

Zwei Kranke können jeweils glauben, dass der Geheimdienst sie verfolgt. Der eine verbarri­kadiert sich in seiner Wohnung. Der andere geht zur Arbeit... um sich möglichst unauffällig zu verhalten.

8.1. Psychotherapie

Wahn ist psychotherapeutisch schwer zu beeinflussen. Beim Versuch, ihn mit Argumenten zu entkräften, versteift sich der Kranke erst recht auf den Inhalt. Oft wird der, der dem Wahn widerspricht, ins Wahngebilde eingebaut und gilt als Komplize der vermeintlichen Widersacher.

Wenn überhaupt ein Zugang zu finden ist, so dadurch, dass man den Kranken ermutigt, abgelehnte Anteile seiner selbst als wertvoll zu betrachten; wertvoll auch dann, wenn sie nur schwer zu akzeptieren sind. Dabei spielt die Akzeptanz der grundlegenden Bedeutungslosigkeit der einzelnen Person an sich eine bedeutsame Rolle.

Da Akzeptanz und Ablehnung Schlüsselbegriffe der Wahnbildung sind, wird man als Therapeut wohl nur erfolgreich sein, wenn man auch den Wahn des Kranken als einen Aspekt seines seelischen Ausdrucks begreift, hinter dem sich ein Anliegen verbirgt, das nicht vollständig zu verwerfen ist.

Wenn man den Wahn bloß beseitigen will, statt ihn zu verstehen, macht man das Gleiche, was der Kranke mit wesentlichen Teilen seiner selbst bereits tut. Der Kranke lehnt so vieles von sich ab, dass er die bloße Ablehnung seines Wahninhalts als Schlag in die gleiche Kerbe erleben wird.

Intellektuelle Redlichkeit

Intellektuelle Redlichkeit im Umgang mit Wahnkranken bedeutet zweierlei:

  1. dem Kranken gegenüber zu bekennen, dass man den Wahninhalt für realitätswidrig hält; falls man das tut.
  2. sich und dem Kranken einzugestehen, dass man nicht mit absoluter Sicherheit wissen kann, ob der Inhalt tatsächlich wahnhaft ist.

Zugegeben: Wenn ein Kranker berichtet, Satelliten beeinflussten das Erdmagnetfeld, was dazu führe, dass seine Gedanken von außen verändert werden, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das eine bloße Vorstellung ist, die ein seelisches Erleben des Kranken wahnhaft erklärt. Solange die physikalische Struktur des Universums aber nicht vollständig verstanden ist, ist die Behauptung, die Aussage des Kranken sei mit absoluter Sicherheit falsch, ihrerseits wahnhaft. Sie erklärt etwas zur Gewissheit, was nicht als gewiss erkannt werden kann.

8.2. Medikamentöse Behandlung

Sobald sich ein geschlossenes Wahnsystem entwickelt hat, prallt die Wirkung der Neuroleptika, die psychotische Symptome einschließlich flüchtiger Wahnbildungen meist gut erreichen, am ausgearbeiteten Wahn ebenso ab, wie rationale Argumente.

Schutzraum Wahngebäude
Beim systematischen Wahn spricht man auch von einem Wahngebäude, das der Patient errichtet hat. Das ist kein Zufall. Es belegt die entlastende Funk­tion, die dem Wahn zukommt. Wie ein Wohngebäude dem Körper, bietet das Wahngebäude der kranken Psyche Schutz. Solange ein Wahn im Entstehen ist, wirken Psychopharmaka besser. Warum? Weil sie Ängste dämpfen und somit den Eifer des Bedrängten, einen Schutzraum zu errichten. Wenn das Gebäude erst einmal bezogen ist, vertraut sein Bewohner eher auf den Schutz im Inneren des Gemäuers als auf ein Medikament, das ihm von außen angeboten wird.

Explosionen

Gesetzt, es erzählt Ihnen jemand, in seiner Küche sei die Backofentür ohne erkennbaren Einfluss von außen spontan explodiert. Würden Sie ihm glauben? Wäre es ein guter Freund, täten Sie es; wenn auch erstaunt. Wären Sie jedoch Psychiater und beim Berichterstatter wäre eine Psychose bekannt, dächten Sie an eine Erhöhung der Medikation.

Immerhin dämpfen Neuroleptika die emotionale Spannung, die ein systematischer Wahn erzeugen kann und mildern so die Wahndynamik. Der Kranke bleibt wahnhaft. Der Wahn wirkt sich aber weniger auf sein Verhalten aus. Der Kranke ist eher zur doppelten Buchführung bereit und leidet weniger unter angsterzeugenden Wahnbildern.

Für die soziale Integration kann das ein wesentlicher Beitrag sein. Da soziale Desintegration Wahnbildung zusätzlich begünstigt, hat Medikation auch vorbeugende Effekte.

Nicht selten führt die medikamentöse Dämpfung von Wahn und Wahndynamik jedoch zu depressiven Verstimmungen. Daran mag der Krankheitsgewinn abzulesen sein, der Wahninhalten als komplexe Abwehrstrategien gegen innerseelische Widersprüche inneliegt. Wahn ist nicht nur Bürde. Er hat auch entlastende Funktion. Wenn er sonst nicht weiter schadet, ist es oft besser, ihn stehen zu lassen, als gegen ihn vorzugehen.