Zum Glück...
muss man Autisten nicht heilen. Es reicht, wenn man lernt, respektvoll mit ihnen umzugehen.
Stellen Sie sich vor, es wäre Ihnen nicht möglich herauszuhören, ob das, was jemand zu Ihnen sagt, vorwurfsvoll, sachlich, ironisch, neckisch, verärgert oder spöttisch gemeint ist. Dann wissen Sie ungefähr, wie es einem Autisten in Gesellschaft ergeht.
Als Störungen des autistischen Spektrums bezeichnet man eine Reihe auffälliger Verhaltens- und Erlebnisvarianten, deren gemeinsamer Nenner in einem verminderten Interesse am sozialen Umfeld besteht. Der Begriff geht auf das griechische Wort autos (αυτος) = selbst zurück. Er betont somit die Selbstbezogenheit der Betroffenen, die den Gegenpol zu ihrer verminderten Einbindung in das gemeinschaftliche Gefüge bildet.
Während man schwere Fälle kaum anders als mit dem Begriff krank bezeichnen kann, stellt sich bei den leichten die Frage, ob der Ausdruck Normvariante nicht sinnvoller wäre; zumal man eine exakte Grenze zwischen leicht autistisch und normal in der Praxis nicht findet.
Leichte Varianten könnte man auch als Folge einer natürlichen Neurodiversität, also eines Variantenspektrums evolutionär bedingter Organisationsformen des Zentralnervensystems betrachten.
Das gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass eine objektive Persönlichkeitsdiagnostik gar nicht möglich ist, weil jeder Diagnostiker durch die Brille des eigenen Charakters schaut.
Die Symptomatik der autistischen Störungen kann drei Kernbereichen zugeordnet werden. Folgende Tabelle fasst die wichtigsten Symptome in Anlehnung an das Diagnose-Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (DSM-IV) zusammen:
1. Qualitative Abweichungen der Interaktion
2. Qualitative Abweichungen der Kommunikation
3. Spezielles Repertoire an Interessen und Aktivitäten
Neben dieser Kernsymptomatik werden unspezifische Nebensymptome beschrieben, die zwar nicht als typisch für autistische Störungen gelten können, dabei aber gehäuft vorkommen.
Gemeinsamer Nenner der Teilleistungsstörungen (TLS) sind umschriebene Funktionsstörungen des Zentralnervensystems bei sonst ungestörter Intelligenz und Persönlichkeitsentwicklung.
Auch der Ausgangspunkt der autistischen Störungen kann als TLS gedeutet werden: Die Unfähigkeit, den emotionalen Gehalt aus Mimik, Gestik und sprachlicher Kommunikation herauszulesen. Eine solche Kernstörung würde die qualitativen Abweichungen bei Interaktion und Kommunikation erklären. Das spezielle Repertoire autistischer Interessen wäre dann als kompensatorische Überbetonung alternativer Betätigungsfelder aufzufassen.
Als primäre Ursache wird eine neurologisch bedingte autistische Basisstörung angenommen. Deren Ursache ist ihrerseits genetisch. Störungen des autistischen Spektrums sind zu einem großen Teil erblich. Daran sind verschiedene Gene beteiligt. Die Beteiligung verschiedener Gene, deren autistogene Potenz sich aufsummieren kann, erklärt, warum die Störung bei betroffenen Personen unterschiedlich stark ausgeprägt ist.
Ein Teil der Symptomatik kann in einem zweiten Schritt als psychologische Anpassung an die neurologisch bedingten Grundprobleme verstanden werden.
Risikofaktoren, die die Gefahr einer autistischen Störung erhöhen, wirken bereits vorgeburtlich. Zu nennen sind:
Wir erinnern uns: Autismus geht auf autos (αυτος) = selbst zurück. Die Selbstbezogenheit des Autisten gab seinem Muster den Namen.
Das Gegenstück zur Selbstbezogenheit ist die gestörte Kommunikation. Dabei lohnt es, neurologische und psychologische Komponenten zu unterscheiden. Die neurologische Komponente wurde oben als spezifische Teilleistungsschwäche bei der Wahrnehmung non-verbaler Kommunikationssignale beschrieben.
Die Hinwendung des Autisten zu Fakten, Formen und objektivierbaren Mustern kann als kompensatorische Anpassung an die neurologisch bedingte Behinderung seiner sozialen Kontaktaufnahme betrachtet werden. Dieser Hinwendung entspringt ein zweites Problem bei der Kommunikation des Autisten mit seinem Umfeld. Es ist psychosozial.
Die autistische Bevorzugung objektiver Tatsachen gegenüber subjektiver Färbung führt dazu, dass für den Autisten Unterschiede bedeutsam sind, die der Nicht-Autist schnell übergeht. Für den Nicht-Autisten ist dieser Text in roter Schrift geschrieben.
Wort | Farbe / hexadezimal |
dieser | color:#FC715C |
Text | color:#FF2020 |
in | color:#FF5959 |
roter | color:#FE6F5A |
Schrift | color:#F0687C |
geschrieben | color:#EF0540 |
Der Autist gibt sich mit der Farbbezeichnung rot für sechs verschiedene Töne nicht zufrieden. Für ihn hat jedes der rot geschriebenen Wörter einen anderen Farbwert.
Im normalen Fenster der Kommunikation läuft vieles wie in der Parteipolitik: Man sucht nach profitablen Koalitionen. Dabei bleibt die Wahrheit nicht selten auf der Strecke, denn Bündnisse fußen oft darauf, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen und Details, über die man sich entzweien könnte, auszuklammern.
Nicht-Autisten gelingt es leicht, sich auf rot zu einigen; weil man dann gemeinsam meint, dass man dasselbe meint. Der Autist sieht nicht ein, wie man behaupten kann, #FC715C sei dieselbe Farbe wie #FF2020 oder #EF0540. Schon ist eine psychosoziale Kommunikationsstörungen geboren. Während der Autist Kommunikation an exakten Fakten vertäuen will, fluktuiert sie beim Nicht-Autisten zwischen Pragmatismus, Weisheit und Korruption. Für den Autisten sind 4 = 4 und 5 = 5. Auf dem taktischen Basar der Normalität wird bei der Wahrheit tüchtig auf- und abgerundet.
Laut Internationaler Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) werden die autistischen Störungen den Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zugeordnet.
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO
Name | ICD |
Frühkindlicher Autismus | F84.0 |
Atypischer Autismus | F84.1 |
Rett-Syndrom | F84.2 |
Desintegrative Störung des Kindesalters | F84.3 |
Asperger-Syndrom | F84.5 |
Nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung | F84.9 |
Zu den autistischen Störungen zählt man den frühkindlichen Autismus, den atypischen Autismus und das Asperger-Syndrom. Sonstige Entwicklungsstörungen mit vorwiegend autistischen Symptomen werden als nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörungen klassifiziert. Nicht autistisch sind die desintegrative Störung des Kindesalters und das Rett-Syndrom.
Der frühkindliche Autismus ist die schwerste Form der autistischen Erkrankungen. Etwa 0,3 % aller Personen sind davon betroffen. Die Krankheit zeichnet sich durch einen frühen Beginn der Symptome und ausgeprägte Abweichungen in allen oben genannten Bereichen aus.
Frühe Warnzeichen
Monat | Auffälligkeit |
12 | Kein Lallen und Brabbeln Fehlende Gesten wie Zeigen und Winken |
16 | Keine verstehbaren Worte |
24 | Keine Zwei-Wort-Sätze |
später | Nachträglicher Verlust bereits erworbener Sprache |
Unspezifische Symptome, wie unverstehbares Weinen und Schreien, Schlaf- oder Essstörungen fallen zu Beginn des zweiten Lebensjahres auf. Bald kommen die typischen Symptome des Autismus dazu, was die Diagnose dann ermöglicht.
Von einem atypischen Autismus spricht man, wenn die Symptomatik erst nach dem dritten Lebensjahr beginnt und/oder, wenn nicht alle drei Kernbereiche der autistischen Symptomatik betroffen sind.
Beim Asperger-Syndrom sind zwar Störungen in allen drei Symptombereichen feststellbar, ihre Ausprägung ist aber deutlich geringer als bei den oben genannten Formen. Überhaupt ist die Sprachentwicklung und die Entwicklung der allgemeinen geistigen Fähigkeiten beim Asperger-Syndrom unauffällig. Gehäuft zu beobachten ist jedoch eine generelle Ungeschicklichkeit bei alltagspraktischen Verrichtungen.
Geschlechtsspezifische Unterschiede
Sowohl das Kontaktverhalten des Menschen als auch die Ausrichtung seiner Interessen zeigt geschlechtsspezifische Unterschiede. Statistisch gesehen sind Frauen kontaktfreudiger. Männer interessieren sich eher für Technik. Kein Wunder, dass Männer schneller in Verdacht geraten, sie litten an einer autistischen Störung.Die Häufigkeit des Asperger-Syndroms wird auf 0,7% geschätzt. Dabei sind Männer deutlich öfter betroffen. Bei derlei Schätzungen ist zu bedenken, dass die Symptomatik des Asperger-Syndroms weder von der schizoider Personen noch vom Normverhalten eindeutig abzugrenzen ist. Darüber, wie kontaktscheu jemand sein muss, um als Asperger-Autist zu gelten, lässt sich trefflich streiten.
Die Intelligenzentwicklung spielt beim Autismus eine wichtige Rolle. Gerade beim frühkindlichen Autismus kommt es oft zu einer verzögerten intellektuellen Reifung mit erheblichem Intelligenzdefizit. Man spricht von einem LFA (low-functioning Autismus). Die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten sind dann gering.
Inselbegabungen
Oft ist die Intelligenz jedoch normal; regelhaft beim Asperger-Syndrom. Etwa 10 % der Autisten entwickeln besondere Inselbegabungen. Man spricht in diesen Fällen von einem HFA (high-functioning Autismus) mit Savant-Fähigkeiten (französisch savant = weise, wissend). Eine der eindrücklichsten Sonderbegabungen ist das eidetische (griechisch eidos [ειδος] = Ansehen, Gestalt) Gedächtnis. Der Eidetiker kann sich Gesehenes aus der Erinnerung so detailgenau wie eine Fotografie als Vorstellungsbild vor Augen führen.
Obwohl die Kernsymptome klar zu beschreiben sind, ist es in der Praxis nicht immer einfach, die richtige Diagnose zu stellen. So wird der frühkindliche Autismus meist erst im vierten Lebensjahr festgestellt, das Asperger-Syndrom erst nach dem achten; oder gar nicht.
Grundsätzlich müssen autistische Störungen, je nach Alter des Patienten, von folgenden Krankheiten abgegrenzt werden:
Die Diagnostik des frühkindlichen Autismus stützt sich in erster Linie auf die Beobachtung des Verhaltens und auf die Befragung der Eltern. Beim Asperger-Syndrom kommt als wesentliche Informationsquelle die oft subtile Selbstwahrnehmung der Patienten hinzu. Spezifische apparative Untersuchungen oder Labortests, die die Diagnose sichern könnten, gibt es nicht. Zum Ausschluss anderer Störungen sind Seh- und Hörtests, eine EEG-Ableitung sowie eine Chromosomen-Untersuchung sinnvoll.
Besteht ein Erstverdacht, kann die Diagnose mit standardisierten Testverfahren gefestigt werden.
Testverfahren
Die Beeinflussbarkeit des frühkindlichen Autismus ist gering. Nur 20% der Betroffenen schaffen es, als Erwachsene eigenständig zu leben. Beim Asperger-Syndrom sieht das anders aus. Da sie deren ungeschriebene Regeln nur schlecht erkennen, ist diesen Menschen die Anpassung an das soziale Umfeld zwar erschwert, durch aufmerksame Beobachtung und Kopieren üblicher Verhaltensmuster gelingt es ihnen aber oft, ihre ursprünglichen Probleme auszugleichen.
Medikamente, die etwas gegen die Kernsymptome ausrichten, gibt es nicht.
Am besten belegt ist der Nutzen von...