Wer das Schicksal bejaht, verbündet sich damit. Wer es ablehnt, spaltet sich auf. Warum? Weil man selbst sein Schicksal ist.
Im Begriff Schicksal erkennt man das Verb schicken. Schicken geht auf geschehen zurück. Schicksal ist, was geschehen ist und als Ergebnis vergangener Ereignisse vorliegt.
Mehr von seinem Wesen erkennt man, wenn man weitere Wortverwandtschaften ins Auge fasst. Geschehen wurzelt im althochdeutschen skehan = eilen, rennen. Damit verwandt ist das polnische skok = Sprung.
Das Schicksal ist nicht nur die faktische Folge dessen, was geschehen ist. Es ist das, was uns ereilt. Die Sprache bringt zum Ausdruck, dass man dem Schicksal nicht entrinnen kann. Egal, wohin man vor ihm flüchtet, es erreicht denselben Ort im Sprung. Wo auch immer man hinkommt: Das Schicksal ist bereits da. Warum? Weil man es ist.
Sie hadern mit dem Schicksal? Das macht nur solange Sinn, wie das Hadern Sie dazu antreibt, das Hadern sein zu lassen und Ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Bleibt es beim Hadern, verschwenden Sie Ihre Kraft.
Ihr Schicksal hat mit dem Urknall begonnen; oder mit dem, was den Urknall gezündet hat. Der Ursprung Ihres Daseins ist tief in der Vergangenheit des Universums verwurzelt. Durch Ihre Existenz hindurch kreuzen von dort aus tausend Bahnen bis in alle Ewigkeit. Tausend ist dabei bloß ein symbolischer Begriff. Tatsächlich sind es unfassbar viele. Das Schicksal hat für jeden Augenblick die Weichen so gestellt, dass sie unverrückbar stehen. Nur auf die Zukunft hat man Einfluss.
Schicksal ist Zugeschicktes. Es kommt so beim Empfänger an, wie es von unzähligen Ursachen vorherbestimmt ist. Der Empfänger kann die Sendung nicht ändern. Er kann nur entscheiden, was er damit macht.
Hase und Igel
Der Igel ist immer schon da, wenn der Hase ankommt. So geht es uns mit dem Schicksal. Es mag den Hasen ärgern, dass der Igel schneller war. Macht der Hase die Sache aber nicht noch schlimmer, wenn er sich am Igel aufgebracht vergreift?
Um ein unliebsames Schicksal zu verwerfen, greift man wütend in die Stacheln. Klüger ist es, den Igel zu beachten und ihm bedacht dorthin zu folgen, wohin er läuft.
Den Willigen führt das Schicksal. Den Unwilligen zerrt es fort.
So sagte es der weise Seneca.
Man sagt: Er hat sein Schicksal in die eigene Hand genommen. Man meint damit, dass er sich daranmacht, zukünftige Erfolge vorzubereiten. Wer das Schicksal in die Hände nimmt, der tut das auch.
Du hast es in der Hand. Das sagt man auch. Man meint damit, dass der Angesprochene die Oberhand behalten kann und die Ereignisse, die kommen mögen, im Griff hat.
Beide Aussagen klingen ermutigend. Genau diesen Mut braucht man auch, um das Schicksal überhaupt in die Hand zu nehmen, denn Kontrolle und Erfolg sind Schritte Nummer zwei und drei. Im ersten Schritt gilt es, die Aufgabe zu akzeptieren, die sich als Schicksal stellt. Damit tut der Mensch sich schwer.
Fast immer heißt Schicksal auch Schwierigkeit. Wie oft wünschte man, es wäre anders. Statt das Vorgegebene in die Hand zu nehmen, weist man es daher lieber von sich. Man wartet, dass der Kellner eine bessere Suppe bringt. Oder man weist die Schuld am Schicksal Übeltätern zu... als könne man ihm damit entrinnen. Um das Schicksal anzunehmen, bedarf es nicht nur des Wunschs, erfolgreich zu sein. Es bedarf der Bereitschaft, Unangenehmes anzupacken.
Beide beteuern, der Wille sei da, aber sie schaffen es nicht. Beide sind im Irrtum. Der Wunsch ist da, aber nicht der Wille. Im Gegensatz zum Wunsch, der sehnsüchtig, aber tatenlos nach Erfüllung Ausschau hält, liegt im Willen die Bereitschaft, Widerstände aktiv anzugehen. Wünsche zielen stets auf Angenehmes. Wille nimmt auf dem Weg dorthin Unangenehmes in Kauf.
Der Rat, das Schicksal anzunehmen, wie es ist, ist leicht erteilt; wenn man selbst gerade keine Schicksalsschläge zu verkraften hat. Zwei Gründe gibt es, die dabei zur Demut mahnen.
Trifft einer der beiden Gründe zu, wird sich selbst Hiob schwer damit tun, sein Los tatsächlich anzunehmen. Dann kann selbst er es nur ohnmächtig erdulden.
Was dem Einzelnen gerechterweise zuzumuten ist, wird vor dem Hintergrund dessen beurteilt, wofür man ihn hält. Drei anthropologische Kategorien sind üblich:
Inwieweit man das Schicksal auch dann annehmen kann, wenn es unerfreulich ist oder gar quält, hängt vom jeweiligen Selbstbild ab. Dessen Typus kann seinerseits den drei genannten Kategorien zugeordnet werden. Je nachdem, welche Kategorie zur Anwendung kommt, sind die Vergleiche, die dem Urteil über die Gerechtigkeit des Schicksals zugrunde liegen, horizontal, biographisch oder transzendent.
Paul ist bei Corinna abgeblitzt. Roland hatte Glück bei Ann-Katrin. Wenn Paul die beiden eng umschlungen in der Disko tanzen sieht, ist er überzeugt, dass ihm das Schicksal Unrecht tut.
Anna-Lisas Vater arbeitet im Lager bei Protzke & Großmann. Sie hat drei Brüder und zwei Schwestern. Unterm Weihnachtsbaum liegt für jeden ein kleines Geschenk. Großmanns Tochter Josefine ist Einzelkind. Zum achtzehnten Geburtstag gibt es ein schickes Cabrio. Wer nur das Jetzt mit dem Jetzt vergleicht, wird die Ungerechtigkeit des Schicksals überschätzen.
Beim horizontalen Vergleich wird nur das in die Waagschale geworfen, was momentan zu genießen oder zu erleiden ist. Da das Leben Wellengang hat, ist das Urteil über die Gerechtigkeit des Schicksals dabei schwankend.
Vergleichsebenen
horizontal | interpersonell
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biographisch | intrapersonell
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transzendent | transpersonal
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Nachdem Paul Corinna vergessen konnte, traf er Heike. Heute ist er dem Schicksal dankbar, dass Corinna lieber mit Helmut ging.
Für Anna-Lisa war die Armut Startsignal. Sie hat ihr Studium abgeschlossen. Josefines Werdegang ist voller Brüche. Nachdem Roland Ann-Katrin wegen ihr sitzen ließ, stieg er bei Protzke & Großmann ein. Weder privat noch geschäftlich ist die Sache gut gegangen.
Wird über die Gerechtigkeit des Schicksals erst entschieden, nachdem man biographische Entwicklungen berücksichtigt hat, erscheinen viele Härten in neuem Licht. Die biographische Betrachtung ist teilweise vertikal. Sie vergleicht nicht nur Personen untereinander. Sie sieht den Sinn schicksalhafter Vorgaben innerhalb des individuellen Lebensverlaufs.
Voreilig ist es jedoch, die Rücksichtslosigkeit Einzelner dem Schicksal als Ganzem zur Last zu legen. Dass Ihnen der eine oder der andere Böses will, heißt keineswegs, dass Ihr Schicksal es ebenfalls tut. Betrachtet man den Egoismus anderer als Werkzeug eines Schicksals, das im Grundsatz Gutes will, kommt man entschieden weiter. Im kalten Wasser aufzuwachen, ist besser als im Traum zu fordern, dass es wärmer wird. Andere sind nicht verpflichtet, Ihnen gegenüber gerecht zu sein. Sie sind aber berechtigt, sich selbst gerecht zu werden.
Man kann es drehen und wenden, wie man will. Man schafft es nicht, sich von der Gerechtigkeit des Schicksals zu überzeugen, wenn man sie innerbiographisch bilanzieren will: Hildegard starb lebenssatt im Kreise ihrer Enkel. Marianne erlag als Kind der Mukoviszidose. Wem bleibt da das Wort Gerechtigkeit nicht im Halse stecken? Es sei denn, man nimmt abwegige Theorien zu Hilfe, wie die vom alles erklärenden Recht des Stärkeren oder die von der karmatischen Gerechtigkeit über mehrere Existenzen hinweg.
Jedes Leid, das Menschen schicksalhaft zu erdulden haben, als Folge von Taten zu betrachten, die sie sich in früheren Leben zuschulden kommen ließen, käme der Behauptung gleich, dass es Ungerechtigkeit nicht gibt. Alles, was jemandem geschieht, geschähe zu Recht, weil er es nicht anders verdient hätte. Die Karmatheorie (Sanskrit: karma कर्म = Handlung, Persisch: kardan كردن = machen) macht nur dann nicht gegenüber Ungerechtigkeiten blind, wenn sie das Urteil über die Gerechtigkeit des Schicksals ans Ende der Zeit verlegt und nicht mitten hinein. Urteilt man vor dem Ende der Zeit, könnte es schlechtes Karma ergeben, wenn man auf vermeintlich verdientes Leid anderer mit Schulterzucken reagiert.
Neben der Todesangst ist die Lücke der Gerechtigkeit ein mächtiges Motiv, das den Menschen an ein Jenseits glauben lässt, das uns den Sinn der Ungerechtigkeit erklären kann, die nach menschlichem Ermessen in der Welt zutage tritt. Ob es dieses Jenseits gibt, sei hier dahingestellt. Nimmt man seine Existenz aber als gegeben an, ist manche Härte besser zu ertragen.
Die transzendente Betrachtungsweise ist überwiegend vertikal. Ihr Existenzbegriff geht über den Horizont innerweltlicher Vergleichbarkeit hinaus. Selbst wenn sie nicht stimmt, wäre sie die einzige, die die Frage nach der Gerechtigkeit des Schicksals offenlässt, statt an der Absurdität eines Daseins ohne Transzendenz zu scheitern.
Ausgangspunkte
Was das Schicksal entschieden hat, ist immer richtig. Das englische Wort für Schicksal ist destiny, das französische destin. Beide sind von destination = Richtung abgeleitet. Das Schicksal zeigt Richtungen an, in die man weitergehen kann. Je mehr Sie auf Wegweiser achten, desto mehr Kraft bleibt, den Weg zu gehen, der tatsächlich Ihrer ist.
Tatsächlich ist jeder Weg, den Sie gehen, Ihrer. Es gibt aber Wege, die führen auf Sie zu und solche, die Sie von sich selbst entfernen. Über kurz oder lang werden aber auch die Wege, die Sie zunächst von sich selbst entfremden, zu Ihnen führen müssen. Wohl dem, der für die Änderung der Richtung keine harten Schicksalsschläge braucht.
Andere Menschen sind Schicksal. Betrachten Sie Menschen als vorgegeben. Nehmen Sie die Gabe an, wie sie gegeben ist. Finden Sie den Abstand, von dem aus Sie niemanden ändern wollen.
Die Wirklichkeit ist Schicksal. Nehmen Sie sie wahr, wie sie tatsächlich ist. Je mehr Sie von der Wirklichkeit erkennen, desto besser finden Sie sich darin zurecht.
Das Schicksal anzunehmen, heißt nicht Gefügigkeit. Der Begriff Fatalismus, der eine solche Resignation benennt, geht auf das lateinische fatum = der Götterspruch zurück. Er drückt den Gedanken aus, der Ablauf der Geschichte sei von entrückten Entscheidungsträgern, Göttern nämlich, vorherbestimmt; sodass die Insassen der Geschichte Marionetten sind, die ohnmächtig im Verhängnis fataler Verstrickungen zappeln. Er fußt somit auf einem dualistischen Menschen- und Götterbild. Das verkennt die Struktur der Gegenwart; die überhaupt erst durch die Präsenz des Subjekts definiert wird.
Fatalismus
Das handelnde Subjekt ist entrückt.
Akzeptanz des Schicksals
Das handelnde Subjekt bin ich selbst.
Tatsächlich ist das Schicksal nichts Fremdes, das bloß von außen kommt und uns von dort bestimmt. Der Igel, der immer schon da ist, wenn der Hase kommt, ist man zwar nicht in Person, aber man ist er selbst. Auch das eigene Innere, samt seinen Impulsen und Handlungsmöglichkeiten ist Ausdruck der Wirklichkeit, auf die man trifft.
Das Schicksal anzunehmen, heißt daher unausweichlich, zu sich selbst zu stehen; und als aktiv handelnder Pol in den Ablauf der Dinge einzugreifen. Das kann zu Konflikten mit dem Umfeld führen. Das Schicksal anzunehmen, ist keine Ergebenheit. Es ist auch Kampf.
Ob man aber gerade der Igel ist, der seinem Wesen treu bleibt oder der Hase, der den Igel überholen will, wird man nur wissen, wenn man den Unterschied beachtet.
Das Leben moderner Menschen ist weniger fremdbestimmt als das ihrer Vorfahren. Zum Glück! Heute macht der Staat dem Einzelnen weniger Vorschriften als in früheren Zeiten. Heute hat sich der Mensch durch Wissenschaft und Technologie Freiräume verschafft, von denen er früher nur träumen konnte. Das alles hat eine Kehrseite. Geblendet von den neuen Möglichkeiten und angetrieben von einem Zeitgeist, der behauptet, eigentlich sei jedem alles möglich, unterschätzt der Mensch das Ausmaß schicksalhafter Vorgaben. Das setzt ihn mächtig unter Druck.
Wer glaubt, das Leben sei ein Schauplatz unbegrenzter Möglichkeiten, lädt sich eine erdrückende Verantwortung auf, oder er verurteilt sich dazu, andere zu beschuldigen. Läuft sein Leben anderes als erwünscht, hat er zwei Erklärungsmöglichkeiten:
Anerkennt man stattdessen, wie groß der Einfluss schicksalhafter Kräfte ist, die von außen das Denken, Handeln und Können einer jeden Person beeinflussen, wird man weder sich selbst noch anderen so viel Verantwortung für die eigenen Taten zuweisen, dass ein mildes Urteil unmöglich wird.
So mag es stimmen, dass der Mensch keine Marionette entrückter Mächte ist, als Person ist er aber soweit ihr Werkzeug, wie er als er selbst deren Ausdruck ist.