Gerechtigkeit


  1. Begriffe
  2. Begriffsverwendung
  3. Statik der Gesellschaft und Dynamik der Person
    1. 3.1. Dimensionen der Gerechtigkeit
  4. Unrecht, Verkrümmung und Krankheit
    1. 4.1. Ursachen der seelischen Verkrümmung
    2. 4.2. Seelische Folgen des Unrechts
      1. 4.2.1. Erlittenes Unrecht
      2. 4.2.2. Begangenes Unrecht
      3. 4.2.3. Vermeintliches Unrecht
  5. Recht oder Anspruch
    1. 5.1. Anspruch und Entrechtung
    2. 5.2. Motive der Begriffswahl
  6. Recht und Gerechtigkeit
  7. Ergänzungen
Was Menschen daran hindert, sich aufzurichten, ist ungerecht.

Beim Versuch, Gerechtigkeit zu erzwingen, hat schon mancher Unrecht getan. Nicht immer ist Gerechtigkeit mit rechten Mitteln sofort erreichbar. Wer gerecht bleiben will, muss oft Ungerechtigkeit erdulden.

Gerechtigkeit ist eine Heilige; weil ohne sie keine menschliche Menschheit möglich wäre. Der Begriff Gerechtigkeit ist eine Hure. Er dient jedem, der ihn mit Beliebigem befüllt.

Wer glaubt, er wisse verlässlich, was gerecht ist, kann seine Zuversicht getrost durch tausend dividieren, ohne dass er Gefahr liefe, sich zu unterschätzen.

Sind Sie für eine gerechte Welt? Wenn ja, sind Sie mit 99% der Menschheit einig. Fast jeder ist für Gerechtigkeit. Da fragt man sich, warum ständig von Mord und Totschlag zu hören ist; wenn doch so viel Einigkeit darin besteht, wie die Welt sein soll.

1. Begriffe

Gerecht setzt sich aus zwei Teilen zusammen: ge- und recht. Die Vorsilbe ge- benennt eine Versammlung. Recht geht auf die indoeuropäische Wurzel reĝ- = aufrichten, recken, geraderichten zurück. Derselben Quelle entspringt das Eigenschaftswort richtig.

Die Grundbedeutung der indoeuropäischen Wurzel kommt auch in anderen Sprachen zum Ausdruck; im lateinischen regere = gerade richten, im ebenfalls lateinischen rectus = geradlinig, richtig, sittlich gut, im griechischen oregein [ορεγειν] = recken, ausstrecken oder im altindischen raji-ḥ = sich aufrichtend. Das lateinische Verb regere ist zugleich der sprachgeschichtliche Ursprung des Regierens und des Regenten.

Recht kommt dem zu, was sich aufrichtet. Gerechtigkeit herrscht dort, wo das zusammenkommt, was aufrecht geht. Gerecht geht es zu, wenn sich nichts Aufrechtes beugen muss. Das Aufrechte ist sittlich gut. Aufgabe der Regierenden ist es, Bedingungen zu schaffen, die es den Regierten freistellen, sich ihren Möglichkeiten gemäß aufzurichten.

2. Begriffsverwendung

Sprachgeschichtlich verweisen die Begriffe Recht und Gerechtigkeit sowohl auf einen Bezug des Individuums zu sich selbst als auch auf ein Verhältnis der Individuen zueinander.

Umgangssprachlich wird der Begriff Gerechtigkeit überwiegend zur Beschreibung der sozialen Gerechtigkeit verwendet. Soziale Gerechtigkeit besteht in einer gesellschaft­lichen Statik. Sie bietet ein Grundgerüst für die Entfaltung des Einzelnen. Gesell­schaftliche Verhältnisse gelten als gerecht oder ungerecht. Ermöglichen sie es allen, sich aufzurichten, hat die Gesellschaft die richtige Struktur.

3. Statik der Gesellschaft und Dynamik der Person

Gerechtigkeit kann als wechselseitige Ergänzung zweier Aspekte beschrieben werden.

Zwei Aspekte der Gerechtigkeit

Existenziell Systemisch
Bezug der Person zu sich selbst Bezug von Personen zueinander
dynamisch statisch
Selbst­verwirk­lichung
Indivi­duation
fest­gelegte Rechte
vertikal
intra-individuell
horizontal
vergleichend

Gerechtigkeit hat einen dynamischen Ursprung. Sie entspringt der Aktivität Einzelner. Daher kann über ihren Inhalt nur schwer ein endgültiger Konsens erzielt werden. Was eine Gemeinschaft für gerecht hält, hängt davon ab, wer sich in welchem Ausmaß darin aufrichtet... und wofür er sich hält; wovon er also glaubt, dass es aufgerichtet werden sollte.

Da das Selbstbild des Menschen wandelbar ist, hat es keiner Gesellschaftsform je an Befürwortern gefehlt. Ob Pharaonenherrschaft, Feudalismus, Militärdiktatur, Monarchie, Gottesstaat, Kommunismus, Faschismus oder Demokratie: Irgendwer findet die betreffende Ordnung immer gerecht; und zwar der, der glaubt, dass sie ihm die Freiräume verschafft, die ihm zustehen.

Die Statik einer ausgewogenen Gesellschaftsordnung wird durch die Dynamik aufrechter Individuen bestimmt. Da die Bestimmung der systemischen, politischen und sozialen Gerechtigkeit der individuell-dynamischen bedarf, ist eine gerechte Ordnung nur soweit möglich, wie das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen geachtet wird.

Geben und Nehmen
Zur Gerechtigkeit gehört zweierlei: geben und nehmen. Wer sich aufrichtet, nimmt: den Raum, den er braucht, um aufrecht zu stehen. Zur Gerechtigkeit gehört auch, anderen den Raum zu belassen, der zu ihrer Entfaltung notwendig ist. Allerdings ist Gerechtigkeit mehr als ein taktisches Zugeständnis. Die Beachtung anderer kann aus Berechnung geschehen:

Eigentlich gerecht kann die Beachtung des Anderen nur sein, wenn sie keiner egozentrischen Absicht unterliegt, sondern sich als Selbstzweck begreift. Der Gerechte ordnet Freiraum nicht zu, weil es ihm Vorteile bringt, sondern weil er anerkennt, dass anderen Freiraum zusteht. Für Gerechtigkeit steht ein, wer das jeweils unterschiedliche Sosein aller anderen zweckfrei beachtet. Gerechtigkeit versteht, dass das Recht anderer ihrer Aufrichtigkeit entspringt und nicht als Gabe vom Geber verliehen wird. Wahres Recht wird nicht vergeben, sondern anerkannt.

3.1. Dimensionen der Gerechtigkeit

Der Mensch ist ein psychosoziales Wesen. Dementsprechend lotet sein Gerechtigkeitssinn zwei Dimensionen aus:

  1. Die soziale Dimension

    Die soziale Dimension vergleicht auf der horizontalen Ebene zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft. Sie vergleicht Personen miteinander. Wenn der eine immer Kaviar isst und der andere Kartoffelschalen, entsteht der Verdacht, dass die horizontale Ebene in Schieflage geraten ist und die Güterverteilung zwischen zwei Personen nicht stimmt.

    Wohlgemerkt: Es entsteht der Verdacht. Wenn Arne zehn Jahre lang fleißig für die Schule lernt, während ihn Hendrik vom Sofa aus verspottet, mag es sein, dass an der Gerechtigkeit der ungleichen Mahlzeitverteilung nur wenig auszusetzen ist. Wenn Hendrik aber durch soziale Strukturen daran gehindert wird, dass eigener Fleiß überhaupt fruchten könnte, dann ist der Verdacht begründet, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht.

    Das A & O der sozialen Gerechtigkeit liegt daher nicht in einer monetären Umverteilung zwischen arm und reich. Sie liegt im kostenlosen Bildungsangebot für alle und der Bereitstellung von Mitteln, die es jedem ermöglichen, bei persönlicher Eignung die gleichen Bildungsangebote anzunehmen.

  2. Die existenzielle Dimension

    Die existenzielle Dimension vergleicht vertikal. Sie fragt, welches Schicksal dem Verhalten des Individuums gerecht wird. Sie unterstellt jedes Subjekt der gleichen innersubjektiven Gesetzmäßig­keit. Wer sich mehr müht, hat Anrecht auf mehr Erfolg. Wenn einer fleißig gelernt hat und er bekommt trotzdem eine fünf, empfinden wir das als ungerecht. Wenn einer, der nichts wagt, auch nichts gewinnt, dann denken wir: Das geschieht ihm recht.

Chancen
Man hat größere Chancen, das Schicksal als gerecht zu empfinden, wenn man den Schwerpunkt der Betrachtung in die vertikale Dimension verlegt. Auf der sozialen Ebene hängt man stark von den Entscheidungen anderer ab; von politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Auf der existenziellen Ebene hat man mehr selbst in der Hand.

Reifung
Je reifer eine Person wird, desto wichtiger wird ihr die existenzielle Dimension der Gerechtigkeit und desto weniger vergleicht sie ihre Position mit der anderer. Der Blick zur existenziellen Dimension kann sich zur spirituellen Ebene erweitern. Dort kann sie fragen: Warum ist es gerecht, dass ich nicht weiß, was ich bin?

Der Gerechtigkeitssinn vieler konzentriert sich auf den horizontalen Vergleich. Das ist logisch, denn die Logik des sozialen Vergleichs führt oft zu einem Anspruch: Gerecht ist, wenn ich mehr bekomme. Die Logik des existenziellen Vergleichs führt gehäuft zum Gegenteil: Wenn ich mehr gebe, werde ich meinen Möglichkeiten besser gerecht.

4. Unrecht, Verkrümmung und Krankheit

Unrecht ist eine wesentliche Ursache seelischer Krankheit. Die ursprüngliche Bedeutung von krank geht auf krumm zurück. Das Kranke ist das aus seiner eigentlichen Form Herausgekrümmte. Es ist gebeugt und verkümmert.

Gerecht bezeichnet ein Aufgerichtetsein. Das macht deutlich, warum Ungerechtigkeit zu Krankheit führt. Was sich nicht aufrichten kann, verkrümmt sich in Krankheit. Das kränkende Potenzial der Ungerechtigkeit wirkt auf vier Ebenen:

  1. durch Unrecht, das nicht überwunden wird
  2. durch Unrecht, das nicht benannt wird
  3. durch Unrecht, das nicht erkannt wird
  4. durch Unrecht, das nicht durchlebt wird

Unrecht zu erkennen ist der erste Schritt zu seiner Überwindung. Der zweite ist, es zu benennen. Zwar führt die Benennung einer Ungerechtigkeit nicht zwangsläufig zu ihrer Behebung, die Benennung allein hat jedoch bereits einen heilenden Effekt. Wer Ungerechtigkeit benennt, obwohl er sie nicht beheben kann, kann ihrem kränkenden Einfluss besser widerstehen. Umgekehrt heißt das: Wird Ungerechtigkeit nicht einmal benannt, geschweige denn behoben, ist die Gefahr, die der seelischen Gesundheit droht, besonders groß.

Unrecht zu tun oder es billigend in Kauf zu nehmen, ist eine Entwertung anderer. Jede Entwertung anderer ist ein Signal dafür, dass der, der entwer­tet, sich selbst nicht uneingeschränkt wertschätzt.

Ist Unrecht weder zu überwinden noch kann ihm ausgewichen werden, steht der Betroffene vor der Wahl:

Die erste Variante kann in einen Schützengraben führen, bei der zweiten geht das Unrecht vorüber oder es verliert seine Macht. Wer sich im Unrecht hinter Hass verschanzt, wird vom Hass besessen. Wer sich Ohnmacht eingesteht, wo sie nicht zu überwinden ist, wird frei.

4.1. Ursachen der seelischen Verkrümmung

Die Ursachen der seelischen Verkrümmung durch Ungerechtigkeit können den vier Ebenen zugeordnet werden. Je nachdem, an welcher Hürde die Überwindung des Unrechts scheitert, stehen andere Ursachen im Vordergrund.

Hürde Ursachen
Nicht überwunden
  • Ohnmacht: Nicht nur politische Strukturen verurteilen Menschen zur Ohnmacht. Es gibt auch interpersonelle Machtgefälle, die kaum zu überwinden sind: zum Beispiel die zwischen Eltern und Kindern oder die zwischen Vorgesetztem und Untergebenem.
  • Duldung: So mancher duldet Unrecht, das er ändern könnte, weil es einen psychologischen Vorteil bietet, zurückgesetzt zu sein und in der Rolle des ungerecht Behandelten zu bleiben.
  • Eigennutz: Wer aus Ungerechtigkeiten unmittelbare Vorteile zieht, nimmt ihre Nachteile abwägend in Kauf.
Nicht benannt
  • Resignation: Wenn keine Hoffnung zu bestehen scheint, Ungerechtigkeit zu beheben, nimmt man sie schweigend hin.
  • Selbstschutz: Je nachdem, wie aggressiv das Umfeld Unrecht verteidigt, kann es notwendig sein, dazu zu schweigen. Not­wendig heißt hier nicht zwingend erforderlich. Das Schweigen wendet eine Not ab; nämlich durch den Unrechtswillen anderer weiteren Schaden zu nehmen. Die Menschheit hat vor allem jenen zu danken, die sich davon nicht aufhalten ließen.
  • Opportunismus: Das Verschweigen des Unrechts kann opportunistisch sein. Dann geht es nicht um den Schaden, den man von sich abwendet, sondern um den Nutzen, den das Schweigen verheißt.
Nicht erkannt
  • Intellektuelle Defizite: Wer unscharf wahrnimmt und oberflächlich denkt, wird Unrecht gar nicht erst erkennen.
  • Indoktrination: Die erfolgreichsten Weltbilder verbreiten sich wie Viren im Netzwerk. Je ausgeklügelter der Mechanismus ist, der ihre Verbreitung betreibt, desto verbreiteter sind sie. Hat das Weltbild die Kontrolle über den Verstand übernommen, entscheidet es, was als Recht oder Unrecht erkannt werden kann.
  • Verdrängung: Kollektive Weltbilder sind nicht die einzigen, die die jeweilige Unterscheidung von Recht und Unrecht durch fertige Urteile ersetzen. Auch das Individuum selbst legt sich aus seinen Erfahrung Theorien zurecht, die die Erkenntnis gegenwärtigen Unrechts aus seinem Bewusstsein verdrängen.
Nicht durchlebt
  • Widerstand gegen eine Korrektur des Selbstbilds: Der schädigenden Macht anderer wehrlos ausgesetzt zu sein, ist ein Faktum, das verunsichert. Es bedroht das Selbstwertgefühl und schränkt das Selbstbestimmungsrecht ein. Opfer konkreten Unrechts zu sein, macht die Verwundbarkeit deutlich. Je mehr sich ein Individuum mit einem egozentrischen Selbstbild identifiziert, desto mehr wird es sich durch die Anwendung psychologischer Abwehrmechanismen gegen die tatsächliche Erfahrung der Verwundbarkeit sträuben.
4.2. Seelische Folgen des Unrechts

Unrecht kann seelisch krank machen; sowohl wenn es erlit­ten als auch wenn es begangen wird. Oft bleibt seelisches Kranksein als Folge des Unrechts unbemerkt; weil Unge­rechtigkeiten als ebenso normal betrachtet werden wie ihre seelischen Folgen.

Hasskappe
Ich habe die Hasskappe auf. Eine vielsagende Wendung! Meist wird sie gebraucht, wenn man Opfer eines Unrechts geworden ist, oder sich als solches sieht, ohne dass man das Unrecht zurückweisen kann. Eine Kappe dient dem Schutz vor Üblem, das von außen oder oben kommt. So ist die Hasskappe als Abwehrmanöver erkennbar. Der Hass schützt den, der die Kappe trägt, vor etwas, das er noch mehr fürchtet, als im Hass zu schmoren. Viele halten das Gefühl, ohnmächtig, wehrlos und ausgeliefert zu sein, für unannehm­barer als den Hass, den sie gegen Widersacher richten.

Wer aus Hass Unrecht begeht, hat sich aus dem Unrecht, das er erlitten haben mag, nicht aufgerichtet. Stattdessen versucht er, andere zu beugen. Sie können nicht immer verhindern, dass Sie Unrecht erleiden. Sie können aber verhindern, dass Sie es tun.
4.2.1. Erlittenes Unrecht

Erlittenes Unrecht kann zu vielfältigen psychologischen Problemen führen:

Unrecht kann bewusst oder unbewusst erlitten werden. Wird Unrecht bewusst erlitten, ist der ursächliche Zusammenhang zwischen Leid und Unrecht erkennbar.

Dem, der Unrecht erleidet, ist nicht immer klar, dass das, worunter er leidet, Unrecht ist, also ein Umstand, der ihn an der Wahrnehmung des existenziellen Rechts hindert, sich aufzurichten. Das Recht, sich zu dem aufzurichten, was man ist, wird hier als existenzielles Grundrecht aufgefasst, weil es dem Wesen eines jeden Seins entspricht, es selbst zu sein.

4.2.2. Begangenes Unrecht

Begangenes Unrecht mag materielle oder psychologische Vorteile bringen. Auf der psychologischen Seite stehen dem stets Nachteile entgegen. Unrecht zu begehen führt zu Schuld. Schuld führt zu:

Schuldgefühle sind der Preis der Schuld; zumindest bei Taten, die man selbst als schuldhaft einstuft. Schuldgefühle werden nicht immer bewusst gefühlt und akzeptiert. Oft werden sie vom Täter verleugnet und verdrängt. Schuldgefühle zu verdrängen heißt aber nicht, dass kein Preis für die Schuld zu zahlen wäre. Mit dem Schuldgefühl verdrängt der Schuldige einen Teil seiner selbst. Das schadet seinem Selbstwertgefühl. Es spaltet die Integrität seines Selbsterlebens. Dabei können sich die Auswirkungen des Schadens vielschichtig in sein Erleben verästeln ohne dass der, der Schuldgefühle verdrängt, die psychologischen Zusammenhänge erkennt.

Sie können nicht verhindern, Unrecht zu erleiden, Sie können jedoch verhindern, Unrecht zu begehen. Was Sie erleiden, bleibt in der Vergangenheit zurück. Was Sie tun, wird Ihre Zukunft bestimmen.

Wer Schuld versteckt, kann sich nicht aufrichten; weil er sich beugen muss, um die Schuld in ihr Versteck zu bringen.

Die psychologischen Folgen begang­ener Schuld werden durch Reue geheilt. Reue heißt, ohne Wider­stand Schuldgefühle zu durchleben.

Die Psychoanalyse geht davon aus, dass Verdrängung eines energetischen Verdrängungsaufwands bedarf, ähnlich wie es eines steten Kraftaufwands bedarf, einen Ball unter Wasser zu halten. Ein solcher Energiebedarf fällt für argumentierende Gedankenketten an, durch die der Schuldige Bedeutung und Rechtmäßigkeit seiner Schuldgefühle vor sich selbst verleugnet.

Strafangst ist eine psychologische Folge ungesühnter Schuld. Auch sie wird oft verdrängt. Sie durchsetzt dessen ungeachtet aber unterschwellig das Bewusstsein des Täters. Angst hält einen Zustand innerer Erregung und Wachsamkeit nach außen aufrecht, der die Erlebnisfähigkeit vermindert; vor allem für das Erleben einer tiefgreifenden Bejahung der eigenen Existenz. Ungesühnte Schuld hält beim Täter die Sorge wach, dass das Leben ihn als unwert verstoßen wird.

Einsamkeit ist eine Folge der Strafangst. Wird Schuld nicht durch tätige Reue gesühnt, muss sie verheimlicht werden. Verheimlichung ist eine Einschränkung der Kommunikation. Das steigert die Distanz zum Umfeld. Wird der schwarze Fleck aus Angst vor Strafe verheimlicht, bleibt der Täter mit seinem Wissen allein. Er wird sich selbst zur Einzelhaft.

Man kann reines Glück empfin­den, obwohl man Unrecht erleidet, aber nicht, wenn man es begeht.

Ungerechtigkeit ist in Beziehungsstrukturen eingewoben. Dort wird sie oft ein Leben lang erduldet, ohne als Ungerechtigkeit benannt zu werden.

Sat-Chit-Ananda
Sat-Chit-Ananda (Sanskrit: सच्चिदानन्द): So bezeichnet die indische Philosophie des Advaita-Vedanta den Gipfelpunkt der spirituellen Entwicklung. Als Grundlage der Glückseligkeit benennt sie die Übereinstimmung von Sein und Bewusstsein. Glück­seligkeit wird dabei als reines Glückserleben aufgefasst, das von keiner äußeren Bedingung abhängt. Das Konzept erklärt zugleich, warum reines Glück unmöglich ist, wenn man Unrecht begeht.
4.2.3. Vermeintliches Unrecht

Nicht jedes Unrecht, als dessen Opfer man sich sieht, ordnet man dem richtigen Täter zu. Leidet man, kommt die Frage nach der Ursache auf. Geht man davon aus, dass die Ursache eines Leides im Fehlverhalten eines Verursachers liegt, wird die Verantwortung schnell anderen zur Last gelegt. Wenn es mir schlecht geht, muss jemand daran schuld sein. Wer fällt mir als erstes ins Auge? Andere.

Gewiss: Wenn ich gebeugt gehe, kann es sein, dass ein anderer mich daran hindert, aufrecht zu gehen. Oft ist es aber eher so, dass mir der Mut fehlt, zu mir selbst zu stehen. Wer sich selbst nicht gerecht wird, sieht die Schuld gern bei anderen.

Eigentlich ist vermeintliches Unrecht tatsächliches Unrecht. Allerdings werden dabei Täter und Opfer verwechselt. Das vermeintliche Opfer wird weder sich selbst noch dem vermeintlichen Täter gerecht; sich selbst nicht, indem es sich nicht aufrichtet, dem Angeklagten nicht, indem es ihn beugen will.

Bei der Übertragung eigener Schuldlast auf andere kommen unreife Abwehr­mechanismen zum Einsatz: Projektion und projektive Identifikation. Der Einsatz beider Mechanismen stört die Harmonie zwischenmenschlicher Beziehungen ebenso wie er die Selbstfindung dessen beeinträchtigt, der sie benutzt.

Selbstgerechtigkeit

Der Versuch, sich seiner selbst gerecht zu werden, wird schnell durch Selbstgerechtigkeit ersetzt. Der selbstgerechte Mensch neigt dazu, die Wirklichkeit voreilig so zu deuten, dass er selbst darin stets im besten Licht erscheint. Selbstgerechtigkeit kann man als einen Abwehrmechanismus gegen Selbstwertzweifel deuten. Zugleich ist sie aber auch ein Manöver um andere unter Druck zu setzen. Wer stets davon ausgeht, dass er selbst optimal gehandelt hat, er seinen Möglichkeiten also bereits gerecht geworden ist, schiebt alle Verantwortung für Missstände von sich ab. Logisch daraus folgt, dass das Umfeld in der Bringschuld steht. Wer sich seiner selbst gerecht zu werden versucht, betrachtet sich kritisch. Wer selbstgerecht ist, tut es nicht.

5. Recht oder Anspruch

Nicht alles, was als Recht bezeichnet wird, ist damit gut benannt. Als Ursache dafür ist eine Vermengung unterschiedlicher Sachverhalte verantwortlich. Recht und Anspruch werden oft verwechselt.

Definitionen im Überblick

Ein Recht... Ein Anspruch...
ist die Freiheit, etwas zu tun oder zu lassen, ohne dass diese Freiheit von anderen beschnitten wird. ist die Befugnis, die Freiheit eines anderen zu beschneiden.
erweitert die Freiheit des Berechtigten ohne die Freiheit anderer zu begrenzen. erweitert die Freiheit des Anspruchs-berechtigten auf Kosten anderer.

Ungeachtet der Tatsache, dass sich Recht und Anspruch voneinander unterscheiden, werden Ansprüche allenthalben als Rechte bezeichnet. Das gilt im privaten Bereich ebenso wie in der Politik.

Anspruch ist kein Recht. Selbst wenn Ansprüche sinnvoll sind, ist Anspruch im Grundsatz Entrechtung.

Ein Recht zu wissen, wo Werner sich befindet, hat Lisa sowieso. Wissen kann nicht verboten sein. Tatsächlich verteidigt Lisa hier aber kein Recht, sondern erhebt den Anspruch, von Werner informiert zu werden. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Die Verwechslung von Recht und Anspruch verursacht zwischen­menschliche und gesellschaftliche Konflikte. Damit ist sie eine bedeutsame Quelle seelischen Leids.

5.1. Anspruch und Entrechtung

Während sich die Gesellschaft bis zu den 70er Jahren vor allem um eine Erweiterung von Persönlichkeitsrechten bemühte, ist sie danach dazu übergegangen, Ansprüche auszuweiten. Dabei übersieht sie, dass jeder Anspruch eine Kehrseite hat: die Ent­rechtung derer, denen gegenüber der Anspruch erhoben wird. Die wechselseitige Anerkennung von Rechten war ein solidarischer Akt. Die Zuweisung anspruchs­erfüllender Pflichten ist ein konkurrierender Akt.

Rechte und Ansprüche

Recht ist das Recht... Anspruch ist der Anspruch...
  • seine Meinung zu sagen.
  • sich zu versammeln.
  • wählen zu gehen.
  • das Land zu verlassen.
  • Beziehungen einzugehen oder aufzugeben.
  • zu entscheiden, was man glaubt.
  • ungestraft zu seinen sexuellen Neigungen zu stehen, sofern ihre Ausübung die Rechte anderer nicht schmälert.
  • im Garten Buschbohnen anzupflanzen.
  • über den eigenen Körper zu verfügen.
  • über seinen Besitz zu verfügen.
  • zu dem Arzt zu gehen, dem man vertraut und sich von jenem abzuwenden, dem man nicht vertraut.
  • unbehelligt von Fluglärm zu schlafen.
  • als Bahnkunde pünktlich anzukommen.
  • Arbeitslosengeld zu beziehen.
  • nach einer Trennung versorgt zu werden.
  • eine Ausbildung finanziert zu bekommen.
  • als Patient proaktiv informiert zu werden.
  • als Altenheim­bewohner eine bestimmte Versorgung erwarten zu dürfen.
  • gemäß Patientenrechte­gesetz (PRG) eine bestimmte Behandlungs­qualität zu erhalten.

Richtigerweise hieße das Patientenrechtegesetz Patientenanspruchsgesetz. Der Patient hat laut Gesetz nicht das Recht, dass der Arzt ihn über Behandlungsrisiken aufklärt, sondern er kann Anspruch darauf erheben. Sein Recht, aufgeklärt zu werden, wurde auch vor Inkrafttreten des PRG von niemandem infrage gestellt.

Ohne die Festsetzung von Ansprüchen käme die Gesellschaft kaum zurecht. Jeder Gesellschaftsvertrag regelt nicht nur die Vergabe, sondern auch die Begrenzung von Freiheiten. Würde die Freiheit des Einzelnen zu lärmen nicht beschränkt, könnte das übel enden. Das ändert aber nichts daran, dass die Ansprüche der einen zur Entrechtung anderer führen.

Da die Politik immer neue Ansprüche festsetzt, entsteht dort, wo die entsprechende Leistung erbracht wird, ein Anpassungsdruck. Jeder Einzelne wird über tausend Kanäle durch die Ansprüche anderer zunehmend entrechtet. Die Aggression, die das mit sich bringt, trägt zu einem Anwachsen psychiatrischer und gesellschaftlicher Probleme bei. Zu nennen ist außerdem das Burn-out-Syndrom. Immer mehr Menschen bluten energetisch aus, weil die Flut fremder Ansprüche keine Grenzen kennt.

5.2. Motive der Begriffswahl

Die Beharrlichkeit, mit der die Begriffe Recht und Anspruch synonym verwendet wer­den, kann kein Zufall sein. Und richtig: Ein Recht ist fundamentaler als ein Anspruch. Sich eines Rechts beraubt zu sehen, befördert den Beraubten stets in die Lage, sich im Recht zu fühlen und zurecht zu fordern. Sich im Recht zu sehen, dämpft Zweifel und Gewissensbisse. Im Gegensatz dazu läuft der, der Ansprüche erhebt, auf dünnem Eis. Ansprüche können berechtigt sein, oder sie sind Zeichen bloßer Ansprüchlichkeit.

Wer seine Ansprüche daher als Rechte bezeichnet, setzt den, an den er sie richtet, ins Unrecht; falls er die erhobenen Ansprüche nicht willig bedient. In der Politik funktioniert der Etikettenschwindel so gut wie im Privaten. Begeistert vom Kampf um vermeintliches Recht wird Verpflichtung betrieben. Der Begriff Pflicht ist eine Abwand­lung des Verbs pflegen. Recht heißt: Ich bin frei. Verpflichtung heißt: Du hast mich zu pflegen.

6. Recht und Gerechtigkeit

Oben haben wird gesehen: Eine Regentschaft, die ihrem Namen gerecht wird, hat die Aufgabe, den Regierten den Freiraum zu verschaffen, im dem sie sich aufrichten können. Nur dann ist der Gesellschaftsvertrag nicht nur Ausdruck asymme­trischer Machtverhältnisse, sondern tatsächlich ein Vertrag, der sozialen Frieden sichert.

Zwei Auffassungen vom Staat konkurrieren demzufolge miteinander:

  1. Die eine geht davon aus, Staatlichkeit bestehe im Vorsatz, Gerechtigkeit herzustellen, also die Macht der Stärkeren daran zu hindern, Schwächere zu beugen und dem, der sich aufzurichten versucht, den Weg zu ebnen.

  2. Die andere betrachtet den Staat als Grundstück seiner Repräsentanten. Dann wird der Staat zum Landgut derer, die ihn betreiben und beim Ölen der Maschinerie, die Posten, Karrieren, Apanagen und Pensionen verteilt, wird Gerechtigkeit zur Nebensache. Wer dieser Auffassung folgt, verwechselt Gerechtigkeit mit Legalität. Er glaubt, die Wahrheit werde nicht entdeckt, sondern beschlossen.

Werkzeug des Staates beim Einsatz für die Gerechtigkeit ist der Erlass formalen Rechts. Entgegen der üblichen Erwartung, dass das formale Recht ein Ringen um Gerechtigkeit zum Ausdruck bringt, ist es oft anderes. Formales Recht kümmert sich nicht um Gerechtigkeit. Es genügt sich als ordnungspolitisches Regelwerk, das nicht denen dient, die sich aufrichten, sondern der Aufrechterhaltung der Herrschaft.

Man kann daher auf dreierlei schließen...

  1. Wäre der Zusammenhang zwischen Recht und Gerechtigkeit nicht etymologisch nachweisbar, könnte man ihn bei vielen Gesetzen glatt übersehen.

  2. Auch wenn der Steuerzahler dem Staat weitere 50 Justiz- und ebenso viele zusätzliche Kultusminister spendiert, um Recht und Gerechtigkeit einander anzunähern, gibt es keine Gewähr, dass sich das lohnt. Dass die Kohorten bereits heute beauftragter Bundes- und Landesminister nicht mehr Gerechtigkeit zustande bringen, als sie es tun, kann nicht an geistiger Behinderung liegen. Vermutlich liegt schieres Desinteresse vor. Da Desinteresse durch Multiplikation nicht in tätiges Rechtsbewusstsein übergeht, ist zu befürchten, dass auch eine Verdreifachung der Führungsmannschaft keine Abhilfe schafft.

  3. Die nachnachkriegszeitliche Riege aktiver Politiker hat mehrheitlich Auffassung Nummer 2 vom Staat verinnerlicht.

7. Ergänzungen

Gerechtigkeit zu bewirken, ist eines der wesentlichen Ziele gesellschaftlicher Regeln. Allerdings ist Gerechtigkeit kein fester Gegenstand, dessen Eigenschaften man objektiv bestimmen könnte. Was als gerecht empfunden wird, hängt vom Betrachter ab, der den Begriff für sich definiert. Kein Betrachter ist in der Lage, ein allgemeingültiges Urteil abzugeben.

Während es einerseits niemals einen Konsens geben kann, wird Gerechtigkeit zugleich zum Ideal erhoben. Gerechtigkeit zu idealisieren kann aber dazu führen, dass man sie verfehlt.

Ideologen und Idealisten identifizieren sich mit Idealen. Dadurch bringen sie sich zur Wirklichkeit auf Distanz. Statt sich der Wirklichkeit zu stellen, quartieren sie sich in den Luftschlössern einer Ideenwelt ein, von wo aus es ihnen als ein Leichtes erscheint, die Schwerkraft zu überwinden. Sie meinen: Wenn die Schwerkraft nur ein Fünkchen guten Willens hätte, hätte sie sich längst abgeschafft.

Ideale sind Bilder, die man sich macht. Setzt man ein Bild kategorisch über die Wirklichkeit, kann es sein, dass man Schaden verursacht, weil man der Wirklichkeit, geblendet vom schönen Bild, nicht gerecht wird. Ideologen und Idealisten neigen dazu, genau das zu tun. Sie rücken im Kopf Bilder zurecht und glauben, dass die Wirklichkeit nur rechtens sei, wenn sie ein Vorrecht der Bilder anerkennt.

Es kann jedoch sein, dass etwas, was viele als Unrecht empfinden, im Interesse aller ist.

Gerechtigkeit kann nicht in der Gleichheit liegen. Sie liegt darin, dass niemand daran gehindert wird, sich seinem Potenzial entsprechend aufzurichten.