Es gibt keine Gerechtigkeit, die das Selbstbestimmungsrecht des Individuums missachtet. Eine Versammlung der Aufrichtigen ist nur möglich, wo sich kein Aufrechter beugen muss.
Sind Sie für eine gerechte Welt? Wenn ja, sind Sie mit 99% der Menschheit einig. Fast jeder ist für Gerechtigkeit. Da fragt man sich, warum ständig von Mord und Totschlag zu hören ist; wenn doch so viel Einigkeit darin besteht, wie die Welt sein soll.
Gerecht setzt sich aus zwei Teilen zusammen: ge- und recht. Die Vorsilbe ge- benennt eine Versammlung. Recht geht auf die indoeuropäische Wurzel reĝ- = aufrichten, recken, geraderichten zurück. Derselben Quelle entspringt das Eigenschaftswort richtig.
Die Grundbedeutung der indoeuropäischen Wurzel kommt auch in anderen Sprachen zum Ausdruck; im lateinischen regere = gerade richten, im ebenfalls lateinischen rectus = geradlinig, richtig, sittlich gut, im griechischen oregein [ορεγειν] = recken, ausstrecken oder im altindischen raji-ḥ = sich aufrichtend. Das lateinische Verb regere ist zugleich der sprachgeschichtliche Ursprung des Regierens und des Regenten.
Recht kommt dem zu, was sich aufrichtet. Gerechtigkeit herrscht dort, wo das zusammenkommt, was aufrecht geht. Gerecht geht es zu, wenn sich nichts Aufrechtes beugen muss. Das Aufrechte ist sittlich gut. Aufgabe der Regierenden ist es, Bedingungen zu schaffen, die es den Regierten freistellen, sich ihren Möglichkeiten gemäß aufzurichten.
Sprachgeschichtlich verweisen die Begriffe Recht und Gerechtigkeit sowohl auf einen Bezug des Individuums zu sich selbst als auch auf ein Verhältnis der Individuen zueinander.
Das aufrechte Verhalten eines Individuums bezieht sich zugleich auf andere. Das Recht, das ihm zukommt, ist ein Raum im sozialen Umfeld. Der Aufrechte beansprucht zu Recht, dass ihm der Platz zugebilligt wird, in dem er sich aufrichten kann. Der zweite Bestandteil der Gerechtigkeit besteht darin, anderen die Möglichkeit offen zu halten, sich aufrichten zu können. Das ist der Kern sozialer Gerechtigkeit.
Umgangssprachlich wird der Begriff Gerechtigkeit überwiegend zur Beschreibung der sozialen Gerechtigkeit verwendet. Soziale Gerechtigkeit besteht in einer gesellschaftlichen Statik. Sie bietet ein Grundgerüst für die Entfaltung des Einzelnen. Gesellschaftliche Verhältnisse gelten als gerecht oder ungerecht. Ermöglichen sie es allen, sich aufzurichten, hat die Gesellschaft die richtige Struktur.
Gerechtigkeit kann als wechselseitige Ergänzung zweier Aspekte beschrieben werden.
Der dynamische Aspekt entspricht einer Aktivität des Individuums: Es richtet sich zu sich selbst auf. Das Individuum versucht zu verwirklichen, was seinem Selbstbild entspricht. Dieser Aspekt kann auch als existenziell bezeichnet werden.
Der statische Aspekt entspricht einer Struktur der Gesellschaft: dem Netzwerk festgelegter Rechte, das es den Mitgliedern der Gesellschaft ermöglicht, sich darin aufzurichten. Die politische Ebene der Gerechtigkeit ist systemisch. Die Statik der Gesellschaft ist erst in zweiter Linie dynamisch. Ihre Veränderungen folgen veränderten Sichtweisen, Ansprüchen und Erwartungen der Individuen aus denen die Gesellschaft besteht.
Zwei Aspekte der Gerechtigkeit
Existenziell | Systemisch |
Bezug der Person zu sich selbst | Bezug von Personen zueinander |
dynamisch | statisch |
Selbstverwirklichung Individuation |
festgelegte Rechte |
vertikal intra-individuell |
horizontal vergleichend |
Gerechtigkeit hat einen dynamischen Ursprung. Sie entspringt der Aktivität Einzelner. Daher kann über ihren Inhalt nur schwer ein endgültiger Konsens erzielt werden. Was eine Gemeinschaft für gerecht hält, hängt davon ab, wer sich in welchem Ausmaß darin aufrichtet... und wofür er sich hält; wovon er also glaubt, dass es aufgerichtet werden sollte.
Da das Selbstbild des Menschen wandelbar ist, hat es keiner Gesellschaftsform je an Befürwortern gefehlt. Ob Pharaonenherrschaft, Feudalismus, Militärdiktatur, Monarchie, Gottesstaat, Kommunismus, Faschismus oder Demokratie: Irgendwer findet die betreffende Ordnung immer gerecht; und zwar der, der glaubt, dass sie ihm die Freiräume verschafft, die ihm zustehen.
Die Statik einer ausgewogenen Gesellschaftsordnung wird durch die Dynamik aufrechter Individuen bestimmt. Da die Bestimmung der systemischen, politischen und sozialen Gerechtigkeit der individuell-dynamischen bedarf, ist eine gerechte Ordnung nur soweit möglich, wie das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen geachtet wird.
Eigentlich gerecht kann die Beachtung des Anderen nur sein, wenn sie keiner egozentrischen Absicht unterliegt, sondern sich als Selbstzweck begreift. Der Gerechte ordnet Freiraum nicht zu, weil es ihm Vorteile bringt, sondern weil er anerkennt, dass anderen Freiraum zusteht. Für Gerechtigkeit steht ein, wer das jeweils unterschiedliche Sosein aller anderen zweckfrei beachtet. Gerechtigkeit versteht, dass das Recht anderer ihrer Aufrichtigkeit entspringt und nicht als Gabe vom Geber verliehen wird. Wahres Recht wird nicht vergeben, sondern anerkannt.
Der Mensch ist ein psychosoziales Wesen. Dementsprechend lotet sein Gerechtigkeitssinn zwei Dimensionen aus:
Die soziale Dimension
Die soziale Dimension vergleicht auf der horizontalen Ebene zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft. Sie vergleicht Personen miteinander. Wenn der eine immer Kaviar isst und der andere Kartoffelschalen, entsteht der Verdacht, dass die horizontale Ebene in Schieflage geraten ist und die Güterverteilung zwischen zwei Personen nicht stimmt.
Wohlgemerkt: Es entsteht der Verdacht. Wenn Arne zehn Jahre lang fleißig für die Schule lernt, während ihn Hendrik vom Sofa aus verspottet, mag es sein, dass an der Gerechtigkeit der ungleichen Mahlzeitverteilung nur wenig auszusetzen ist. Wenn Hendrik aber durch soziale Strukturen daran gehindert wird, dass eigener Fleiß überhaupt fruchten könnte, dann ist der Verdacht begründet, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht.
Das A & O der sozialen Gerechtigkeit liegt daher nicht in einer monetären Umverteilung zwischen arm und reich. Sie liegt im kostenlosen Bildungsangebot für alle und der Bereitstellung von Mitteln, die es jedem ermöglichen, bei persönlicher Eignung die gleichen Bildungsangebote anzunehmen.
Die existenzielle Dimension
Die existenzielle Dimension vergleicht vertikal. Sie fragt, welches Schicksal dem Verhalten des Individuums gerecht wird. Sie unterstellt jedes Subjekt der gleichen innersubjektiven Gesetzmäßigkeit. Wer sich mehr müht, hat Anrecht auf mehr Erfolg. Wenn einer fleißig gelernt hat und er bekommt trotzdem eine fünf, empfinden wir das als ungerecht. Wenn einer, der nichts wagt, auch nichts gewinnt, dann denken wir: Das geschieht ihm recht.
Der Gerechtigkeitssinn vieler konzentriert sich auf den horizontalen Vergleich. Das ist logisch, denn die Logik des sozialen Vergleichs führt oft zu einem Anspruch: Gerecht ist, wenn ich mehr bekomme. Die Logik des existenziellen Vergleichs führt gehäuft zum Gegenteil: Wenn ich mehr gebe, werde ich meinen Möglichkeiten besser gerecht.
Unrecht ist eine wesentliche Ursache seelischer Krankheit. Die ursprüngliche Bedeutung von krank geht auf krumm zurück. Das Kranke ist das aus seiner eigentlichen Form Herausgekrümmte. Es ist gebeugt und verkümmert.
Gerecht bezeichnet ein Aufgerichtetsein. Das macht deutlich, warum Ungerechtigkeit zu Krankheit führt. Was sich nicht aufrichten kann, verkrümmt sich in Krankheit. Das kränkende Potenzial der Ungerechtigkeit wirkt auf vier Ebenen:
Unrecht zu erkennen ist der erste Schritt zu seiner Überwindung. Der zweite ist, es zu benennen. Zwar führt die Benennung einer Ungerechtigkeit nicht zwangsläufig zu ihrer Behebung, die Benennung allein hat jedoch bereits einen heilenden Effekt. Wer Ungerechtigkeit benennt, obwohl er sie nicht beheben kann, kann ihrem kränkenden Einfluss besser widerstehen. Umgekehrt heißt das: Wird Ungerechtigkeit nicht einmal benannt, geschweige denn behoben, ist die Gefahr, die der seelischen Gesundheit droht, besonders groß.
Ist Unrecht weder zu überwinden noch kann ihm ausgewichen werden, steht der Betroffene vor der Wahl:
Er sträubt sich gegen das Eingeständnis seiner Wehrlosigkeit und seines Ausgeliefertseins. Damit versucht er, die Tatsache, vom Unrecht betroffen zu sein, emotional nicht zu durchleben. Er spaltet und projiziert. Im Kopf empört er sich über die Schlechtigkeit der Welt ohne im Herz zu erfahren, was er tatsächlich erlebt. Vor der Ohnmacht flüchtet er in Hass.
Die erste Variante kann in einen Schützengraben führen, bei der zweiten geht das Unrecht vorüber oder es verliert seine Macht. Wer sich im Unrecht hinter Hass verschanzt, wird vom Hass besessen. Wer sich Ohnmacht eingesteht, wo sie nicht zu überwinden ist, wird frei.
Die Ursachen der seelischen Verkrümmung durch Ungerechtigkeit können den vier Ebenen zugeordnet werden. Je nachdem, an welcher Hürde die Überwindung des Unrechts scheitert, stehen andere Ursachen im Vordergrund.
Hürde | Ursachen |
Nicht überwunden |
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Nicht benannt |
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Nicht erkannt |
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Nicht durchlebt |
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Unrecht kann seelisch krank machen; sowohl wenn es erlitten als auch wenn es begangen wird. Oft bleibt seelisches Kranksein als Folge des Unrechts unbemerkt; weil Ungerechtigkeiten als ebenso normal betrachtet werden wie ihre seelischen Folgen.
Erlittenes Unrecht kann zu vielfältigen psychologischen Problemen führen:
Unrecht kann bewusst oder unbewusst erlitten werden. Wird Unrecht bewusst erlitten, ist der ursächliche Zusammenhang zwischen Leid und Unrecht erkennbar.
Dem, der Unrecht erleidet, ist nicht immer klar, dass das, worunter er leidet, Unrecht ist, also ein Umstand, der ihn an der Wahrnehmung des existenziellen Rechts hindert, sich aufzurichten. Das Recht, sich zu dem aufzurichten, was man ist, wird hier als existenzielles Grundrecht aufgefasst, weil es dem Wesen eines jeden Seins entspricht, es selbst zu sein.
Begangenes Unrecht mag materielle oder psychologische Vorteile bringen. Auf der psychologischen Seite stehen dem stets Nachteile entgegen. Unrecht zu begehen führt zu Schuld. Schuld führt zu:
Schuldgefühle sind der Preis der Schuld; zumindest bei Taten, die man selbst als schuldhaft einstuft. Schuldgefühle werden nicht immer bewusst gefühlt und akzeptiert. Oft werden sie vom Täter verleugnet und verdrängt. Schuldgefühle zu verdrängen heißt aber nicht, dass kein Preis für die Schuld zu zahlen wäre. Mit dem Schuldgefühl verdrängt der Schuldige einen Teil seiner selbst. Das schadet seinem Selbstwertgefühl. Es spaltet die Integrität seines Selbsterlebens. Dabei können sich die Auswirkungen des Schadens vielschichtig in sein Erleben verästeln ohne dass der, der Schuldgefühle verdrängt, die psychologischen Zusammenhänge erkennt.
Die Psychoanalyse geht davon aus, dass Verdrängung eines energetischen Verdrängungsaufwands bedarf, ähnlich wie es eines steten Kraftaufwands bedarf, einen Ball unter Wasser zu halten. Ein solcher Energiebedarf fällt für argumentierende Gedankenketten an, durch die der Schuldige Bedeutung und Rechtmäßigkeit seiner Schuldgefühle vor sich selbst verleugnet.
Strafangst ist eine psychologische Folge ungesühnter Schuld. Auch sie wird oft verdrängt. Sie durchsetzt dessen ungeachtet aber unterschwellig das Bewusstsein des Täters. Angst hält einen Zustand innerer Erregung und Wachsamkeit nach außen aufrecht, der die Erlebnisfähigkeit vermindert; vor allem für das Erleben einer tiefgreifenden Bejahung der eigenen Existenz. Ungesühnte Schuld hält beim Täter die Sorge wach, dass das Leben ihn als unwert verstoßen wird.
Einsamkeit ist eine Folge der Strafangst. Wird Schuld nicht durch tätige Reue gesühnt, muss sie verheimlicht werden. Verheimlichung ist eine Einschränkung der Kommunikation. Das steigert die Distanz zum Umfeld. Wird der schwarze Fleck aus Angst vor Strafe verheimlicht, bleibt der Täter mit seinem Wissen allein. Er wird sich selbst zur Einzelhaft.
Ungerechtigkeit ist in Beziehungsstrukturen eingewoben. Dort wird sie oft ein Leben lang erduldet, ohne als Ungerechtigkeit benannt zu werden.
Wer Unrecht wissentlich begeht, ist nicht mit seinem wahren Sein im Einklang. Wahres Sein weiß, dass es das Sein aller ist. Es richtet sich auf ohne zu beugen.
Nicht jedes Unrecht, als dessen Opfer man sich sieht, ordnet man dem richtigen Täter zu. Leidet man, kommt die Frage nach der Ursache auf. Geht man davon aus, dass die Ursache eines Leides im Fehlverhalten eines Verursachers liegt, wird die Verantwortung schnell anderen zur Last gelegt. Wenn es mir schlecht geht, muss jemand daran schuld sein. Wer fällt mir als erstes ins Auge? Andere.
Gewiss: Wenn ich gebeugt gehe, kann es sein, dass ein anderer mich daran hindert, aufrecht zu gehen. Oft ist es aber eher so, dass mir der Mut fehlt, zu mir selbst zu stehen. Wer sich selbst nicht gerecht wird, sieht die Schuld gern bei anderen.
Bei der Übertragung eigener Schuldlast auf andere kommen unreife Abwehrmechanismen zum Einsatz: Projektion und projektive Identifikation. Der Einsatz beider Mechanismen stört die Harmonie zwischenmenschlicher Beziehungen ebenso wie er die Selbstfindung dessen beeinträchtigt, der sie benutzt.
Selbstgerechtigkeit
Der Versuch, sich seiner selbst gerecht zu werden, wird schnell durch Selbstgerechtigkeit ersetzt. Der selbstgerechte Mensch neigt dazu, die Wirklichkeit voreilig so zu deuten, dass er selbst darin stets im besten Licht erscheint. Selbstgerechtigkeit kann man als einen Abwehrmechanismus gegen Selbstwertzweifel deuten. Zugleich ist sie aber auch ein Manöver um andere unter Druck zu setzen. Wer stets davon ausgeht, dass er selbst optimal gehandelt hat, er seinen Möglichkeiten also bereits gerecht geworden ist, schiebt alle Verantwortung für Missstände von sich ab. Logisch daraus folgt, dass das Umfeld in der Bringschuld steht. Wer sich seiner selbst gerecht zu werden versucht, betrachtet sich kritisch. Wer selbstgerecht ist, tut es nicht.
Nicht alles, was als Recht bezeichnet wird, ist damit gut benannt. Als Ursache dafür ist eine Vermengung unterschiedlicher Sachverhalte verantwortlich. Recht und Anspruch werden oft verwechselt.
Definitionen im Überblick
Ein Recht... | Ein Anspruch... |
ist die Freiheit, etwas zu tun oder zu lassen, ohne dass diese Freiheit von anderen beschnitten wird. | ist die Befugnis, die Freiheit eines anderen zu beschneiden. |
erweitert die Freiheit des Berechtigten ohne die Freiheit anderer zu begrenzen. | erweitert die Freiheit des Anspruchs-berechtigten auf Kosten anderer. |
Ungeachtet der Tatsache, dass sich Recht und Anspruch voneinander unterscheiden, werden Ansprüche allenthalben als Rechte bezeichnet. Das gilt im privaten Bereich ebenso wie in der Politik.
Kaum jemand zweifelt daran, ein Recht darauf zu haben, von seinen Kollegen korrekt behandelt zu werden. Tatsächlich ist das ein Anspruch, der das Recht der Kollegen, unfreundlich zu sein, einzuschränken versucht.
Jeder europäische Bürger hat das Recht darauf, fehlerfrei und sorgfältig informiert sowie proaktiv in seine Behandlung involviert zu werden.
Tatsächlich formuliert dieser Artikel keine Erweiterung von Rechten, sondern eine Erweiterung von Ansprüchen. Der Anspruch, proaktiv involviert zu werden, schränkt das Recht des Behandlers ein, es nicht zu tun. Die Verordnung wandelt das Recht des Patienten, den Behandler nach Einbindung zu fragen, in eine Pflicht des Behandlers um, es ohne Anfrage von Seiten des Patienten proaktiv, also vorauseilend, zu tun.
Da fragt man sich, ob der europäische Bürger auch das Recht hat, fehlerfrei regiert und proaktiv in die Entscheidungsprozesse der Regierenden involviert zu werden.
Lisa sagt zu Werner: Ich habe ein Recht darauf zu wissen, wo Du bist.
Ein Recht zu wissen, wo Werner sich befindet, hat Lisa sowieso. Wissen kann nicht verboten sein. Tatsächlich verteidigt Lisa hier aber kein Recht, sondern erhebt den Anspruch, von Werner informiert zu werden. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Die Verwechslung von Recht und Anspruch verursacht zwischenmenschliche und gesellschaftliche Konflikte. Damit ist sie eine bedeutsame Quelle seelischen Leids.
Während sich die Gesellschaft bis zu den 70er Jahren vor allem um eine Erweiterung von Persönlichkeitsrechten bemühte, ist sie danach dazu übergegangen, Ansprüche auszuweiten. Dabei übersieht sie, dass jeder Anspruch eine Kehrseite hat: die Entrechtung derer, denen gegenüber der Anspruch erhoben wird. Die wechselseitige Anerkennung von Rechten war ein solidarischer Akt. Die Zuweisung anspruchserfüllender Pflichten ist ein konkurrierender Akt.
Rechte und Ansprüche
Recht ist das Recht... | Anspruch ist der Anspruch... |
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Richtigerweise hieße das Patientenrechtegesetz Patientenanspruchsgesetz. Der Patient hat laut Gesetz nicht das Recht, dass der Arzt ihn über Behandlungsrisiken aufklärt, sondern er kann Anspruch darauf erheben. Sein Recht, aufgeklärt zu werden, wurde auch vor Inkrafttreten des PRG von niemandem infrage gestellt.
Ohne die Festsetzung von Ansprüchen käme die Gesellschaft kaum zurecht. Jeder Gesellschaftsvertrag regelt nicht nur die Vergabe, sondern auch die Begrenzung von Freiheiten. Würde die Freiheit des Einzelnen zu lärmen nicht beschränkt, könnte das übel enden. Das ändert aber nichts daran, dass die Ansprüche der einen zur Entrechtung anderer führen.
Je größer die Ansprüche des Bahnkunden sind, desto mehr Freiräume werden den Mitarbeitern der Bahn entzogen, damit das Unternehmen die Ansprüche der Kunden erfüllen kann.
Da die Politik immer neue Ansprüche festsetzt, entsteht dort, wo die entsprechende Leistung erbracht wird, ein Anpassungsdruck. Jeder Einzelne wird über tausend Kanäle durch die Ansprüche anderer zunehmend entrechtet. Die Aggression, die das mit sich bringt, trägt zu einem Anwachsen psychiatrischer und gesellschaftlicher Probleme bei. Zu nennen ist außerdem das Burn-out-Syndrom. Immer mehr Menschen bluten energetisch aus, weil die Flut fremder Ansprüche keine Grenzen kennt.
Die Beharrlichkeit, mit der die Begriffe Recht und Anspruch synonym verwendet werden, kann kein Zufall sein. Und richtig: Ein Recht ist fundamentaler als ein Anspruch. Sich eines Rechts beraubt zu sehen, befördert den Beraubten stets in die Lage, sich im Recht zu fühlen und zurecht zu fordern. Sich im Recht zu sehen, dämpft Zweifel und Gewissensbisse. Im Gegensatz dazu läuft der, der Ansprüche erhebt, auf dünnem Eis. Ansprüche können berechtigt sein, oder sie sind Zeichen bloßer Ansprüchlichkeit.
Wer seine Ansprüche daher als Rechte bezeichnet, setzt den, an den er sie richtet, ins Unrecht; falls er die erhobenen Ansprüche nicht willig bedient. In der Politik funktioniert der Etikettenschwindel so gut wie im Privaten. Begeistert vom Kampf um vermeintliches Recht wird Verpflichtung betrieben. Der Begriff Pflicht ist eine Abwandlung des Verbs pflegen. Recht heißt: Ich bin frei. Verpflichtung heißt: Du hast mich zu pflegen.
Oben haben wird gesehen: Eine Regentschaft, die ihrem Namen gerecht wird, hat die Aufgabe, den Regierten den Freiraum zu verschaffen, im dem sie sich aufrichten können. Nur dann ist der Gesellschaftsvertrag nicht nur Ausdruck asymmetrischer Machtverhältnisse, sondern tatsächlich ein Vertrag, der sozialen Frieden sichert.
Zwei Auffassungen vom Staat konkurrieren demzufolge miteinander:
Die eine geht davon aus, Staatlichkeit bestehe im Vorsatz, Gerechtigkeit herzustellen, also die Macht der Stärkeren daran zu hindern, Schwächere zu beugen und dem, der sich aufzurichten versucht, den Weg zu ebnen.
Die andere betrachtet den Staat als Grundstück seiner Repräsentanten. Dann wird der Staat zum Landgut derer, die ihn betreiben und beim Ölen der Maschinerie, die Posten, Karrieren, Apanagen und Pensionen verteilt, wird Gerechtigkeit zur Nebensache. Wer dieser Auffassung folgt, verwechselt Gerechtigkeit mit Legalität. Er glaubt, die Wahrheit werde nicht entdeckt, sondern beschlossen.
Werkzeug des Staates beim Einsatz für die Gerechtigkeit ist der Erlass formalen Rechts. Entgegen der üblichen Erwartung, dass das formale Recht ein Ringen um Gerechtigkeit zum Ausdruck bringt, ist es oft anderes. Formales Recht kümmert sich nicht um Gerechtigkeit. Es genügt sich als ordnungspolitisches Regelwerk, das nicht denen dient, die sich aufrichten, sondern der Aufrechterhaltung der Herrschaft.
Der Hartz-IV-Satz für einen 56-jährigen, der 38 Jahre lang für sich selbst gesorgt hat, ist keinen Euro höher, als der eines Zeitgenossen, der der Gesellschaft ebenso lang auf der Tasche lag.
Der Numerus clausus für das Medizinstudium lag im Sommersemester 2017 bei 1,0 bis 1,2. Wer darüber liegt, hat sieben Jahre auf das Studium zu warten, egal ob sein Schnitt 1,3 oder 3,9 beträgt. Es spielt auch keine Rolle, ob er während der Wartezeit wegen diverser Straftaten im Gefängnis sitzt, in Kolumbien ein Bordell betreibt, ehrenamtlich Alte pflegt oder im Ausland ein naturwissenschaftliches Studium mit Auszeichnung besteht.
Man kann daher auf dreierlei schließen...
Wäre der Zusammenhang zwischen Recht und Gerechtigkeit nicht etymologisch nachweisbar, könnte man ihn bei vielen Gesetzen glatt übersehen.
Auch wenn der Steuerzahler dem Staat weitere 50 Justiz- und ebenso viele zusätzliche Kultusminister spendiert, um Recht und Gerechtigkeit einander anzunähern, gibt es keine Gewähr, dass sich das lohnt. Dass die Kohorten bereits heute beauftragter Bundes- und Landesminister nicht mehr Gerechtigkeit zustande bringen, als sie es tun, kann nicht an geistiger Behinderung liegen. Vermutlich liegt schieres Desinteresse vor. Da Desinteresse durch Multiplikation nicht in tätiges Rechtsbewusstsein übergeht, ist zu befürchten, dass auch eine Verdreifachung der Führungsmannschaft keine Abhilfe schafft.
Gerechtigkeit zu bewirken, ist eines der wesentlichen Ziele gesellschaftlicher Regeln. Allerdings ist Gerechtigkeit kein fester Gegenstand, dessen Eigenschaften man objektiv bestimmen könnte. Was als gerecht empfunden wird, hängt vom Betrachter ab, der den Begriff für sich definiert. Kein Betrachter ist in der Lage, ein allgemeingültiges Urteil abzugeben.
Während es einerseits niemals einen Konsens geben kann, wird Gerechtigkeit zugleich zum Ideal erhoben. Gerechtigkeit zu idealisieren kann aber dazu führen, dass man sie verfehlt.
Ideale sind Bilder, die man sich macht. Setzt man ein Bild kategorisch über die Wirklichkeit, kann es sein, dass man Schaden verursacht, weil man der Wirklichkeit, geblendet vom schönen Bild, nicht gerecht wird. Ideologen und Idealisten neigen dazu, genau das zu tun. Sie rücken im Kopf Bilder zurecht und glauben, dass die Wirklichkeit nur rechtens sei, wenn sie ein Vorrecht der Bilder anerkennt.
Es kann jedoch sein, dass etwas, was viele als Unrecht empfinden, im Interesse aller ist.
Man kann einwenden, dass es ungerecht ist, Leuten, die bereits gegen eine Seuche geimpft sind, Bewegungsfreiheiten zuzugestehen, die denen, die noch keine Impfung erhielten, verwehrt bleiben. Die Geimpften hätten dann einen doppelten Vorteil und die Ungeimpften einen doppelten Nachteil. Es macht jedoch Sinn, diese Ungerechtigkeit zum Vorteil aller zu nutzen. Wenn die Geimpften dazu beitragen, Geschäfte und Gastronomien am Leben zu erhalten, ist das ein gesellschaftlicher Vorteil, der zuletzt allen zugutekommt.
Dass Menschen mit unterschiedlichen Begabungen und Temperamenten zur Welt kommen, wird kein Appell an die Gerechtigkeit aus der Welt schaffen; auch nicht, dass Kinder durch das jeweils spezifische Kommunikationsklima in ihren Elternhäusern beeinflusst werden. Der eine ist extro-, der andere introvertiert, der eine agil, ein anderer behäbig. Der eine hat Eltern, die ihn erfolgreich fördern. Ein anderer hat Eltern, die gleichgültig sind. Es ist klar, dass daraus unterschiedliche Biographien entstehen.
Zu meinen, es gelte zu verhindern, dass Menschen, denen es besser als anderen gelingt, ihre Biographien zum eigenen Wohl zu gestalten, damit erfolgreich sind, kann Nachteile für alle mit sich bringen. Der Versuch, die Erfolgreichen auszubremsen, verhindert Entwicklungen, die auch denen zugutekommen, die von sich aus nicht erfolgreich sind. Der Impfstoff wird durch Erfolgreiche entwickelt. Er rettet auch die, die ohne Schuld erfolglos sind. Die Ungerechtigkeit, die der Unterschiedlichkeit entspringt, kann zum Wohle aller besser sein, als eine Gerechtigkeit, die alle gleichmacht.
Gerechtigkeit kann nicht in der Gleichheit liegen. Sie liegt darin, dass niemand daran gehindert wird, sich seinem Potenzial entsprechend aufzurichten.