Vollgültiges Verstehen ist kein intellektueller Akt, sondern ein existenzieller. Indem man versteht, verschiebt man die Position des relativen Selbst in der Wirklichkeit. Verstand ist Fortbewegung des Subjekts.
Zwei nahe Verwandte
Verstand | Vernunft |
Den Standpunkt verändern, um zu sehen. | Ernst nehmen, was man verstanden hat. |
Ich stelle mich einem Sachverhalt gegenüber so auf, dass ich von dort, wo ich stehe, seine Struktur erkennen kann. | Vernunft kommt von vernehmen. Ich nehme das Verstandene in den Bestand jener Erkenntnisse auf, von denen ich künftig ausgehe. |
Verstand bezeichnet ein wesentliches Vermögen des Bewusstseins. Der Begriff besteht aus zwei Teilen: der Vorsilbe ver- und dem Verb stehen.
Ver- bezeichnet eine Verschiebung, also einen Positionswechsel von hier nach dort; entweder räumlich oder im übertragenen Sinn: eine Verschiebung von Zustand A in Zustand B. Eine Reihe von Begriffen, die mit ver- beginnen, verdeutlicht den Sinn der Silbe:
Das Verb stehen ist unmittelbar verständlich. Verstand benennt folglich die Fähigkeit des Bewusstseins, den Standpunkt, von dem aus es die Wirklichkeit betrachtet, von hier nach dort zu verschieben. Durch die Verschiebung des Standpunkts ist es in der Lage, Aspekte der Wirklichkeit wahrzunehmen, die ihm ohne Verschiebung nicht zugänglich wären. Wer seinen Standpunkt nicht verschieben kann, starrt auf die Wirklichkeit, statt sie zu verstehen.
Begreifen und verstehen
Verstehen und begreifen sind nicht dasselbe.
Sobald ich etwas begriffen habe, bin ich in der Lage, den betrachteten Sachverhalt so in Begriffe zu fassen, dass mir seine Logik einleuchtet. Zugleich bin ich in der Lage, das Begriffene in Begriffe verpackt an einen anderen zu übermitteln.
6 x 4 = 12 x 2
Sobald ich etwas verstehe, verrücke ich meinen Standpunkt dergestalt, dass mir das Betrachtete aus neuer Perspektive erkennbar wird.
Heute verstehe ich, warum sich Lena damals von Markus trennte.
Während ich von dort aus begreife, wo ich bin, führt das Verstehen zu einer Verschiebung des Standpunkts. Oder es ist Folge davon, dass man den Standpunkt bereits gewechselt hat; zum Beispiel im Rahmen eines biographischen Erfahrungsprozesses.
Während Begriffenes grundsätzlich in Begriffe verpackt und versendet werden kann, ist etwas Verstandenes nicht immer begrifflich erfassbar.
Begreifen ist eine Operation mit Objekten. Verstehen ist ein Wandel des Subjekts. Indem sich das Subjekt selbst versteht, verlässt es den Standpunkt des relativen Selbst und nimmt den des absoluten ein.
Vernietet
Menschen ohne Verstand haben zwar eine Meinung, sie sind aber nicht in der Lage, sich geistig davon abzusetzen. Sie sind davon überzeugt, dass eineindeutig wahr ist, was sie für wahr halten.Er hat den Verstand verloren. So sagt man, wenn jemand verrückt wird. Die Sichtweise des Wahnkranken ist in eine Position verrückt, aus der er nicht mehr herauskommt.
Eine Verschiebung des Standpunkts, von dem aus man die Welt betrachtet, ist durch drei Manöver möglich. Durch...
Die Fähigkeit, die topographische Position aus eigener Kraft zu bestimmen, ist ein wichtiger Entwicklungsschritt hin zu einer komplexen Verstandestätigkeit. Die meisten Tiere - nicht so die Schwämme - können ihren Blickwinkel topographisch-körperlich verschieben. Sie bewegen sich fort. Indem das Tier die Welt aus jeweils unterschiedlichen Winkeln betrachtet, sammelt es ein Wissen, das sich zu einer drei- bis vierdimensionalen Vorstellung des Umfelds zusammensetzt.
Dreidimensional heißt: Die Katze kennt ihr Revier. Sie weiß, wo die Vogeltränke steht. Sie weiß, wo sie entweder einen Vogel erbeuten oder zumindest dessen Badewasser trinken kann.
Vierdimensional heißt: Der Elefant weiß, dass er in der Mburabamba-Senke noch Wasser findet, wenn es drei Tagesmärsche nördlich davon nur noch tanzende Staubwirbel gibt. Das Bewusstsein des Elefanten kennt die zeitliche Dimension. Er steuert seinen Körper durch eine vierdimensionale Vorstellungswelt. Genauso tut es ein Affe. Er weiß aus Erfahrung, wann die Mangos an welchem Baum reifen.
Geistige und körperliche Beweglichkeiten
Sowohl der Katze als auch dem Elefanten kann man ein Bewusstsein zusprechen; dem Affen erst recht. Dass ein Vogel im Mai mit dem Nestbau beginnt, mag instinktives Handeln sein, dem kein individuelles Wissen entspricht und somit auch kein Verstand. Das Wissen der Katze um die Position der Vogeltränke und das des Elefanten um das letzte Wasserloch ist aber nicht instinktiv, sondern erworben. Nur jener Elefant, der von seiner Mutter gelernt hat, kennt den Weg zur Tränke. Er hat ein Wissen, das einem Zirkuselefanten fehlt. Setzte man den Zirkuselefanten in der Savanne aus, würde er verdursten.Die Vorstellungswelt des Verstandes kennt nicht nur drei räumliche und eine zeitliche Dimension. Sie kennt auch Ursache und Wirkung. Der Verstand verschiebt den Blickwinkel der Betrachtung entlang vielfältiger Wenn-dann-Vermutungen. Durch gedankliche Simulationen entstehen virtuelle Vorstellungsfelder bedingter Ereignisfolgen. Anhand solcher Vorstellungen plant der Verstand erfolgversprechende Handlungen im Voraus.
Nicht nur der Mensch verschiebt den Blickwinkel der Betrachtung in einer virtuellen Vorstellungswelt, die Bedingungen berücksichtigt. Auch ein Schimpanse tut das. Ein Schimpanse zieht Kisten heran, um eine Banane zu erreichen, die ohne Kisten in unerreichbarer Höhe hängt. Das tut der Affe nicht durch blindes Probieren. Vielmehr nimmt er Ursache und Wirkung bewusst vorweg. Der Affe versteht. Er verschiebt im Geiste seinen Blickwinkel in eine virtuelle Situation. So erkennt er: Der Höhenausgleich durch eine Kiste macht die Banane erreichbar. Der Affe hat Verstand.
Eine komplexe Form der Wenn-dann-Vermutung zeigt sich als intuitive Einfühlung in die Sichtweise anderer.
Die intuitive Tätigkeit des Verstandes kann die Kommunikation verbessern oder sie dient der Manipulation.
Auch der Schimpanse hat genügend Verstand, um sich sozial einzufühlen. Will er etwas verstecken, wartet er auf den Moment, in dem er vermutet, dass andere nicht sehen, was er tut. Er kann andere manipulieren.
Der Verstand dient dem Umgang mit Informationen und Sichtweisen; aber auch der emotionalen Regulation. Er kann...
Ohne Verschiebung des Standpunkts ist nur wenig Wissen zu erwerben. Wäre der Mensch an einem Flecken angewurzelt, könnte er von dort aus zwar das Umfeld betrachten und wüsste dann etwas. Im Vergleich zu dem, der umhergehen kann und die Gegend aus verschiedenen Perspektiven untersucht, wäre das aber wenig.
Die Funktionsweise einer Software ist mir nicht bekannt. Wenn ich darüber etwas wissen will, muss ich sie aus der geeigneten Perspektive betrachten. Vors Küchenfenster zu treten und hinauszuschauen, wird nichts nützen. Besser ist es, vor dem Monitor Stellung zu beziehen, das Programm in einem Editor zu öffnen und die Programmiersprache zu lernen.
Indem ich mich vor den Monitor setze, verschiebe ich meinen Standpunkt topographisch. Indem ich die Sprache erlerne, versetze ich mich in die Lage, die Software aus einer Position heraus zu betrachten, von der aus ich ihre Funktionsweise erkenne.
In der Regel ist Wissen kein Selbstzweck. Es dient dazu, in der Wirklichkeit Wege zu finden.
Ich will das Programm dazu bringen, mich um sieben Uhr ans Abendessen zu erinnern. Dazu probiere ich gedanklich verschiedene Eingriffe aus und überlege, was sie bewirken. Ich verschiebe meinen Standpunkt virtuell und schaue, welche Folgen ich aus verschiedenen Positionen heraus vorhersagen kann. Ideen, die mir sinnvoll erscheinen, setze ich um.
Die Wirklichkeit ist komplex. Je nachdem, aus welcher Perspektive man sie betrachtet, kann man sie unterschiedlich erleben.
Nach fünf Stunden Plackerei habe ich alles verbockt. Das Programm funktioniert überhaupt nicht mehr. Ich beginne zu verzweifeln. Das Abendessen ist längst vorbei. Um mich zu entlasten, betrachte ich das Ganze aus einer anderen Perspektive. Ich verschiebe meinen Standpunkt so, dass ich entlastende Aspekte des Sachverhalts erkenne. Ich sage mir: Wozu brauche ich das Programm überhaupt? Abends zu essen, macht sowieso nur dick. So betrachtet, ist alles gut gelaufen.
Auch Urteile zu fällen ist Aufgabe des Verstandes. Je öfter man den Standpunkt der Betrachtung verschiebt, desto vielschichtiger erkennt man die Wirklichkeit. Je vielschichtiger die Erkenntnis, desto besser kann man bewerten, was wesentlich ist.
Indem ich den Standpunkt verschiebe, erkenne ich, dass das Ziel, abzunehmen im Vordergrund steht. Ich bewerte den Ablauf anders, als wenn ich ausschließlich den Erfolg beim Programmieren im Auge behielte.
Verstand ist ein wesentliches Werkzeug komplexer Kommunikation. Gewiss, auch der Esel kommuniziert mit seinen Artgenossen, es bleibt jedoch sein Geheimnis, wie viel er vom Vorgang der Kommunikation und vom Innenleben seiner lautstarken Kollegen versteht.
Verstand ist das Vermögen, den Standpunkt der Betrachtung verschieben zu können. Das hilft nicht nur bei der Erforschung geologischer Strukturen im Atlasgebirge, es hilft vor allem bei der zwischenmenschlichen Kommunikation. Wer die Welt probeweise aus den Augen dessen betrachten kann, mit dem er zu tun hat, hat entschieden bessere Chancen auf ein gedeihliches Miteinander.
Verständnis ist ein Teilaspekt der Verständigung. Dazu bedarf es zweier Personen: einer, die es versteht, ihre Lage verständlich zu machen und einer zweiten, die sich bemüht, Verständnis zu entwickeln. Während es Aufgabe der Verständigung ist, gemeinsame Unternehmungen zu koordinieren, dient das Verständnis der Regulation aggressiver Impulse. Wer für die Position des Anderen Verständnis hat, wird ihn kaum je rücksichtslos bedrängen.
Störungen des Verstandes sind weit verbreitet; und zweifellos leidet auch der Autor dieser Seite unter Verstandesstörungen, die seinen persönlichen Ängsten, Wünschen und Begierden entspringen. Die Fähigkeit, Sachverhalte aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, kann durch organische, psychologische sowie soziale und politische Faktoren beeinträchtigt werden.
Im Regelfall ist die Verstandestätigkeit durch eine entwicklungspsychologische Fixierung verzerrt. Diese Verzerrung hat mit der Identifikation des Ich mit der Person zu tun. Dadurch kommt es zu einem Phänomen, das man als egozentrische Verschiebung bezeichnen kann. Da das Bewusstsein fast durchweg an der Identifikation mit dem Ego festhält, wird meist weder die Fixierung noch die daraus folgende Verstandesstörung als Problem erkannt. Der Blick des Menschen auf die Wirklichkeit ist meist so beschränkt, dass er kaum ahnt, wie beschränkt er ist.
Die Verstandestätigkeit setzt ein funktionsfähiges Gehirn voraus. Organische Faktoren, die das Gehirn schädigen oder seine Funktion beeinträchtigen, führen zu Störungen des Verstandes. Zu nennen sind:
Der eingefrorene Verstand
Beim Wahn ist die egozentrische Verschiebung eingefroren. Der Wahnkranke ist nicht mehr in der Lage, Sachverhalte aus verschiedenen Positionen zu betrachten und seine Meinung mit der Wirklichkeit abzugleichen. Aus Furcht vor seinem Untergang wird das Ego im Wahn totalitär.
Nicht immer wollen wir verstehen, was wir verstehen könnten. Ursache dafür ist die Befürchtung, bestimmte Sachverhalte zu verstehen, könnte uns schaden.
Psychologische Ursachen hinter solchen Störungen der Einsichtsfähigkeit sind Angst, Neid, Eifersucht und Gier. Dahinter steht meist der Selbstwertzweifel eines verunsicherten Egos. Die Mittel, die es einsetzt, um gefürchtete Tatsachen nicht zu verstehen, nennt man Abwehrmechanismen.
Die Verstandestätigkeit des Menschen durch Verschiebungen der Betrachtungsposition in einer virtuellen Vorstellungswelt geht über die des Affen hinaus. Während der Affe nach dem Erreichen der Banane rasch zum unmittelbar Wahrnehmbaren zurückkehrt, hält sich der Mensch größtenteils bei den Vorstellungen seines Verstandes auf. Statt unbefangen mit der Achtsamkeit im Hier-und-Jetzt zu sein, wo sich auch das Tor zu seinem Selbst befindet, ist er unentwegt damit befasst, die Welt auf Verwertbarkeit zu überprüfen.
Durch die Verwendung des Verstandes zur maximierenden Kontrolle des Lebenslaufs hat der Mensch sehr viel erreicht. Er hat aber auch viel an Lebenslust und Spontaneität verloren, denn wer planen kann, riskiert die Gegenwart der Zukunft zu opfern.
Die Verschiebung der Betrachtungsposition, die der ständigen Maximierung des Erfolges dient, ist die Verschiebung in den Blickwinkel des eigenen Ego. Die meiste Zeit des Lebens betrachten wir die Welt von dort aus; und bilden uns ein, dass dies mit der tatsächlichen Position unserer selbst in Einklang steht.
Zum Ego gehört ein vereinfachtes Selbstbild. Das Ego geht davon aus, dass die Person dem Rest der Welt als autonome Einheit gegenübersteht; und man am besten daran tut, unentwegt für den eigenen Bauch zu sorgen. Das stimmt zwar nur bedingt, die Aufspaltung des Weltbilds in Ich und Nicht-Ich ist für eine brauchbare Selbststeuerung im sozialen Umfeld aber nützlich, und daher nur mit Mühe aufzugeben.
Verstand und spirituelle Erkenntnis
Viele spirituelle Ratgeber verdächtigen den Verstand, einer tiefer gehenden Erkenntnis generell im Wege zu stehen. Sie bieten Techniken an, um den Verstand zu überwinden: zum Beispiel Koans; also Denkaufgaben, an deren Lösung der Verstand scheitern muss (Wie klingt das Klatschen einer Hand?). Oder sie empfehlen, ihn durch Glaubensdogmen zu ersetzen.
... was ein Trugschluss ist, da auch der Glaube vom Grundsatz her ein Verstandesakt ist, bei dem der Ausgangspunkt der Weltsicht auf eine virtuelle Position verschoben wird (Jesus ging übers Wasser.). Während der gesunde Menschenverstand an seinen Irrtümern leidet, versucht der Fehlverstand des Glaubens Irrtümer gar nicht erst zu vermeiden. Stattdessen versteift er sich auf ein Dogma, um dessen Wahrheitsgehalt er sich nicht mehr kümmert. Glaubensinhalte haben mit egozentrischen Interessen zu tun. Sie stellen dem Ego überragende Vorteile in Aussicht. Tue dies oder das und du wirst großartig belohnt. Im Glauben wird der Verstand nicht überwunden. Er wird zu einem Werkzeug der Willkür gemacht.
Tatsächlich gilt es aber nicht, den Verstand zu überwinden, sondern seine Fixierung auf egozentrische und damit dualistische Muster. Der Verstand selbst steht der Erkenntnis keinesfalls im Wege. Was tiefere Erkenntnis behindert, ist die Verengung des Blickwinkels auf die egozentrische Position. Erst wenn der Brennpunkt der Betrachtung durch einen weiteren Prozess des Verstehens vom Ego ins Selbst verschoben wird, wird die Wirklichkeitserfahrung von der Verzerrung durch die Egozentrik befreit.
Allerdings ist diese Korrektur schwer zu verwirklichen. Es reicht keineswegs ein bloßer Beschluss (Jetzt gehe ich mal davon aus, dass ich der Welt nicht gegenüberstehe, sondern mich in sie zentriere.). Nur durch beharrliche Wahrnehmung der inneren und äußeren Wirklichkeit wird die Illusion vom autonomen Ego so transparent, dass sie bricht.
Die egozentrische Verschiebung der Weltsicht ist ein normaler Prozess. Ein Neugeborenes begreift sich nicht als Person unter vielen. Sein Blick auf die Welt geht von keinem Ego aus. Es versteht allerdings auch keinen Zusammenhang. Erst das Kleinkind erkennt Unterschiede zwischen sich und den anderen. Um im sozialen Umfeld seinen Platz zu finden, fokussiert es seine Aufmerksamkeit auf den Blickwinkel der besonderen Person, als die es sich selbst begreift. Bald beginnt es, sich mit seinem Ego gleichzusetzen.
Der egozentrische Verstand
Vorteile | Nachteile |
Die Vereinfachung erleichtert die Entwicklung eines festen Selbstbilds. | Die Verzerrung verursacht permanent Reibung an der Wirklichkeit. |
Das überwertige Nachdenken über Vor- und Nachteile der Person führt zu einer gewissen Schläue (Ich bin doch nicht blöd!) | Die dauernde Berechnung persönlicher Vor- und Nachteile absorbiert so viel Achtsamkeit, dass das Individuum tiefere Ebenen seiner selbst übersieht. |
Die Interessen des Egos sind gut zu besorgen. | Die Interessen des Selbst werden oft missachtet. |
Für die Belange einer normalen Existenz reicht das Wirklichkeitskonzept vom grundsätzlichen Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich aus. Allerdings wird die Polarisierung des Selbstbilds ins Ego durch erhebliche Nebenwirkungen erkauft.
Die meisten Symptome, die einen Psychiater beschäftigen (Ängste, Zwänge, Stimmungsanomalien, Persönlichkeitsstörungen) haben damit zu tun. Eine spirituelle Erweiterung des Weltbilds kann die egozentrische Fehldeutung der Wirklichkeit überwinden. Auch die spirituelle Erweiterung ist ein Verstandesakt. Sie verschiebt den Standpunkt der Betrachtung vom Diesseits des Egos ins Jenseits des Ego.
Die ideologische Verstandesstörung
Je entschiedener sich eine Gruppe durch weltanschauliche Positionen gegenüber dem Umfeld abgrenzt, desto mehr wird die Verstandestätigkeit ihrer Mitglieder durch Denkverbote eingeengt.Die dogmatische Verblödung
Ein Dogma ist eine unverrückbare Festlegung auf einen fixierten Standpunkt. Es ist daher programmatischer Unverstand, denn dem Wesen des Verstandes entspricht seiner Definition gemäß die Verschiebung; nicht die Festlegung. Jedes Dogma bewirkt eine selektive Störung der Verstandestätigkeit. Jede fixierte Weltanschauung ist ein geistiges Gebrechen.Gruppendruck ist ein mächtiger Faktor, der die Verstandestätigkeit stören kann. Das gilt im Großen wie im Kleinen.
Werden Gesellschaften von totalitären Anschauungen beherrscht, ist es eine Gefahr für Leib und Leben, Tatsachen zu erkennen, die die Position der Mächtigen in Frage stellen. Unzählige sind bereit, ihren Verstand zu knebeln, damit er sie nicht ins politische Abseits rückt.
Wer in einer politischen Partei zu etwas kommen will, sollte kein Verständnis für gegnerische Positionen haben.
Eigentlich hätte Reinhard verstanden, dass der Kopfsprung ins unbekannte Gewässer unvertretbar ist; hätten ihn seine Kumpels nicht als Feigling bezeichnet...
Psychologische und soziale Ursachen wirken bei solchen Prozessen Hand in Hand. Als psychologisches Motiv ist das Bedürfnis nach Zugehörigkeit aktiv. Je größer der Gruppendruck, desto mehr werden aber auch Personen in den Unverstand gedrängt, die unter günstigeren Bedingungen einsichtsfähig wären.
In vielen weltanschaulich definierten Gruppen ist der Rahmen dessen, was man als wahr erkennen darf, so eng, dass wechselseitig induzierte Störungen der Verstandestätigkeit vorliegen. Das gilt für Gruppierungen mit politischem wie politisch-religiösem Selbstverständnis gleichermaßen.
Der Verstand kann nicht nur gebraucht werden. Er kann auch missbraucht werden.
Irrwege
Angst kann aus dem Verstand ein schädliches Werkzeug machen. Wenn die Angst, etwas zu verlieren oder einen Gewinn zu verpassen, überhandnimmt, verlässt man schnell das Hier-und-Jetzt. Man denkt stattdessen an das, was kommen mag, geschehen könnte, nicht passieren darf oder hätte anders laufen sollen. Bei all dem verschiebt der Verstand den Ausgangspunkt der Betrachtung auf hypothetische Positionen, aus der heraus er die Wirklichkeit zu steuern versucht: Was müsste ich tun, damit ich nicht leiden muss?
Im Bemühen, gefürchtetes Leid zu vermeiden, entgleist die Verstandestätigkeit in einen Grübelzwang, der mehr Leid verursacht als er verhindert. Zuweilen verbringt man ganze Nächte im Kreisverkehr eines Verstandes, der um eine Wirklichkeit rotiert, die man nicht wahrhaben will.
Zuweilen wird der Verstand daher als Hure bezeichnet. Doch Vorsicht: Den Verstand als Hure zu bezeichnen, kann seinerseits ein Missbrauch des Verstandes sein; um nämlich seinen Ruf zu schädigen und um mit entmachtetem Verstand der Willkür freien Lauf zu lassen. Der Verstand ist keine Hure. Eine Hure ist eine Frau, die ihr sexuelles Potenzial von sich aus mit geschäftlichem Vorsatz anbietet. Der Verstand selbst bietet sich nicht an. Er kann vielmehr missbraucht und vergewaltigt werden. Dass der Verstand in vielen Fällen missbraucht wird, ist aber nicht sein Verschulden, sondern die Schuld derer, die es mit ihm tun. Es ergeht ihm wie einer Frau, die zur Prostitution gezwungen wird, ohne dass sie dadurch je zu einer Hure würde.
Wer stets einen Standpunkt einnimmt, von dem aus er vor allem die Schuld anderer sieht, hat seinen Verstand bereits missbraucht.
Missbrauch des Verstandes liegt vor, wenn die Verschiebung des Blickwinkels nicht der Erkenntnis der Wirklichkeit dient, sondern der Verteidigung eines irrigen Weltbilds.
Ein solcher Missbrauch droht, wenn das Ich vom Ego vereinnahmt ist. Hält das Ich aus egozentrischen Motiven an Sichtweisen fest, die durch den Blick auf die Wirklichkeit infrage gestellt würden, kann es seinen Standpunkt gezielt verschieben, um die gefürchtete Wirklichkeit absichtlich zu übersehen. Solche Missbrauchstaten sind in der Menschenwelt gang und gäbe. Der Begriff absichtlich zeigt dabei an, was bei dieser Absicht vorgeht. Dass derartige Absichten ihrerseits oft unbewusst bleiben, ist ein weiteres Resultat der Absichtlichkeit.
Ein Fall von Verstandesmissbrauch
Marlene ist wie alle Menschenkinder. Am liebsten wäre sie immer glücklich und würde das Leben frohgemut genießen. Schon früh hat sie zweierlei erkannt:
Dergestalt lernte Marlene, dass man sich durch Verdrängung des Unerfreulichen zumindest kurzfristig beglücken kann. Sie nahm immer nur optimistische Standpunkte ein, also solche, die vorerst von Sorgenlast befreien.
Wie jede Sucht, so führt auch die Sucht nach Glück und sorgenfreier Stimmung durch Verleugnung unerwünschter Realitäten nicht dauerhaft zum Erfolg. Die Wirklichkeit bricht so hartnäckig ins Wolkenkuckucksheim des Träumers ein wie die Nacktschnecke ins Salatbeet. Neben der Verdrängung kommen zwei weitere Abwehrmaßnahmen zum Einsatz:
Wenn das Leben weniger erfreulich verläuft, als es der optimistische Standpunkt verhieß, muss das eine Ursache haben. Und das kann dann doch nur etwas Übles sein, etwas, das Marlene ihr Glück nicht gönnt oder so tumb ist, dass es auf dem eigentlich problemlosen Weg zum Glück störend herumsteht.
Nicht dass es Marlene an Verstand fehlt. Davon hat sie genug. Sie missbraucht ihn aber, um sich heute vor Verdruss zu schützen; den ihr das Schicksal morgen mit Zins und Zinseszins in Rechnung stellt.
Schuldzuweisung und Abwertung führen in ständige Konflikte mit dem Umfeld, sodass sich statt des beanspruchten Glücks immer mehr Problematisches in Marlenes Leben anhäuft. Und was tut Marlene? Sie tut, was Süchtige fast immer tun. Sie erhöht die Dosis ihres Mittels. Erst wenn sie erkennt, dass ihr Mittel ein Übel ist und keine Medizin, kann sie den Standpunkt einnehmen, von dem aus sie ihr wirklich Gutes sehen kann.
Es stimmt schon: Marlene wollte niemandem etwas Böses und sie will das auch heute nicht. Sie wollte und will nur glücklich sein. Auf dem Weg zum Glück glaubt sie aber, dass man Hindernisse überspringen kann, indem man einen Standpunkt einnimmt, vom dem aus man sie übersieht.
Wenn die Methode scheitert, stellt Marlene nicht den eigenen Standpunkt in Frage. Sich Fehler einzugestehen, ist unbehaglich. Stattdessen sieht sie alle Schuld bei anderen; und wird damit vielen Leuten nicht gerecht. Es sieht dann so aus, als wäre sie böse. Tatsächlich ist sie aber ein liebes Kind, das auf dem Weg zum Glück seinen Verstand missbraucht und sich damit verirrt.
Verstandesmissbrauch betreibt, wer den Verstand nicht dazu verwendet, Standpunkte einzunehmen, von wo aus er die Wirklichkeit besser erkennt und realitätsgerecht auf sie reagieren kann, sondern Standpunkte, deren Perspektiven sich momentan besser anfühlen. Da alles jenseits der Wahrheit trügerisch ist, hat man damit auf Dauer wenig Erfolg.