Verantwortung


  1. Begriffe
  2. Formen der Verantwortung
  3. Rangordnungen
Die Grundlage jeder psychischen Gesundheit liegt in der Bereitschaft, die Verantwortung für Art und Ausdruck der eigenen seelischen Inhalte zu übernehmen. Gefühle äußeren Verursachern zuzuschreiben, führt vorübergehend zur Entlastung. Man gibt aber die Möglichkeit aus der Hand, sein Leben aktiv zu gestalten. Das kann man nur als verantwortlich handelndes Subjekt.

1. Begriffe

Verantwortung kommt dem zu, der für die Beantwortung einer Frage zuständig ist. Sinn und Wesen der Verantwortung verdeutlicht eine Untersuchung des Begriffs in anderen europäischen Sprachen. Italienisch heißt Verantwortung responsabilità, analog zu Englisch responsibility und französisch responsabilité.

Darin enthalten sind die lateinischen Wörter respondere = antworten und abilitas = Fähigkeit. Verantwortung ist eine Fähigkeit. Es ist die Fähigkeit, Antworten zu geben. Damit unterscheidet sich ihr Wesen von dem der Schuld. Während Verantwortung den Wert des Verantwortlichen betont, behauptet Schuld den Unwert des Schuldigen.


Frage Antwort des Verantwortlichen
Wer ist dafür verantwortlich? Ich bin es.
Wer kann das Problem lösen? Ich kann es.

2. Formen der Verantwortung

Die Übernahme von Verantwortung ist unverzichtbar für das seelische Gleichgewicht. Dabei sind zwei Ebenen erkennbar. Sie bedingen sich wechselseitig. Es gibt...

  1. Soziale Verantwortung
  2. Existenzielle Verantwortung
Sozial verantwortlich handelt, wer die Verantwortung für jene Rollen übernimmt, die er für sich beansprucht.
2.1. Soziale Verantwortung

Jedes soziale Rollenspiel beinhaltet die Übernahme bestimmter Verantwortlichkeiten. Das Spektrum passender Antworten, die ein Verantwortlicher geben kann, wird durch die Rolle bestimmt, die er ausfüllt. Ist die Verteilung der Verant­wortung unklar, wird die Frage danach direkt gestellt: Streunt ein Hund durch die Innenstadt, fragt das Ordnungsamt nach dem Besitzer. Meist werden Verantwortlich­keiten von den Beteiligten aus dem Zusammenhang herausgelesen; oder gemäß eigener Erwartungen spontan definiert.

Ein einfaches Rollenspiel

Die Verantwortlichkeiten einfacher Rollenspiele sind leicht zu erkennen. Im Bäckerladen geht nur selten etwas schief. Unseren Alltag bestimmen jedoch Rollenspiele, die komplexer sind. Hier sind Unklarheiten bei der Verteilung der Zuständigkeiten unvermeidlich.

Komplexe Rollenspiele

  • Paar­beziehungen
  • Eltern-Kind-Beziehungen
  • Geschwister­schaften
  • Arbeits­verhältnisse

Gehen die Beteiligten mit Unklarheiten pragmatisch (griechisch pragma (πραγμα) = Handeln, Tatsache, Wirklichkeit) um, können viele Konflikte beigelegt werden. Pragmatisch ist eine Haltung, wenn sie sich an Tatsachen orientiert, persönliche Meinungen als zweitrangig betrachtet und Problemlösungen durch gezieltes Handeln anstrebt. In der Realität kommt es oft anders. Das hat drei Ursachen.

  1. Klare Absprachen werden vermieden.
  2. Absprachen werden nicht eingehalten.
  3. Einigung ist nicht möglich, weil die Erwartungen zu unterschiedlich sind.

Ist Einigung nicht möglich, weil die Erwartungen zu unterschiedlich sind, kann der Konflikt gelöst werden, indem man das Rollenspiel beendet. Besteht keine Einigkeit über den Preis der Brötchen, geht ein pragmatischer Kunde zur Konkurrenz. Oder er backt selbst. Ein emotional verstrickter Kunde handelt nicht pragmatisch. Er streitet mit der Verkäuferin über den Preis. Ist der Preis unangemessen und gibt es weder einen Konkurrenten noch Mehl zu kaufen, könnte Streit aber auch unvermeidlich sein.

Erwartungen

Erwartungen sind der Gegenpol der Verantwortlichkeit. Während der Verantwortliche die Führung übernimmt und das Problem aktiv angeht, gibt man beim Erwarten die Führung ab; und wartet darauf, dass die Lösung von außen kommt. Dabei schreibt man dem Gegenüber ein Soll zu, das es zu erfüllen hat.

Sind soziale Rollen klar definiert, sind Erwartungen meist unschädlich. Bei persönlichen Beziehungen liegt in jeder Erwartung jedoch der Keim eines Konflikts. Wer erwartet, schreibt dem Anderen die Verantwortung zu, nicht im eigenen Interesse zu handeln, sondern dem zu dienen, der die Erwartung erhebt. Damit stellt er das Recht des Anderen in Frage, über sich selbst zu bestimmen.

Soziale Beziehungen leiden darunter, dass Absprachen vermieden oder nicht eingehalten werden. Dahinter steckt meist der Versuch, der Übernahme sozialer Verantwortung aus dem Wege zu gehen.

Existenziell verantwortlich handelt, wer das eigene Sosein niemandem anlastet.
2.2. Existenzielle Verantwortung

Wird die Übernahme sozialer Verantwortung beharrlich vermieden, ist das entweder blanke Berechnung, oder es ist eine Störung der Ich-Grenze im Spiel. Die Ich-Grenze ist ein wesentlicher Aspekt des Selbst- und Weltbildes. Entlang der Ich-Grenze trennt das Bewusstsein die Elemente der Wirklichkeit in Ich und Nicht-Ich auf. Ist die Ich-Grenze unklar, vermeidet man damit die vollständige Übernahme der existenziellen Verantwortung.

Statt für das eigene Sosein ohne Wenn und Aber einzustehen, schreibt man die Verur­sachung eigener Gefühle, Impulse und Regungen äußeren Faktoren oder Bezugsper­sonen zu. So schiebt man die Verantwortung für Innerseelisches nach außen ab. Dabei bedient man sich bestimmter Abwehrmechanismen: vor allem der Projektion, und der projektiven Des-Identifikation. Solche Zuschreibungen kommen sowohl für Angenehmes, als auch für Defizite und unangenehme Erlebnisweisen vor.

Zuordnungen

Das normale Bewusstsein neigt dazu, Gefühle äußeren Auslösern zuzuschreiben. So wird es nie erwachsen. Erst wenn es Gefühle als Reaktionen versteht, für die es selbst verantwortlich ist, kann es unabhängig sein.


Subjekt oder Objekt

Das Objekt ist das, mit dem etwas gemacht wird. Deute ich meine Gefühle als von außen gemacht, beschreibe ich mich als Objekt.

Das Subjekt ist das, was etwas bewirkt. Erst wenn ich mich als Ursache meiner Gefühle betrachte, und nicht nur als deren Austra­gungsort, beschreibe ich mich als Subjekt.

Nur wer sich zum Subjekt bekennt, erhebt glaubhaft den Anspruch, nicht als Objekt behandelt zu werden.

2.2.1. Angenehmes

Die Verschiebung der Verantwortung auf andere scheint bei angenehmen Erlebnissen unproblematisch zu sein.

Anderen Gutes zuzuschreiben, kann doch nicht schaden. Oder doch? Sagt man: Sie hat mich glücklich gemacht, liegt darin scheinbar nur wenig Konfliktpotenzial. Wohlgemerkt: scheinbar. Falls das Glück nämlich zu schwinden beginnt, wendet sich das Blatt. Aus dem Sie hat mich glücklich gemacht, wird ein Sie macht mich ja so unglücklich. Und schon wird Schuld zuge­wiesen, stehen Vorwürfe im Raum, werden Ansprüche erhoben und darum gekämpft, wer wem zu dienen hat.

Tatsächlich ist es nicht das Enkelkind, das der Großmutter Kraft gibt. Was das Enkelkind tatsächlich macht, ist herumalbern, Blumentöpfe umwerfen, Oma, Oma, spielen rufen, heulen, wenn es hinfällt und strahlen, wenn es gelobt wird.

Vielmehr mobilisiert die Oma die Kräfte, die noch in ihr stecken; weil ihr das Enkelkind etwas wert ist. Was zunächst nur als harmlose Verkennung der realen Abläufe erscheint, kann für das Enkelkind zu einer Bürde werden; wenn die Großmutter ihm in Folge der Verkennung die Pflicht zuweist, sie mit Kraft und Inhalt zu versorgen.

2.2.2. Unangenehmes

Von Anfang an problematisch ist die Zuweisung der Verantwortung nach außen, wenn es um eigenes Unvermögen geht; oder um unangenehme Impulse und Gefühle.

Grundmuster

Existenzielle Verantwortung kann man...
abschieben oder annehmen
Er, sie oder es hat mich wütend oder traurig gemacht. Ich habe mit Wut oder Trauer auf dies und das reagiert.
Das hat mir Angst eingejagt. Ich reagiere ängstlich.

Echt krasse Fälle

Auch Aussagen, die die Verantwortung weniger offen von sich weisen, zeigen durch ihre logische Struktur die abwehrende Haltung dessen, der sie macht.

Übernimmt man die Verantwortung für Gefühle und Impulse nicht, droht doppelter Schaden:

  1. Weise ich anderen die Schuld für Missstände zu, riskiere ich Konflikte. Niemand wird gerne den Schwarzen Peter übernehmen, wenn ich mit meiner Gefühlslage nicht zufrieden bin.

  2. Wenn ich die Verantwortung für meine Gefühle nicht übernehme, erkläre ich mich zu einem Objekt. Statt selbst um eine Lösung zu ringen, warte ich passiv darauf, dass andere etwas für mich tun. Reifer wird man dadurch nicht.

Freiheit und Verantwortung

Frei wird man durch Verantwortung. Nur wenn man die Verantwortung für das übernimmt, was man ist, verhindert man, davon beherrscht zu werden.

3. Rangordnungen

Rangordnungen richten sich entlang der Bereitschaft zur Verantwortung aus. Das gilt für soziale Verantwortung ebenso wie für existenzielle. Bei der sozialen Verantwortung ist der Zusammenhang unmittelbar. Je mehr Fragen man in einer Gemeinschaft zu beantworten hat, desto höher wird man eingestuft. Je weniger man der Verantwortung seiner sozialen Rollen nachkommt, desto eher stürzt man ab.

Wertesystem und Rangordnung

Es gibt nur ein vollgültiges Werte­system: das, in dem alle gleichzeitig aus eigener Kraft und unabhängig von fremden Entscheidungen den höchsten Rang erreichen können.


Wer einem König mehr Respekt als einem Bettler zollt, zeigt an, dass er sich verachtet.
3.1. Rangordnung der Rangordnungen

Die soziale Rangordnung hängt eng von der Bereitschaft zur Übernahme existenzieller Verantwortung ab. Umgekehrt gilt das nicht. Das heißt: Man kann einen hohen existenziellen Rang erreichen, selbst wenn man von allen verachtet wird. Wer aber keinerlei existenzielle Verantwortung für sich selbst übernimmt, kann sozial nur durch Betrug oder Gewalt nach oben kommen. Deshalb ist die existenzielle Rangordnung der sozialen übergeordnet.

Wer sich mit dem Umfeld in Konflikte verwickelt, weil er es für die eigenen Gefühle haftbar macht...

Wer im Gegensatz dazu die Verantwortung für das eigene Erleben übernimmt...

Der existenzielle Rang ist an die Verantwortung gebunden, man selbst zu sein, der soziale hängt von Person und Rolle des Einzelnen ab. Der maximal erreichbare existenzielle Rang ist höher als der maximal erreichbare soziale. Der Rang dessen, der er selbst ist, ohne dafür die Verantwortung abzutreten, liegt stets über dem höchst möglichen sozialen Rang. Das erklärt, warum Diogenes nicht von Alexander dem Großen beeindruckt werden kann. Es sei denn, der Inhaber des höchsten sozialen Rangs hat auch den höchsten existenziellen erreicht. Dann ist der Rang beider gleich.