Depressivität ist nicht nur Krankheit. Sie ist auch Endstrecke einer Überlebensstrategie: Selbstbestimmung aufzugeben um Zugehörigkeit zu sichern.
Der Begriff deprimiert geht auf lateinisch deprimere = niederdrücken zurück. Depression (französisch dépression = Senkung) bezeichnet ein Stimmungstief. Früher wurden Depressionen in endogene, exogene, organische, reaktive und neurotische Formen eingeteilt.
All diese Begriffe sind nicht aus der Welt. Da man im konkreten Fall aber darüber streiten kann, welche Faktoren ausschlaggebend sind, unterteilt man Depressionen heute eher nach Verlauf, Erscheinungsbild und Schweregrad. Annahmen über die Auslöser stellt man zurück. Nur wenn die Zusammenhänge deutlich sind, spricht man mit der Diagnose eine Vermutung über die Ursache aus. So wird die reaktive Depression oft als Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik bezeichnet.
Synthym
Als synthym (griechisch syn [συν] = mit und thymos [θυμος] = Stimmung, Lebenskraft) bezeichnet man Symptome, deren begrifflicher Inhalt zur Stimmung passt: düstere Wahnideen oder entsprechende Halluzinationen. Synthymer Wahn kommt eher bei Depressionen vor. Synthym heißt: mit der Stimmung bzw. stimmungskongruent (lateinisch congruere = zusammentreffen).
Parathymer Wahn ist eher Symptom einer Schizophrenie. Der Patient ist heiter oder läppisch und sagt: Morgen werde ich sterben. Parathym heißt: neben der Stimmung bzw. stimmungsinkongruent.
Depressivität umfasst ein breites Spektrum von Erlebnisweisen. Ohne klare Grenze reicht es von schwer depressiv mit wahnhaft verzerrtem Selbstempfinden bis hin zu dauernd unzufrieden. Was als depressiv empfunden wird, unterscheidet sich von Person zu Person; ebenso wann, worauf und wie jemand depressiv reagiert. Denn das Bild einer Depression wird nicht nur durch das Kernsymptom bestimmt, sondern auch durch die Art, wie das Individuum mit dem Kernsymptom umgeht.
Das Kernsymptom der Depression ist das...
Ist das Potenzial niedergedrückt, entspricht das einer klassischen Depression. Ist es erschöpft, handelt es sich um ein Burn-out-Syndrom, das auch als Erschöpfungsdepression bezeichnet werden kann. Überfordernd kann in scheinbar paradoxer Weise auch eine Unterforderung sein. Dann kann Depression Folge chronischer Langeweile sein. Man spricht von einem Bore-out-Syndrom.
Depressive Pseudodemenz
Das Gefühl, überfordert zu sein, bleibt nicht nur Gefühl. Je schwerer die Depression, desto mehr wird es zur Tatsache. Nicht selten mündet es in mehr oder weniger ausgeprägte Zustände einer sogenannten depressiven Pseudodemenz ein. Pseudodemenz heißt: Es tauchen Symptome auf, die kognitiven Defiziten einer Demenz entsprechen, ohne dass organische Faktoren vorlägen, die die Diagnose einer echten Demenz rechtfertigten. Dazu gehören:
Löst sich die Depression auf, verschwinden auch die pseudodementen Defizite; es sei denn, es war umgekehrt und die Depression war Vorbote einer echten Demenz.
Begleitsymptome der Depression werden auch Sekundärsymptome genannt. Zu den häufigsten zählen:
Bei schweren Depressionen kann es zusätzlich zu folgenden Symptomen kommen:
Keines der genannten Sekundärsymptome ist jedoch so unentbehrlich, als dass es bei einer Depression nicht fehlen dürfte. So schlafen manche Depressive bestens, die meisten denken zum Glück nicht an Selbstmord und etliche sind nicht einmal bedrückter Stimmung. Stattdessen fühlen sie sich von immer neuen körperlichen Symptomen beeinträchtigt und haben so eine Erklärung dafür, warum sie dem Leben nicht tatkräftig gegenüberstehen.
Die larvierte Depression wird auch als somatisierte Depression bezeichnet. Somatisiert heißt: Die Depressivität drückt sich durch leibnahe Symptome aus (griechisch soma [σωμα] = Leib). Oft sucht der Patient verschiedene Ärzte auf, die zunächst symptomatisch behandeln... ohne die Symptome dadurch zu beseitigen. Erst ein Antidepressivum oder eine Psychotherapie schaffen Linderung.
Zum anderen gehen viele Depressionen mit einer gesteigerten Empfindlichkeit für Schmerzerlebnisse einher. Daher werden sie von Rücken-, Kopf-, Glieder-, Unterleibs- oder Magenschmerzen begleitet. Manchmal drückt sich die Depression ausschließlich als Schmerz aus. Hier ist der Schmerz Folgeerscheinung der Depression.
Beide Arten sind durch die Reihenfolge, in der die Symptome auftreten, zu unterscheiden.
Die Internationale Klassifikation der Krankheiten teilt Depressionen in vier Schweregrade ein:
Schweregrade der Depression gemäß ICD-10
Ausprägung | ICD | Kennzeichen |
Leichte Episode | F32.0 | Zwei bis drei der oben genannten Symptome. Der Patient kann seine Alltagsaktivitäten noch aufrechterhalten. |
Mittelgradige Episode | F32.1 | Mindestens vier Symptome. Der Patient hat große Mühe, seine Aktivitäten aufrecht zu erhalten. |
Schwere Episode ohne psychotische Symptome | F32.2 | Mehr als vier Symptome. Der Vollzug der Aktivitäten ist schwer beeinträchtigt. |
Schwere Episode mit psychotischen Symptomen | F32.3 | Zusätzlich Halluzinationen und Wahnideen. Der sinnvolle Vollzug der Aktivitäten ist meist unmöglich. |
Treten Depressionen wiederholt auf, gilt die gleiche Einteilung unter der Bezeichnung Rezidivierende Depressionen (F33.0 bis F33.3).
Darüber hinaus beschreibt die ICD-10 zwei weitere Zustandsbilder des depressiven Formenkreises: als Anhaltende affektive Störungen.
Anhaltende affektive Störungen gemäß ICD-10
Name | ICD | Kennzeichen |
Zyklothymie Zykloide bzw. zyklothyme Persönlichkeit |
F34.0 | Es bestehen meist über Jahre hinweg Stimmungsschwankungen mit Depressionen und Phasen leicht gehobener Stimmungslage (Hypomanien), ohne dass die Kriterien einer Bipolaren Störung erfüllt wären. |
Dysthymie Depressive Neurose Neurotische Depression |
F34.1 | Chronisch anhaltend fluktuierende (lateinisch fluctuare = wogen, schwanken) depressive Verstimmung mit ständig unterschiedlicher Ausprägungstiefe, ohne dass man von rezidivierenden Depressionen sprechen könnte. |
In der Praxis sind anhaltende affektive Störungen sowie leichte bipolare Störungen bzw. leichte rezidivierende Depressionen oft nur unscharf voneinander zu unterscheiden.
Viele kennen das: Wenn es draußen kalt und dunkel wird, reicht ein Blick aus dem Fenster um die Stimmung zu trüben. Eigentlich ist diese Dämpfung bereits ein Stückchen Depression. Ein Bedrücktsein, das vom Novemberwetter ausgeht, ist für viele spürbar. Für die meisten ist es zu verkraften. Bei anderen ist das Ausmaß derart ausgeprägt, dass man von einer saisonalen Depression spricht. In der ICD-10 wird sie als andere rezidivierende affektive Störung (F38.11) kodiert.
Unerwünschte Nebenwirkungen
Viele Medikamente können depressive Verstimmungen verursachen:
Die Depression ist keine Krankheit mit einer Ursache. Meist kommen mehrere Faktoren zusammen:
Die Reduktion des Individuums zum Modul des Systems wird von vielen als Entwertung erlebt, ohne dass sie sich daranmachten, dem Mechanismus bewusst etwas entgegenzusetzen.
Viele Ursachen der Depression ähneln den Ursachen seelischer Erkrankungen überhaupt. Spezifisch sind je nach Art der Erkrankung die innerseelischen Prozesse.
Obwohl die Einteilung der Depressionen in endogene und neurotische Formen aus der Mode gekommen ist, macht eine Gegenüberstellung viele Phänomene des depressiven Erfahrungsfeldes deutlich. Vergleicht man Depressivität mit unmelodischer Musik, erkennt man, dass sie durch zwei Faktoren verursacht werden kann:
Variationen der Unstimmigkeit
Instrument | Spieltechnik | Resultat |
Gitarre verstimmt | stimmig | endogene oder organische Depression |
nicht stimmig | endo-reaktive Depression, Überlagerung endogener, organischer und neurotischer Faktoren, schwere Ausprägung durch additive Effekte | |
Gitarre nicht verstimmt | stimmig | gesund |
nicht stimmig | reaktive bzw. neurotische Depression |
Ist die Gitarre verstimmt, hat selbst der beste Musiker Probleme, gut zu spielen. Ihm würde womöglich ein Antidepressivum helfen, das Umstimmigkeiten im Stoffwechsel beseitigt; oder andere medizinische Maßnahmen, die organische Ursachen beheben. Spielt der Spieler lausig, bringt er selbst auf der bestgestimmten Gitarre nur Unmelodisches zustande. Ihm hilft kein Antidepressivum. Er bedarf einer besseren Abstimmung seiner Sicht- und Verhaltensweisen mit der Wirklichkeit.
Da auch eine optimal abgestimmte Gitarre ungeschickten Spielern nicht zu erfolgreichem Spiel verhilft, wird es vermutlich niemals ein Antidepressivum geben, das alle Depressionen verlässlich beseitigt.
Sophie sah die Ursache ihrer Schwermut in den Problemen am Arbeitsplatz. Als sie den Job aufgegeben hatte, ging es ihr noch schlechter. Tatsächlich liegt ihr Hauptproblem darin, sich abzugrenzen. Die Kündigung war zwar eine Abgrenzung, aber keine, die das tieferliegende Problem gelöst hat.
Manuel deutete Roxannas Untreue als alleinige Ursache seines ganzen Kummers. Er übersah, wie abhängig er vom Besitz ihrer Schönheit war. Statt sich selbst zu vertrauen, hielt er sich fest.
Um tieferliegende Ursachen zu erkennen, gilt es, mit der Begründung seelischer Missstände durch äußere Ursachen zurückhaltend zu sein.
Depressionen können durch Stoffwechselstörungen verursacht werden, durch Gifte und Medikamente oder durch unverschuldete Überforderung. Dann spielt die Betrachtung innerseelischer Abläufe eine zweitrangige Rolle.
Kernsymptom
Ich bin überfordert.
Kernproblem
Ich sehe keinen Sinn.
Die Mehrzahl der Depressionen wird aber überwiegend durch innerseelische Prozesse, individuelle Verhaltensweisen und Deutungsmuster der Wirklichkeit bestimmt. Der Begriff der neurotischen Depression ist zur Kennzeichnung solcher Verläufe weiterhin nützlich. Dabei kommt dem Zugehörigkeits-Selbstbestimmungs-Konflikt große Bedeutung zu. Ebenso wichtig für das Verständnis der Depressivität ist die Betrachtung des Wechselspiels zwischen Selbstwahrnehmung und psychologischer Rolle. Als fundamentale Weichenstellung ist die Identifikation mit der Person erkennbar. Damit ist das tiefenpsychologische Kernproblem der Depressivität verbunden: Der Depressive sieht keinen Sinn in dem was er tut.
Bei der Angst gerät das Bedürfnis nach Autonomie mit dem nach Zugehörigkeit aneinander. Bei der neurotischen Depression wird der Impuls zur Autonomie dagegen abgeschaltet. Resultat ist das Kernsymptome der Depression: das Gefühl, dem Alltag ohnmächtig und ohne Lebenskraft gegenüberzustehen. Dementsprechend hat der Depressive keinen Antrieb. Alles erscheint ihm wie ein Berg, selbst Belangloses kann er nicht mehr entscheiden. Er empfindet Schwermut und Trauer, als habe er mit dem Impuls zur Selbständigkeit das Leben selbst verloren; was in gewissem Maße durchaus stimmt, denn der Impuls zur Autonomie gegenüber dem Umfeld ist der ursprüngliche Impuls des Lebens.
Anlass, den Impuls zur Autonomie abzuschalten, sind meist chronische Beziehungsstörungen. Der neurotisch Depressive wagt es nicht, autonome Bedürfnisse gegenüber Bezugspersonen zu vertreten. Zu sehr fürchtet er, sich durch selbständige Entscheidungen die Sympathien anderer zu verscherzen. Um die Angst vor Rivalität und dem Verlust der Geborgenheit zu bannen, blendet er das gefürchtete Bedürfnis nach Selbstbestimmung aus.
Statt der Angst jedoch entronnen zu sein, holt sie ihn wieder ein. Mit dem Impuls zur Selbstbestimmung hat der Kranke die Gefahr, anderen zu widersprechen, zwar gebannt, durch den Verzicht auf eigenständige Handlungsmacht kann er nun aber selbst banale Anforderungen des Alltags nicht mehr erfüllen. Das erzeugt Schuld- und Schamgefühle und eine ängstliche Getriebenheit, die ihm jede Ruhe raubt; weil der Kranke nun erst recht den Verlust seiner Zugehörigkeit befürchten muss. Da er nicht mehr in der Lage ist, die Erwartungen des Umfelds zu erfüllen, droht ihn der Missmut anderer erneut zu treffen. Duckt sich der Kranke noch mehr, macht er sich vor dem Leben noch kleiner, schließt sich der Teufelskreis... und treibt ihn womöglich bis in den Wahn...
Die menschliche Existenz findet auf zwei Ebenen statt.
Beide Ebenen sind eng mit den Themen Selbstbestimmung und Zugehörigkeit verwoben. Ob man depressiv wird oder nicht, hängt in großem Maße davon ab, ob man sich selbst wahrnimmt, oder ob man sich selbst durch ein überwertiges Rollenspiel aus den Augen verliert.
Rollenspiele sind sehr variabel. Trotzdem kann man zwei typische Muster beschreiben, die gehäuft depressive Erkrankungen nach sich ziehen:
Die Betrachtung beider Muster vertieft das Verständnis der oben beschriebenen Psychodynamik.
Der Mensch fürchtet sich davor, auf sich selbst gestellt zu sein. Bei vielen ist die Angst davor so groß, dass ihnen die Bestätigung durch andere und deren Sympathie über alles geht. Solche Menschen kümmern sich kaum um das, was sie tatsächlich sind und wollen. Stattdessen übergehen sie eigene Wünsche und halten nach jedem Hinweis Ausschau, wie sie sich verhalten sollten, damit ihr Verhalten passend ist. Sie machen ständig Kompromisse. Sie geben immer nach. Sie schlucken jeden Ärger. Wenn überhaupt ballen sie die Faust nur in der Tasche.
Wenn der Drang zur Selbstbestimmung auf Dauer am Ausdruck gehindert wird, staut sich ungelebte Aggression, die von dem, der den unteren Weg geht, gegen sich selbst gewendet wird. Das ängstliche Ego sagt voller Wut zum Selbst: Du bist daran schuld, wenn die Welt sich gegen uns wendet. Geh weg, ich will dich nicht haben. Wenn das Selbst den Versuch zur Selbstbehauptung schließlich aufgibt, verfällt das Ego aus der Bereitschaft, sich selbstverleugnend anzupassen, in eine manifeste Depression.
Nicht jeder, den die Depression am Kragen packt, ging vorher den unteren Weg. So mancher tat das Gegenteil. Statt sich wertschätzend wahrzunehmen, wie er tatsächlich ist, verliebt sich der Überflieger in ein sogenanntes Größenselbst.
So hat es die Psychoanalyse genannt. Tatsächlich ist das Größenselbst aber kein Selbst, sondern bloß ein Bild davon. Das wirkliche Selbst ist weder groß noch klein. Es ist einfach nur es selbst. Beim Größenselbst handelt es sich um ein prachtvoll ausgeschmücktes Selbstbild, das der Narzisst beharrlich mit dem wahren Selbst verwechselt.
Auch hinter dem Größenselbst des Narzissten steckt der Wunsch nach Zugehörigkeit. Er glaubt, sich auf Zugehörigkeit nur einlassen zu können, wenn er seine Selbstbestimmung durch Überlegenheit absichert. Geht seine Überlegenheit verloren, zieht er sich wie ein verwundeter Platzhirsch aus der Gemeinschaft zurück.
Solange es dem Narzissten gelingt, auf der Bühne des Lebens die Rolle zu spielen, die seinem Selbstbild nahekommt, ist er guter Dinge. Meist gehören zum glänzenden Selbstbild Symbole sozialen Erfolgs. Der Überflieger ist tüchtig. Im Beruf ist er ehrgeizig. Er arbeitet hart, steckt sich hohe Ziele. Er hat eine schicke Freundin, fährt das passende Auto, macht tolle Urlaube, kleidet sich gut und fühlt sich um seinen Rang beneidet.
Wenn das Leben bloß nicht so einfallsreich wäre und das Streben nach äußerem Erfolg nicht so viel Kraft kosten würde... Das Leben ist aber einfallsreich und Leistungsdruck zehrt aus. Daher stürzt fast jeder Erfolgsverwöhnte irgendwann einmal ab. Der Chef hat einen neuen Kronprinzen. Die Partnerin geht fremd. Die Bank verweigert Kredite. Der SUV muss verkauft werden. Die Zuversicht stürzt in einen Abgrund, der dem gestrauchelten Sieger als blankes Nichts erscheint; weil er sich nie mit der Frage beschäftigt hat, was die Leere in seiner eigenen Tiefe enthält.
Bei Depressionen sind typische Verzerrungen des Denkens erkennbar. Affekt und Denken des Depressiven verbinden sich zu einem Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, bei dem sich der schwermütige Affekt und pessimistische Denkinhalte wechselseitig aufschaukeln. Dabei spielt selektive Wahrnehmung eine Rolle, aber auch die Neigung, Wahrgenommenes durch voreilige Schlussfolgerungen nachteilig zu interpretieren. Derartige geistige Filter färben selbst die Wahl erinnerter Inhalte ein.
Man kann sich mit der biologischen Hypothese zur Entstehung der Winterdepression begnügen. Sie besagt, dass es durch Lichtmangel im Winter zu einer vermehrten Melatoninsynthese kommt, was den Serotoninspiegel absenkt. Folge sei eine Störung der Signalübertragung zwischen den Hirnzellen, was seinerseits zur Depression führe. Es kann sein, dass diese These stimmt.
Da der Mensch aber nicht nur biochemisch und physikalisch mit dem Umfeld verwoben ist, sondern auch psychosozial, kann eine ergänzende Betrachtungsebene erwogen werden. Sie hat mit dem unteren Weg zu tun, den viele gehen, um ihre Zugehörigkeit zu sichern. Man kann fragen:
Warum hat es die Evolution so eingerichtet, dass der Novemberhimmel den Eifer zur individuellen Selbstbestimmung dämpft?
Zur Lage des Steinzeitmenschen bei Schneefall
Das Leben unserer Vorfahren hing noch mehr als das unsere vom Wetter ab. Der Zusammenhalt der Gruppe war im Winter noch wichtiger als im Sommer. Weder für den Einzelnen noch für die Gruppe als Ganzes konnte es sinnvoll sein, Konflikte auszutragen, wenn die frostkalte Hand des Todes von draußen in die Höhle griff.
Bei unserem Verwandten im Wald, dem Hirsch, ist es nicht anders. Auch bei ihm hat die Weisheit der Natur eine biophysikalische Kopplung eingerichtet, die dafür sorgt, dass die Konfliktbereitschaft der Hirsche im Winter zum Erliegen kommt. Die Brunft findet im Altweibersommer statt, aber nicht nach Allerheiligen.
Die Absenkung des Serotoninspiegels durch Dunkelheit bot einen Selektionsvorteil. Mit weniger Serotonin zwischen den Synapsen fiel es leichter, sich der Gruppe und ihrem Führer zu beugen. Die Gefahr nahm ab, wegen mangelnder Anpassungsbereitschaft aus der Höhle verstoßen zu werden.
Wohlgemerkt
Die biologische Psychiatrie stellt psychodynamische Erklärungen depressiver Entwicklungen infrage; nicht selten völlig zu Recht. Man kann auch depressiv werden, weil die Neurotransmitter aus dem Gleichgewicht geraten, ungeachtet dessen, ob man vom Frühling, dem Winter oder sonstigen Ereignissen unter Druck gesetzt wird. Die Transmitterstörung überzeugt als Erklärung der Depressionen aber auch nicht immer. Allzu oft sind Medikamente, die darauf Einfluss nehmen, wirkungslos... und schließlich ist zu fragen, was die Transmitter überhaupt aus dem Gleichgewicht bringt. Vermutlich spielen biologische Vorgabe und psychischer Umgang meist ineinander.
Neben dem psychosozialen Effekt - der Dämpfung zwischenmenschlicher Konflikte - hat der depressive Antriebsmangel im Winter weitere Vorteile. Wenn draußen nicht viel mehr zu tun ist, als sich die Zehen blau zu frieren oder auf Nimmerwiedersehen in Gletscherspalten zu verschwinden, fällt es ohne Antrieb leichter, in der sicheren Höhle zu bleiben. Bei karger Kost spart man zudem knappe Energie.
Gefährliche Verlockung
Die Winterdepression ist nicht die einzige Form einer saisonal rezidivierenden affektiven Störung. Wenn sie auch seltener ist: Es gibt eine Frühjahrsdepression, die als jahreszeitlich wiederkehrende Abweichung der Gefühlslage auftreten kann.
Das Frühjahr fordert zu Tatendrang und Lebenslust heraus. Überall turteln verliebte Pärchen. Alle Welt ist tatsächlich oder scheinbar auf dem Weg ins Glück. Der Frühjahrsdepressive hat aber wenig Selbstvertrauen. Er fühlt sich dazu aufgefordert, an etwas teilzuhaben, das er nicht erreichen kann.Weibliche Reize, die im Winter ummäntelt sind, treten im Frühling offen zu Tage. Wer keine Hoffnung hat, da heranzukommen, den kann der Anblick leicht beschürzter Frauenleiber zur Verzweiflung bringen. Frauen, die am eigenen Liebreiz zweifeln, werden ihrerseits eingeschüchtert, wenn das Wetter die Vorzüge glücklicher Konkurrentinnen wie nackte Blumen auf dem Feld zur Schau stellt.
Der Vergleich mit dem Glück der anderen legt Selbstwertzweifel bloß und drückt die Zweifelnden nieder.
Um Depressivität grundsätzlicher zu verstehen und die Gefahr, dass sie auftritt, weitgehend zu bannen, lohnt ein Blick zur Grundfrage der menschlichen Existenz. Sie lautet: Wer oder was bin ich?
Im normalen Funktionsmodus des Alltagsbewusstseins glauben wir, diese Frage sei ebenso leicht wie eindeutig zu beantworten. Wir sagen: Ich bin der eine besondere Körper und die eine besondere Person, die im Gewand dieses Körpers mit anderen Personen in Verbindung tritt. Wir identifizieren uns mit dem Leib und dem relativen Selbst, das wir als Insassen des Leibes vermuten.
Zum derart entstandenen Selbstbild gehört die Hypothese, dass zwischen dem Selbst und der Welt eine Lücke klafft; sodass Zugehörigkeit nicht unverlierbar gegeben ist, sondern erworben und durch immer neue Zugeständnisse gesichert werden muss. Da die Grundlage neurotischer Depressivität auf der Furcht beruht, Zugehörigkeit zu verlieren oder auf dem Glauben, dass sie bereits verloren ist, ist eine psychogen verursachte Depression ohne die Hypothese vom separaten Ego in fremder Welt nicht möglich.
Tatsächlich hat die Person aber keine separate Identität, sondern ist Ausdruck desselben Selbst, das das Selbst einer jeden Erscheinung ist. Sobald der Mensch erkennt, dass dem so ist, kann er einen grundsätzlichen Verlust seiner Zugehörigkeit nicht mehr fürchten.
Persönliches Leben heißt leiden. Überall trifft die Person auf Grenzen. Ständig ist ihr Wohlbefinden in Gefahr, sodass sie sich bemühen muss, weiteres Unheil abzuwenden. Eigentlich könnten wir alle depressiv sein. Wir sind es aber nicht, weil wir daran glauben, dass unser Leiden Sinn macht. Obwohl persönliches Leben meist Mühe und Leid bedeutet, bleiben wir bei guter Laune, weil wir daran glauben, dass es auf etwas Erfreuliches zusteuert:
Auch der Depressive trifft auf Grenzen. Auch er muss sich bemühen, Unheil abzuwenden. Im Gegensatz zum Gutgelaunten glaubt er aber nicht daran, dass das Leben mit der Mühe Sinn macht. Das kann zwei Auslöser haben:
Bei der Überlastung geht der Depressive davon aus, dass ihm die Kraft fehlt, erfreuliche Ziele zu erreichen.
Bei der Entlastung wird ein Ziel erreicht, ohne dass ein neues definiert werden kann.
Der Depressive hat entweder kein Ziel mehr, an dessen Erreichbarkeit oder er hat kein Ziel mehr, an dessen Wert er glaubt. Depressiv wird, wer glaubt, dass er kein sinnvolles Leben mehr führen kann.
Je nach Ausprägung einer Depression, Persönlichkeit des Patienten, dessen Alter und den Bedingungen des Umfelds, in dem er lebt, kommen unterschiedliche Maßnahmen in Frage. Man kann sie als passive oder aktive Ansätze klassifizieren.
Zum passiven Ansatz gehören:
Es mag sein, dass die Elektrokrampftherapie manchem wie ein Relikt aus finsteren Zeiten erscheint, tatsächlich ermöglicht sie jedoch, Patienten aus schwerer Qual zu befreien, bei denen weder Gespräche noch Medikamente etwas bewirken.
Zum aktiven Ansatz gehören:
Bei schweren Depressionen ist eine stationäre Behandlung notwendig. Bei akuter Selbstmordgefährdung ist sie sogar unumgänglich. Da ein schwer depressiver Patient nicht in der Lage ist, sein Verhalten zielorientiert zu überdenken, kann er aus eigener Kraft zunächst kaum etwas zu seiner Gesundung beitragen. Hier ist eine Behandlung mit Antidepressiva erste Wahl. Erst später ist auch an Psychotherapie zu denken.
Bei mittelgradigen Depressionen hat man von Anfang an die Wahl. Je nachdem, welche Hilfe der Patient erwartet, kann man sich zwischen beiden Möglichkeiten entscheiden. Oder man kombiniert sie.
Bei leichten Depressionen wird man mit dem Einsatz von Medikamenten zögerlich sein. Gerade hier liegt der Einsatz aktiver Maßnahmen am nächsten.
Hürden
Viele Umstände erschweren die Heilung von Depressionen. Man kann sie in drei Gruppen einteilen:
Störfaktoren auf dem Weg zur Gesundheit | ||
Biographisch | Sozial | Biologisch |
Kindheitstraumata | Familiäre Konflikte Beziehungskonflikte Nachbarschaftskonflikte |
Zusätzliche körperliche Krankheiten |
Probleme in der Schulzeit | Schlechtes Arbeitsklima Berufliche Überforderung |
Unverträglichkeit von Antidepressiva |
Niedriger Bildungsstand | Niedriger sozialer Status Arbeitslosigkeit |
Genetische Besonderheiten |
Frühes Auftreten seelischer Probleme | Entwurzelung Migrationshintergrund |
Organisch bedingte kognitive Einschränkungen |
Suchtentwicklung | Fehlende soziale Bindungen | Schichtwechsel |
Frühe Verlusterlebnisse | Weltanschauliche Starre des kulturellen Umfelds |
Neben den oben genannten Hürden können auch physikalische Störfaktoren (z.B. Verkehrslärm, ständiger Aufenthalt in lichtarmer Umgebung) eine große Rolle spielen. Schichtwechsel könnte auch als sozialer Störfaktor eingruppiert werden. Da seine eigentlich problematische Wirkung aber durch die Störung biologischer Rhythmen verursacht wird, wird er hier als biologischer Störfaktor genannt.
Verhaltenstherapeutische oder tiefenpsychologische Ansätze sind bei Depressionen gleichermaßen geeignet.
Verhaltenstherapie
Wie kann ich effektiv handeln? Wie erreiche ich, was ich will?
Tiefenpsychologie
Was läuft in meinem Inneren ab? Was entspricht mir eigentlich?
Bei der Verhaltenstherapie entwerfen Therapeut und Patient gemeinsam einen Plan, wie die Anforderungen des Alltags zu bewältigen sind. Herausgefordert durch die Erwartungen des Therapeuten und ermutigt durch dessen Zuspruch, macht sich der Patient daran, den Plan zu erfüllen. Mit zunehmendem Erfolg schwächen sich seine Gefühle der Schuld und des Ungenügens ab. Der Mut zur autonomen Selbstbestimmung springt an. Er glaubt wieder daran, sinnvolle Ziele erreichen zu können.
Bei der Tiefenpsychologischen Therapie führt der Therapeut den Patienten durch Fragen, Deutungen und Hinweise zu einem verbesserten Einblick in die Psychodynamik des Problems. Der Patient erkennt, dass er kein Opfer rätselhafter Mächte ist, die ihn wahllos ins Elend pressen, sondern dass seine Probleme Folgen bestimmter Ängste und Vermeidungsstrategien sind, über die er vielmehr selbst bestimmen kann, als er bisher dachte. Daher fasst er neuen Mut, sich den Widrigkeiten des Daseins mit ganzer Kraft zu stellen.
Bei der Pharmakotherapie der Depression kommen zu allererst Antidepressiva zum Einsatz. Kommt es bei einer schweren Depression zusätzlich zu psychotischen Symptomen - einem Verschuldungswahn, einem Verarmungswahn oder auch zu Stimmenhören - ist der Einsatz von Neuroleptika sinnvoll. Symptomatisch können bei starker Unruhe, Ängsten oder ausgeprägten Schlafstörungen Tranquilizer oder Schlafmittel verordnet werden. Bei wiederkehrenden Depressionen und solchen, die sich mit Manien abwechseln, sind Stimmungsstabilisatoren erforderlich.
Depression und Vitamin D
StudienZ.B.: Kjægaard et al.: Effect of Vitamin D supplement on depression scores, British Journal of Psychiatry. belegen, dass der Vitamin-D-Spiegel im Serum depressiv Erkrankter erniedrigt ist. Die Hoffnung, Depressionen durch Vitamin-D-Gabe zu heilen, hat sich nicht erfüllt. Vermutlich ist Vitamin-D-Mangel keine Ursache der Depression, sondern deren Folge: durch verminderte Aktivitäten im Freien wegen sozialem Rückzug und Antriebsstörung.
Ist eine Depression nicht so ausgeprägt, dass sie den Patienten lähmt, kann er selbst einiges dazu beitragen, depressive Symptome zu beseitigen und neuen vorzubeugen.
Viele Depressive sind lichtsensibel. Licht ist ein existenzieller Faktor, der das tagaktive Wesen Mensch zum Handeln anspornt. Gerade in der dunklen Jahreszeit ist auf genügend Licht zu achten. Bei Depressionen, die sich eindeutig von Winter zu Winter (sogenannte saisonale Depressionen) wiederholen, lohnt es, eine spezielle Lampe zu beschaffen, deren Lichtspektrum eigens auf die Lichttherapie zugeschnitten ist.
So wie Licht zum Handeln anregt, so ist körperliche Bewegung Handlung selbst. Da motorische Tätigkeit ein ursprünglicher Ausdruck des Strebens nach Selbstbestimmung ist, aktiviert Bewegung das Autonomieerleben unmittelbar. Wer sich bewegt erkennt, dass er handlungsfähig ist und damit in der Lage, im eigenen Interesse auf die Wirklichkeit einzuwirken. Studien haben gezeigt, dass Sport depressive Symptome lindert. Selbst ein Spaziergang in der Natur wirkt positiv.
Ein weiteres Mittel der Selbsthilfe sind Selbsthilfegruppen. In der Gruppe findet man Bindung, Beachtung und Austausch. All das wirkt Depressionen entgegen, weil es das Zugehörigkeitsgefühl stärkt und weil ein erfülltes Zugehörigkeitsbedürfnis den Depressiven dazu ermutigt, aus dem Schutz der Gemeinschaft heraus nach der Welt zu greifen.
Symptom und Selbsthilfe
Meist wird die Depression als sinnloses Übel betrachtet, dessen Symptome man unbesehen beseitigen sollte, damit man im Leben weitermachen kann, wie bisher. Was aber, wenn man die depressive Verstimmung ihrerseits als Selbsthilfe auffasst? Als eine Selbsthilfe, durch die Psyche versucht, Fehlentwicklungen zu korrigieren? Dann könnte man der Depression achtsam entgegengehen und auf ihre Botschaft hören.
Ist es nicht so, dass es dem Depressiven schwerfällt, komplexe Aufgaben zu bewältigen? Was, wenn die Pseudodemenz, die darin anklingt, nicht nur Mangel ist, sondern Rückruf? Ein Ruf, der darauf drängt, sich nicht in immer komplizierte Konstrukte zu versteigen, um mehr im Leben zu gewinnen. Ein Ruf, der zur Einfachheit zurückwill, dorthin, wo der Wert des Lebens als Geschenk verankert ist.
Das Leben einfach zu gestalten, Kompliziertes zu vermeiden, das sind Mittel, die verhindern, dass der Geist durch Kompliziertes von seinem wahren Wesen abgebracht wird.
Da Depressionen meist das Resultat chronischen Fehlverhaltens sind, lohnt es sich für jeden, der depressive Verhaltensmuster praktiziert, seine Muster zu überdenken. Falls der Test bei Ihnen deutlich positive Werte zeigt, könnten die Anregungen des Testergebnisses nützlich sein.