Beziehung ist Quelle und Ozean... und der Weg von da nach dort.

Einsamkeit

An der Funktion interessiert sein, die der Andere für mich erfüllen soll.

Begegnung

An dem interessiert sein, der beiläufig Funktionen erfüllt.


Die Gesundheit einer Beziehung beruht nicht auf der Reibungs­losigkeit ihrer Abläufe. Sie beruht auf der Bereitschaft, sich und den Anderen wahrzunehmen und so zu belassen, wie er und man selbst ist.
Der Gesunde lebt mit dem Anderen, der Abhängige durch ihn. Für den Gesunden ist der Andere, wie er ist. Für den Kranken hat er zu sein, wie er sein sollte.

Als ich bin ich so, wie ich bin. Als Du bin ich so, wie Du bist.

Beziehung


  1. Definition
  2. Formen
    1. 2.1. Mittelbare Beziehungen
      1. 2.1.1. Vermittelt durch Fakten
      2. 2.1.2. Vermittelt durch Personen
    2. 2.2. Unmittelbare Beziehungen
      1. 2.2.1. Paarbeziehungen
      2. 2.2.2. Eltern-Kind-Beziehungen
      3. 2.2.3. Geschwister-Beziehungen
      4. 2.2.4. Freundschaften
      5. 2.2.5. Berufliche Beziehungen
      6. 2.2.6. Zweckgebundene Episoden
      7. 2.2.7. Übertragungsbeziehungen
      8. 2.2.8. Feindschaft
      9. 2.2.9. Mischungen
  3. Störungen
    1. 3.1. Störungen der Symmetrie
      1. 3.1.1. Paarbeziehungen
      2. 3.1.2. Eltern-Kind-Beziehungen
      3. 3.1.3. Geschwister-Beziehungen
      4. 3.1.4. Freundschaften
      5. 3.1.5. Berufliche Beziehungen
      6. 3.1.6. Zweckgebundene Episoden
    2. 3.2. Rollenzuweisung
  4. Beziehung und Persönlichkeit
  5. Klärungen
    1. 5.1. Selbstwahrnehmung
    2. 5.2. Beachtung des Anderen
    3. 5.3. Bindung und Freiheit

1. Definition

Der Begriff beziehen besteht aus zwei Teilen: be- und ziehen. Wie alle Vorsilben so hat auch be- ein bestimmtes Bedeutungsfenster. Zum einen beschreibt es eine räumliche Ausrichtung...

Beim Befolgen der Ratschläge ist die Ausrichtung nicht im geometrischen Sinne räumlich, sondern im existenziellen. Der Arzt weist mir einen Weg zur Heilung. Ich folge ihm.

Durch jede Beziehung wird man aus seiner Mitte gezogen. So bietet jede Beziehung die Chance, die eigene Mitte neu zu bestimmen. Da man sich erst durch die Rückkehr zur Mitte finden kann, braucht man Beziehungen, um zu sich zu kommen.

Zum anderen besagt be-, dass auf eine spezifische Weise auf etwas eingewirkt und als Resultat der Einwirkung etwas zugefügt oder beigeordnet wird.

Nachdem die Kinder auf Sofa und Wände eingewirkt haben, fügt die Mutter dem Treiben eine Klage hinzu, was den Beschluss bewirkt, der kindlichen Aktivität mehr Aufsicht beizuordnen.

Bei der Be-ziehung wirken Zugkräfte auf die beteiligten Personen ein. Es kommt zu einer wechselseitigen Beeinflussung von Handlungsabläufen, Sicht- und Erlebnisweisen.

Beziehung ist aber mehr als eine Einwirkung von Zugkräften, die sekundär an Personen ansetzen. Bezogen zu sein, ist ein zentrales Element der menschlichen Existenz. Die Person erwächst aus dem Bezug und wird durch ihre Form geprägt. Beziehungen bestehen nicht nur zwischen den Personen. Sie ragen in sie hinein. Im Bezogensein verästelt und verwurzelt man sich unauflösbar in die Außenwelt.

2. Formen

Zunächst sind zwei grundsätzliche Formen menschlicher Beziehungen zu unter­scheiden: Man kann unmittelbar oder mittelbar aufeinander bezogen sein.

Bei der unmittelbaren Beziehung erfolgt die Einwirkung durch persönlichen Kontakt. Bei der mittelbaren erfolgt sie über Dritte und/oder die faktischen Ergebnisse jeweils individueller Handlungen. Sobald eine Handlung oder das schiere Dasein des einen auf einen anderen einwirkt, besteht eine Beziehung.

2.1. Mittelbare Beziehungen

Oberflächlich betrachtet, steht man mit den meisten Menschen in keinerlei Beziehung. Faktisch ist das falsch: Tatsächlich steht man mit jedem in Beziehung; obwohl man bei mittelbaren Beziehungen die jeweils anderen nicht persönlich kennt und die Intensität der Beziehung zu den meisten verschwindend gering ist.

2.1.1. Vermittelt durch Fakten

Je nach Lage der Dinge sind Beziehungen, die durch faktische Handlungsergebnisse verwirklicht werden, in hohem Grade spürbar:

Ich kenne die Leute nicht. Wenn sie aber beschließen, das Nachtflugverbot zu lockern, beeinflusst mich das massiv. Es kann sogar mein Leben verkürzen.

Beziehungswirkungen durch die Ergebnisse faktischen Handelns persönlich unbekannter Personen gibt es nicht nur bei politischem Machtgefälle. In geringem Ausmaß bestehen sie zwischen allen Menschen. In der Summe haben sie oft großen Einfluss; zum Beispiel bei Wahlergebnissen oder wenn man im Stau steht, weil alle gleichzeitig in Urlaub fahren.

Auch einzelne Personen stehen, je nachdem wie das Schicksal es will, in enger Beziehung zu Unbekannten; selbst dann, wenn der eine schon tot war, als der andere zur Welt kam.

Hätte Eitel (ein seltener Vorname, aber es ist einer...) Hans-Ottos erste Liebe Judith nicht zur Untreue verführt und schließlich am 13. August 1945 in Sovata aus Eifersucht erschossen, hätte Hans-Ottos Sohn mit Erika vermutlich niemals das Licht der Welt erblickt. Wer hätte diese Zeilen dann geschrieben? Niemand! Also hat Eitel auch Einfluss auf Ihr Leben, und zwar selbst dann, wenn Sie nicht dieses Kapitel lesen, sondern irgendein anderes auf Seele und Gesundheit.

Das Schicksal von Menschen, ja sogar deren Existenz, hängt von Entscheidungen Unbekannter ab. Dadurch sind alle in ein Beziehungsnetzwerk verwoben. Je nach Lebensspanne und Handlungszeitpunkt ist eine Beziehung durch Faktenwirkung asymmetrisch oder wechselseitig.

2.1.2. Vermittelt durch Personen

Starke Beziehungswirkungen werden durch Dritte vermittelt:

Dergestalt ist die Menschheit ein Netzwerk wechselseitiger Beziehungen, in dem über kurz oder lang jeder auf jeden einwirkt. Wenn dem Bauern Hua Dong in Szechuan ein Sack Reis umfällt, betrifft uns das letztendlich doch; selbst dann, wenn die Wirkung der vielen Säcke, die in China umfallen mögen, niemals als unterscheidbare Ursache konkreter Auswirkungen in Europa erkennbar wird.

2.2. Unmittelbare Beziehungen

Unmittelbar ist jede Beziehung, bei der sich zwei Menschen persönlich begegnen und durch die Begegnung aufeinander reagieren.

Eigentlich ist jede Beziehung einzigartig. Trotzdem können bestimmte Formen definiert werden, für die typenspezifische Bedingungen gelten:

Als drei besondere Themen sind darüber hinaus zu nennen:

2.2.1. Paarbeziehungen

Ursachen

Wenn eine Beziehung auseinanderbricht, die hoffnungsvoll begann, liegt in vielen Fällen einer der folgenden Gründe vor:

  1. Sie glaubte, er ändert sich noch, aber er ändert sich nicht.
  2. Er glaubte, sie ändert sich nicht, aber sie ändert sich doch.

Erwartung, Begrenzung und Verzicht

Das Besondere an der Paarbeziehung ist die Ausschließlichkeit. Meistens geht man in solchen Beziehungen stillschweigend davon aus, dass man vom Partner besonders viel Nähe und Vertraulichkeit erwarten kann. Parallel dazu akzeptiert man Begrenzung und Verzicht. Man verpflichtet sich, das Besondere, was man vom Partner erwartet, nicht anderswo zu suchen.


Asymmetrische Paarbeziehungen sind meist durch Muster der Eltern-Kind-Beziehung überlagert.

Nichts stört die Fähigkeit zu lieben mehr als die Forderung, geliebt zu werden.

Es gibt Leute, die sich ständig für andere aufopfern. Scheinbar! In Wirklichkeit opfern sie sich für das Selbstbild, dem sie entsprechen wollen; oder ihr Opfer ist gar keins, sondern eine Investition in Dankbarkeit. Wenn Sie von Ihren Kindern Dankbarkeit erwarten, könnte es sein, dass Sie nicht erwachsen sind.

Paarbeziehungen werden durch zwei Themen bestimmt:

Die Gewichtung der Themen ist variabel und veränderlich. So gibt es Paarbeziehungen, die sich von vornherein aufs Pragmatische konzentrieren und solche, die vollständig von psychologischen Bedürfnissen beherrscht werden.

Meist stehen psychologische Bedürfnisse zu Beginn einer Liebes­beziehung im Vordergrund. Oft sind die Erwartungen aneinander unrealistisch und werden im Laufe der Zeit teilweise enttäuscht. Gelingt es dem Paar, Enttäuschungen gemeinsam zu überstehen, erwächst aus Verliebtheit eine mehr oder weniger liebevolle Partnerschaft, bei der pragmatische Themen mehr Gewicht bekommen.

Eine vollgültige Paarbeziehung ist symmetrisch. Beide Partner haben grundsätzlich den gleichen Rang. Die Praxis der asymmetrischen Paarbeziehung, die vielerorts als Kulturgut gepflegt wird, ist Ausdruck und Ursache gestörter Persönlichkeitsentwicklung zugleich. Erst durch Symmetrie wird ein Kommunikationsklima möglich, in dem sich das volle Potenzial wechselseitiger Förderung entfalten kann und sich Individualität unverfälscht zum Ausdruck bringt.

Individualität wird verfälscht, wenn man ihren Ausdruck aus Angst vor den Reaktionen anderer beschränkt.

Symmetrisch heißt dabei nicht, dass beide die gleiche Rolle spielen, sondern dass jeder die Rolle des Anderen als gleichwertig anerkennt. Symmetrisch heißt auch, dass jeder die Rolle, die er spielt, wählen oder aufgeben kann.

2.2.2. Eltern-Kind-Beziehungen

Eltern-Kind-Beziehungen sind asymmetrisch, verpflichtend und von großer Tragweite. Die Asymmetrie ist anfangs vollständig. Sie nimmt im Laufe der Zeit ab. Genauso ist es mit der Verpflichtung, die Eltern durch die Zeugung des Kindes eingehen.

In der Regel bindet die Eltern-Kind-Beziehung die Beteiligten für mindestens 20 Jahre. In der Regel sind die gewachsenen Bindungen auch danach so eng, dass Eltern-Kind-Beziehungen im Guten wie im Bösen bis zum Lebensende der Eltern ein wesentliches Element der Lebensgestaltung der Beteiligten bleiben. Mit anderen Worten: Die Eltern-Kind-Beziehung ist ein grundlegendes Element des menschlichen Lebens überhaupt.

Durch die Schutzbedürftigkeit des Kindes und die umfangreichen kindlichen Bedürfnisse, die von den Eltern zu erfüllen sind, bedarf gelungene Elternschaft hoher psycholo­gischer Reife und großer Opferbereitschaft. Wer die Vater- oder Mutterrolle erfolgreich spielen will, muss in der Lage sein, eigene Bedürfnisse über lange Zeit zurückzustellen.

Kaum eine Psychotherapie vergeht, ohne dass die Beziehung von Eltern und Kind zum Thema wurde.

Für das Kind ist das familiäre Klima das prägendste Erfahrungsfeld des Lebens. Es ist den Eltern in hohem Maße ausgeliefert. Wenn alles gut geht, wächst es aus der Abhängigkeit in ein selbständiges Leben hinein, ohne durch schwerverdauliche Erfahrungs­episoden ausgebremst zu werden. Wenn es nicht gut geht, können Fehlentwicklungen einer problematischen Kindheit ein ganzes Leben überschatten.

2.2.3. Geschwister-Beziehungen
Konflikt und Loyalität
Gemeinhin wird erwartet, dass zwischen Geschwistern eine besondere Loyalität besteht. Zugleich sind viele geschwisterliche Beziehungen zerstritten. Wahrscheinlich hat das eine mit dem anderen zu tun. Hohe Erwartungen begründen Ansprüche. Ansprüche schränken Freiheiten ein: die Freiheit dessen, dem gegenüber der Anspruch erhoben wird. Wird der Bogen überspannt, kann er brechen.

Abgesehen von den Effekten, die Altersunterschiede nach sich ziehen, sind Geschwister-Beziehungen zunächst symmetrisch. Während die Asymmetrie der Rollen bei der Eltern-Kind-Bezieh­ung biologisch festliegt, zumindest solange die Kinder Kinder sind und die Eltern gewillt, Eltern zu sein, sind Geschwister vom genealogischen Rang her gleich. Durch Vorlieben der Eltern, Zuweisung eigentlich elterlicher Aufgaben an bestimmte Kinder und die Rivalität der Kinder untereinander entsteht in der Geschwisterschaft jedoch meist ein Netzwerk von Beziehungen, in das hierarchische Muster eingewoben sind.

Noch deutlicher sind Hierarchien, wenn weltanschauliche Vorgaben am Werke sind. Dann werden älteren Kindern, vorwiegend Brüdern, ausdrücklich ranghöhere Positionen zugeordnet.

Ein besonderes Merkmal von Geschwisterschaften ist der gemeinsame Erfahrungsschatz aus einer gemeinsam erlebten Vergangenheit. Es gibt eine Menge Erinnerungen, die man nur mit seinen Geschwistern teilt.

Besonders ist auch die geringe Ausweichmöglichkeit in der Familie und der daraus resultierende Zwang, sich miteinander zu befassen. Während man sich jenseits der Familie Freunde heranziehen und Feinden aus dem Weg gehen kann, ist man Freund und Feind in der Geschwisterschaft ausgeliefert. Oft entstehen daraus emotional aufgeladene Beziehungsfelder, deren Tragweite für das weitere Leben ebenso bedeutend sein kann, wie die Beziehung zu den Eltern. Sobald der Erbfall eingetreten ist, können Konflikte aufbrechen, die bis dato stabile Geschwister-Beziehungen schwer belasten.

2.2.4. Freundschaften

Parallelen und Unterschiede

Zwischen der Paarbeziehung und der Freund­schaft gibt es Parallelen und Unterschiede. Beide verbinden Personen, die nicht miteinander verwandt sind und das Wesen beider Bezieh­ungen liegt in wechselseitiger Unterstützung, Stärkung und Bestätigung. Im Unterschied zur Paarbeziehung, ist die Freundschaft aber nicht ausschließlich. Wenn man ehrlich ist, kann man nur einen Partner haben; aber mehrere Freunde. Vereinbart man sexuelle Freiheit, führt man eigentlich keine Paarbeziehung mehr, sondern mehrere sexualisierte Freundschaften. Das Spektrum der Übergänge reicht von radikalem Verbot bis zu weiser Gelassenheit.

Freunde kann man sich aussuchen, Geschwister nicht. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied. Wie die Geschwister-Beziehung ist die Freundschaft im Grundsatz symmetrisch. Während man Geschwister aber vorgesetzt bekommt, kann man Freunde wählen. Deshalb haben Freunde meist ähnliche Interessen, Neigungen und Ansichten über das Leben an sich.

Selbst wenn sie im Streit den Kontakt zueinander abbrechen, bleiben Geschwister auf Dauer füreinander Bruder und Schwester. Freundschaften sind im Gegensatz dazu Bündnisse auf Zeit. Gewiss, auch sie können ein Leben lang halten, wenn sie aber beendet sind, ist die besondere Bindung, die Freundschaften ausmacht, tatsächlich vorbei.

2.2.5. Berufliche Beziehungen

Berufliche Beziehungen sind auf pragmatische Themen zentriert. Es geht darum, gemeinsam Autos zu bauen, Kranke zu pflegen, Kunden zu bedienen, Schülern das Einmaleins beizubringen oder Verwaltungstätigkeiten abzuwickeln; und es gilt abzusprechen, wie man die Fähigkeiten der Kollegen miteinander verzahnt. Man könnte berufliche Beziehungen also den zweckgebundenen Episoden zuordnen.

Berufliche Beziehungsfelder ähneln aber auch Familien. Es gibt Vorgesetzte ("Eltern"), Kollegen ("Geschwister") und Untergebene ("Kinder"). Da berufliche Beziehungen über Jahre und Jahrzehnte bestehen und man mit Kollegen oft mehr Zeit verbringt, als mit der eigenen Familie, wächst beruflichen Beziehungen eine Bedeutung zu, die sie von zweckgebundenen Episoden unterscheidet.

Parallel zur Familie gilt im Beruf, dass man sich die Menschen, mit denen man zu tun hat, anders als bei Freundschaften, nicht beliebig aussuchen kann. Deshalb wiederholen sich an vielen Arbeitsplätzen psychologische Muster, die auch die Binnenstruktur von Familien bestimmen.

Gewisse Parallelen

Vorgesetzte Eltern
Kollegen Geschwister
Untergebene Kinder

Was in der Kinderstube entstand, kann in der Teamsitzung zum Ausdruck kommen.

2.2.6. Zweckgebundene Episoden

Zweckgebundene Beziehungsepisoden können flüchtig sein oder aber über lange Zeit bestehen und tiefe Bindungen bewirken.

Flüchtige Beziehungsepisoden sind am wenigsten störanfällig. Da sie im Grundsatz thematisch klar begrenzt und vorübergehend sind, besteht nur ein oberflächlicher Bedarf, sich miteinander abzustimmen.

Flüchtige zweckgebundene Beziehungsepisoden

Solche Episoden sind aber nur für den unproblematisch, der hinreichend im eigenen Wesen ruht. Für Menschen mit seelischen Konflikten und sozialen Ängsten kann selbst das Knüpfen solcher Beziehungen eine unüberwindliche Hürde sein.

Zweckgebundene Beziehungsepisoden können auch zu intensivem Austausch führen oder Bindungen schaffen, denen eine tiefergehende emotionale Dimension zuwächst.

Intensive zweckgebundene Beziehungsfelder

Wenn innerhalb zweckgebundener Beziehungsfelder tiefgehende persönliche Bindungen entstehen, wachsen Muster heran, die man auch in privaten Beziehungen findet.

2.2.7. Übertragungsbeziehungen

Beziehungs­übertragung

Eingeführt ist der Begriff Übertragungs­beziehung. Er klingt jedoch so, als stünde eine solche Form der Beziehung anderen als eigene Kategorie gegenüber. Das ist irreführend; denn die Übertragung als psychodynamisches Phänomen kommt quasi überall vor.

Eigentlich müsste man also nicht von einer Übertragungsbeziehung sprechen, sondern von Beziehungsübertragung.

Es kann sich lohnen, jede Beziehung, die man eingeht, daraufhin zu überprüfen, ob man dabei nicht Muster benutzt, die in früheren Beziehungen entstanden sind, heute aber nicht mehr passen.

Der Begriff Übertragung stammt aus der Psychoanalyse. Er benennt den Umstand, dass sich der Patient dem Therapeuten gegenüber so verhält, als sei dieser sein Vater oder seine Mutter; die streng, widersprüchlich, unzuverlässig, ungerecht, übergriffig, lieblos, unglücklich, hilflos, missbräuchlich oder sonst wie waren. Man sagt, der Patient überträgt Verhaltensmuster aus früheren Beziehungen in neue.

Tatsächlich sind solche Vorgänge aber nicht auf die therapeutische Beziehung beschränkt. Übertragungen finden in fast jeder Beziehung statt; und dort sind sie wohlgemerkt wechselseitig. Nur wenn es gelingt, einem Menschen ohne jedes Vorurteil, darüber wie er angeblich ist oder wie er sein sollte, zu begegnen, ist die neue Beziehung frei von Übertragungen aus früheren Erfahrungsfeldern. Dazu bedarf es eines hohen Maßes an Selbsterkenntnis und der Fähigkeit, einen anderen so zu sehen, wie er ist; ohne aus Furcht oder Anspruch etwas Bestimmtes von ihm zu erwarten.

Übertragungen kommen innerhalb der typischen Beziehungsformen vor oder aber sie überspringen die Grenzen.

Übertragene Erwartungen

In der gleichen Form Formüberspringend
  • Vom ersten Partner auf den nächsten
  • Vom erstgeborenen Bruder auf die übrigen
  • Von den Kollegen des ersten Arbeitsplatzes auf die Kollegen des zweiten
  • Von den Eltern auf den Partner
  • Vom Vater auf den Chef
  • Von Geschwistern auf Kollegen

Tatsächlich beeinflusst jede Beziehungserfahrung das spezifische Muster der Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen, mit denen man auf den nächsten Beziehungspartner zugeht.

2.2.8. Feindschaft

Feindschaft ist eine besondere Beziehungsqualität. Außer in der Freundschaft und der echten Liebe kann sie in jeder Beziehungsform vorkommen. Selbst einem Kellner gegenüber kann man sich feindselig verhalten, wenn man ihn verdächtigt, dass er vergifteten Kaffee bringt.

Feindschaft ist an die Tatsache oder die Vorstellung gebunden, dass man durch den Anderen Schaden erleiden wird. Deshalb entsteht sie vor allem dort, wo man sich nicht aus einer Beziehung löst, die man als schädlich empfindet; oder aus der man sich nicht (so einfach) lösen kann: zum Beispiel aus einer unglücklichen Ehe, aus der Beziehung zu einem Elternteil, einem Geschwisterkind, rücksichtslosen Arbeitskollegen oder einem Nachbarn, der zweimal die Woche lärmende Feste feiert.

Feindschaft hat zwei Ursachen:

  1. Reale Interessenskonflikte

    • Ich will in der Sonne sitzen. Der Nachbar pflanzt einen Mammutbaum.
    • Ich will Sonja. Moritz auch.

  2. Psychologische Bedürfnisse

    Einen Feind zu haben, kann wichtige psychologische Funktionen erfüllen:

    • Dank eines Feindes hat man eine Erklärung dafür, warum die Dinge nicht so laufen, wie man es für richtig hält. Gleichzeitig fühlt man sich der Verant­wortung entbunden. An den Missständen ist gewiss der Feind schuld.
    • Im Kontrast zur Bosheit des Feindes leuchtet die eigene Tugend besonders hell. Wer leuchtet leuchtet, wer aber leuchten will, erzeugt Schatten, von denen er sich abhebt.
    • Ein Feind vermittelt das beruhigende Gefühl, dass es einen einfachen Weg zum Glück gibt: ihn zu beseitigen.
    • Ein Feind dient als Zielscheibe eigener Aggression. Ihm darf man mit gutem Gewissen schaden; schließlich ist er schlecht und ihm zu schaden folglich gut. Erlaubte Bosheit macht dem Ego Spaß.
    • Feinde festigen falsche Harmonien: Indem die Mitglieder einer Gemein­schaft die wechselseitige Wut, die sie aufeinander haben mögen, auf den äußeren Feind lenken, gehen sie gefürchteten Klärungen innerhalb der Gruppe aus dem Weg.

Kurzum: Es gibt eine Menge guter Gründe, jemanden als Feind zu betrachten. Die Mehrzahl ideolo­gischer Gemeinschaften mit politischem Vorsatz oder konfessionellem Selbstverständnis ginge ohne äußeres Feindbild an innerer Zwietracht zugrunde. Projektionen stabilisieren nicht nur unrealistische Selbstbilder, sondern auch widersprüchliche Zugehörigkeiten, die den Beteiligten mehr schaden, als offenkundig werden soll.

2.2.9. Mischungen

Beziehungen sind komplexe Angelegenheiten. Selbst innerhalb einer klar definierten Beziehungsform kann es schwierig sein, dauerhaft harmonisch miteinander zu kommunizieren. Probleme entstehen erst recht, wenn Beziehungsformen miteinander vermischt werden. Dann kommt es verstärkt zu Rollenkonflikten.

Mischungen mit erhöhtem Konfliktpotenzial

Eine besonders problematische Form vermischter Beziehungsebenen entsteht beim Inzest. Eltern, die die Beziehung zu ihren Kindern sexualisieren, lösen damit schwere seelische Probleme aus; regelhaft umso schwerwiegender, je jünger die Kinder beim Missbrauch sind und je mehr Gewalt dabei im Spiel ist.

Unterhalb der Schwelle zum faktisch sexuellen Missbrauch gibt es zwischen Eltern und Kindern weitere problematische Verstrickungen: wenn Eltern Kinder zu Ersatzpartnern machen oder ihnen elterliche Aufgaben zuschieben.

3. Störungen

Grundregel

Je größer die Erwartungen sind, die man an einen Beziehungspartner richtet, desto weniger interessiert man sich dafür, wie er wirklich ist. Je weniger man sich für den Anderen interessiert, desto größer ist die Gefahr, dass die Beziehung Schaden nimmt.

Beziehungsstörungen kommen häufig vor. Die Ursache der meisten Probleme liegt in den Erwartungen, die man an den jeweils anderen richtet... und an den Bemühungen, den Anderen so zu formen, dass er den Erwartungen entspricht.

Erwartungen sind Vorgaben, die der Andere erfüllen soll. Die Ursache des Erwartens liegt regelhaft im eigenen Ungenügen. Wer sich selbst nicht genügt, erwartet von seinem Gegenüber, dass er das Fehlende ergänzt. Ist das Fehlende leicht zu ergänzen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Beziehung gelingt.

Sind die Erwartungen komplex, ist die Gefahr groß, dass die Partner offensiv oder manipulativ aufeinander einwirken, um den jeweils anderen zu dem zu machen, was er sein soll.

Je klarer das Erwartete definiert und je einfacher eine Erwartung zu erfüllen ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Beziehung spannungsfrei verläuft. Noch nie habe ich mit Bäckereiverkäuferinnen gestritten, mit Frauen, von denen ich den Himmel auf Erden erwartete, aber stundenlang.

3.1. Störungen der Symmetrie

Merkmale typischer Beziehungsformen sind Symmetrie bzw. Asymmetrie. Beziehungs­störungen lassen sich besser verstehen, wenn man danach Ausschau hält, ob das jeweils angemessene Merkmal darin berücksichtigt wird. Beziehungen, die ihrem Wesen nach asymmetrisch sind, leiden unter fehlplatzierter Symmetrie. Eigentlich symmetrische Beziehungen entgleisen schneller, wenn man ihre Symmetrie missachtet.

(A)-Symmetrien

Form Symme­trisch? Stö­rungen
Paar­beziehung + Kulturell bedingte Asymmetrien
Psychologisch bedingte Asymmetrien
Eltern-Kind-Beziehung - Parenti­fikation
Missbrauch
Geschwister-Beziehung + Aschen­puttel-Thema, Hack­ordnungen
Freundschaft + Symbiosen
Berufliche Beziehungen + oder - Unklare Rollen­vertei­lungen
Zweck­gebundene Episode + oder - Unspezi­fisch je nach Art der Beziehung

3.1.1. Paarbeziehung
Rangordnungen
In der asymmetrischen Paarbeziehung steht der dominante Partner nicht nur über dem regressiven, er steht auch über sich selbst. Sein Selbst steht unter der Rolle, die er spielt.

Eigentlich sind Paarbeziehungen symmetrisch. Symmetrie bietet Partnern und deren Kindern den bestmöglichen Rahmen zu vertiefter Kommunikation. Sind Paarbeziehungen asymmetrisch, wird die Souveränität beider Partner abgewertet: die des Rangniederen offensichtlich, die des Ranghöheren verdeckt, weil dessen Wert in der Asymmetrie nicht in seiner existenziellen Mitte ruht, sondern von der Unterwerfung des Anderen abhängt; und somit an eine soziale Rolle gebunden bleibt.

Jedes Beziehungssystem, das Entwertung enthält, zieht Kommunikationsstörungen nach sich. Kommunikation geht nur ungestört vonstatten, wenn das Offenbarte nicht zum Risiko erneuter Abwertung werden kann. In asymmetrischen Paarbeziehungen wird Kommunikation durch taktische Überlegungen eingeschränkt. Der Dominante zensiert sie, um seine Dominanz zu wahren, der Regressive um sich vor Zugriff zu schützen.

Je mehr eine Kultur das Göttliche zur entrückten Person erklärt, desto mehr macht sie den Menschen zum Objekt. Je eher sie Menschen als Objekte betrachtet, desto unbedenk­licher erscheint es ihr, sie in asymmetrische Rangordnungen zu verbauen.
Kulturell bedingte Asymmetrie

Typisch sind Asymmetrien in Paarbeziehungen, deren Regeln von tradierten Wertvorstellungen bestimmt sind, die den Geschlechtern von vornherein unterschiedliche Ränge zuweisen. Ursache solcher Wertvorstellungen sind meist Mythologien, die sich auf vermeintlich göttlichen Willen berufen und ein Gesellschaftsmodell begründen, das die Beziehung zwischen Gott und Mensch ebenso grundsätzlich hierarchisiert, wie die Beziehungen zwischen Menschen unterein­ander. Auserwählt zu sein, heißt zum Vormund ernannt zu werden. Im Rahmen solcher Gesellschaftsordnungen gilt es als selbstverständlich, dass auch Paarbeziehungen nicht auf Ebenbürtigkeit, Kommuni­kation und Wechselseitigkeit beruhen, sondern auf einem vorgegebenen Machtgefälle. Wer glaubt, Gott fordere die Anerkennung seiner Macht, setzt sich dafür ein, dass die menschliche Gemeinschaft ein verschachteltes Gefüge asymmetrischer Beziehungs­formen ist. Konflikte sind dabei vorprogrammiert.

Psychologisch bedingte Asymmetrie

Eine weitere Ursache asymmetrischer Paarbeziehungen liegt in der individuellen Unreife der Partner. Wenn der eine Partner einen Beschützer zu brauchen glaubt und der andere einen Bewunderer, der seine Selbstwertzweifel mit Lobgesang erstickt, wird aus der Symmetrie eine Symbiose, in der die Ichs den Anspruch fahren lassen, psychologisch autonom zu sein.

Symbiosen

Es gibt zwei Formen der Symbiose: die technische und die psychologische.

Biologisch betrachtet ist die heterosexuelle Paarbeziehung eine technische Symbiose. Der Mann beherrscht die Technik des Befruchtens, die Frau die des Austragens. Ohne dass man sich zusammentut und sich zu einem Paar ergänzt, geht das Leben nicht weiter.

Technisch symbiotisch kommt es zur Aufteilung weiterer Aufgaben.

Die technische Symbiose ist fester Bestandteil der Paarbeziehung... und an sich nicht weiter problematisch.

Problematisch kann es werden, wenn das Paar eine psychologische Symbiose eingeht; und zwar ohne den Vorsatz, sich von dort aus weiterzuentwickeln. Psychologische Symbiosen sind solche, bei denen man dem anderen keine technische Aufgabe überlässt, sondern dessen psychologische Fähigkeiten dazu missbraucht, auf die Entwicklung eigener zu verzichten.

3.1.2. Eltern-Kind-Beziehungen

Eltern-Kind-Beziehungen sind asymmetrisch. Die Hilfsbedürf­tigkeit des Kindes und sein Unvermögen, selbst für seine Sicherheit zu sorgen, machen die Asymmetrie unvermeidlich.

Oft wird die angemessene Asymmetrie aber nicht respektiert. Ursache ist meist eine psychologische Unreife der Eltern, die zur Vermischung unterschiedlicher Beziehungsarten führt (siehe oben). Bei derartigen Vermischungen wird aus der angemessenen Asymmetrie eine unpassende Symmetrie oder eine unangemessene Asymmetrie.

Unpassende Symmetrien in der Eltern-Kind-Beziehung

Umkehr der Asymmetrie

Kindern hilfloser Eltern fällt eine Vater- oder Mutterrolle zu (Parentifikation).

Wird die angemessene Asymmetrie der Eltern-Kind-Beziehung missachtet, kann das zu schwerwiegenden Folgen führen.

Unpassende Asymmetrien

In der Eltern-Kind-Beziehung gibt es nicht nur unpassende Symmetrien. Es gibt auch unpassende Asymmetrien. Diese hängen damit zusammen, dass die Asymmetrie dieser Beziehungsform nur auf Zeit sinnvoll ist und folglich aufgelöst werden muss. Die Auflösung der Asymmetrie vollzieht sich parallel zur Entwicklung des Kindes. Sie beinhaltet zwei spektakuläre Schübe:


3.1.3. Geschwister-Beziehungen

Die grundsätzliche Symmetrie der Geschwister-Beziehung ist durch verschiedene Faktoren gefährdet.

Aschenputtels Lösungen der Asymmetrie

Das Märchen vom Aschenputtel berichtet von einer krassen Asymmetrie. Zugleich zeigt es zwei Lösungen auf, die ein zurückgesetztes Kind versuchen kann:

Asymmetrische Geschwister-Beziehungen sind oft Störfaktoren harmonischer Entwicklungen. Sie können aber auch als Antrieb biographischer Prozesse dienen, die der Asymmetrie im Nachhinein Funktion und Wert zuweisen: zum Beispiel beim Aschenputtel-Syndrom.

Schwere Zerwürfnisse zwischen Geschwistern entstehen, wenn im Erbfall symmetrische Absprachen über den Umgang mit einem gemeinsamen Erbe nicht zu finden sind, weil einzelne oder mehrere Erben asymmetrische Bestimmungsrechte für sich in Anspruch nehmen.

3.1.4. Freundschaften

Grundsätzlich sind Freundschaften symmetrisch. Freunde sind vom Grundsatz her ebenbürtige Vertraute. Nur bei großen Altersunterschieden (... der väterliche Freund) können Asymmetrien angemessen sein. Diese werden aber im Gegensatz zur Asymmetrie der Eltern-Kind-Beziehung nicht als verbindlich empfunden.

Kann Ebenbürtigkeit aus psychologischen Gründen nicht ausgelebt werden, kommt es zu symbiotischen Asymmetrien, bei denen sich ein Freund um die Gunst des Anderen bemüht, während der Umworbene die Bemühungen des Werbenden als Bestätigung seines Selbstwerts für sich in Anspruch nimmt.

Taucht Eifersucht in Freundschaften auf, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie durch symbiotische Asymmetrien verzerrt sind.

Während der Selbstwert des Einen davon abhängt, umworben zu sein, stabilisiert sich der Andere durch die Phantasie, einen großartigen Freund zu haben, dessen Glanz auf ihn zurückfällt. Es liegt auf der Hand: Solche Asymmetrien gefährden die Kommunikation, weil auch hier taktische Manöver in den Vordergrund treten.

Bestehen freundschaftliche Beziehungsgefüge aus mehr als zwei Personen, entstehen Asymmetrien durch Kräfte der Gruppendynamik. Führungsansprüche einzelner oder Eifersucht untereinander können aus ebenbürtig Vertrauten Rivalen machen.

3.1.5. Berufliche Beziehungen

Berufliche Beziehungen sind entweder symmetrisch (zwischen Kollegen) oder asymmetrisch (zwischen den Hierarchieebenen).

Störende Asymmetrien zwischen Kollegen haben ähnliche Ursachen wie Asymmetrien in Geschwister-Beziehungen oder Freundschaften. Sie können zu schweren Konflikten führen, z.B. zu Mobbing.

Vom Du an falscher Stelle

Die herausgehobene Position des Vorgesetzten erfordert einen Verzicht auf Zugehörigkeit. Ist das Zugehörigkeitsbedürfnis eines Vorgesetzten überwertig, kann es sein, dass er es per Du über Hierarchiegrenzen hinweg erfüllen will.

Ein falsches Du wird von Führungskräften eingefordert, deren Motiv kein eigenes Zugehörigkeitsbedürfnis ist, sondern die Absicht, Mitarbeiter durch Vorspiegelung einer trügerischen Gemein­samkeit zu einer Opferbereitschaft zu verführen, die nur in einem familiären Kontext stimmig wäre.

Die Geschäftsphilosophie der Wirtschaft hat das trügerische Du ebenfalls für sich entdeckt: als Werkzeug zur Steuerung naiver Kunden. Allerorten wird Kunden per Du suggeriert, beim Angebot gehe es nicht ums Geschäft, sondern um den Beitritt zu einer Gemeinschaft.

Problematisch kann es auch sein, wenn die Ordnung zwischen den hierarchischen Ebenen der Arbeitsorganisation infrage gestellt wird. Fehlt einem Vorgesetzten der Mut, seine exponierte Position wahrzunehmen, untergräbt das die Funktionsfähigkeit des gesamten Teams.

Unklare Ordnungen

3.1.6. Zweckgebundene Episoden

Die Mehrzahl zweckgebundener Episoden ist symmetrisch. Symmetrisch heißt: Die Beteiligten suchen einander freiwillig aus, um die entsprechenden Zwecke abzuwickeln.

Asymmetrien treten auf, wenn keine freie Wahl besteht:

Problematisch werden asymmetrische Episoden, wenn dem eigentlichen Zweck persönliche Bedürfnisse beigemischt werden. Meist wird es dabei um Fragen des Selbstwerts gehen. Oder Übertragungseffekte führen zu unbewussten Verstrickungen.

Erst recht problematisch kann es werden, wenn die Bewährungshelferin mit ihrem Probanden oder der Therapeut mit seiner Patientin ins Bett geht. Dann wird eine Symmetrie erzeugt, die mit der ursprünglichen Beziehung nicht vereinbar ist. Oder es ist eine Form des Missbrauchs; wenn die Helferin nicht aus erotischem Interesse am Probanden handelt, sondern ihr der Erfolg bei dessen Läuterung zum guten Menschen so wichtig ist, dass ihr kein Einsatz dabei zu hoch erscheint.

3.2. Rollenzuweisung
Nichts macht es dem Anderen schwerer, mir zum Glück zu verhelfen, als wenn ich darauf poche, dass er es tut.

Das normale Beziehungsgefüge ist von Erwartungen durchsetzt. Ob bewusst oder unbewusst, fast jeder hat Erwartungen, wie der jeweils Andere sich verhalten sollte. Damit weist man dem Anderen eine Rolle zu.

Was beim Bäcker funktioniert, die Zuweisung und Übernahme von Rollen, wird bei komplexen Beziehungen zum Problem. Das hat Gründe: Beim Bäcker sind die Rollen klar definiert und bewusst akzeptiert. In komplexen Beziehungen ist das anders.

Verdeckte Rollenzuweisungen werden zum Ausdruck fehlplatzierter Beziehungs­asymmetrien, wenn versucht wird, sie gegen den Widerstand des Anderen durchzusetzen. Vor allem in Beziehungen, deren Wesen eigentlich symmetrisch ist, schafft das Probleme: Wenn du ohne mein Einverständnis Tarzan spielen willst, schneide ich dir die Liane ab.

4. Beziehung und Persönlichkeit

Persönlichkeitsvarianten sind auch an spezifische Mustern ihres Beziehungsverhaltens erkennbar. Markante Eckpunkte sind dabei...

  1. ihr Umgang mit Nähe und Distanz.
  2. ihre Neigung, symmetrische oder dominant bzw. regressiv asymmetrische Beziehungen einzugehen.

Manche Persönlichkeitsvarianten haben eindeutige Vorlieben, bei anderen ist das Muster uneinheitlich. Folgende Tabelle gibt einen Überblick.

Persönlichkeitsvariante und Beziehung

Variante Symme­trie Nähe / Distanz
Ängstlich-vermei­dende Persön­ichkeit regressiv Nähe
Abhängige Persön­lichkeit regressiv Nähe
Narziss­tische Persön­lichkeit dominant Distanz, toleriert Nähe, wenn er bestätigt wird
Emotional-instabile Persön­lichkeit unein­heitlich totale Nähe oder totale Distanz
Histrio­nische Persön­lichkeit unein­heitlich Nähe
Zwang­hafte Persön­lichkeit uneinheitlich uneinheitlich
Dysthymie / Depressive Persön­lichkeit regressiv Nähe
Passiv-aggres­sive Persön­lichkeit vorgeblich regressiv äußerlich Nähe, innerlich Distanz
Dissoziale Persön­lichkeit dominant innerlich Distanz, äußerlich oppor­tunistisch
Multiple Persön­lichkeit unein­heitlich je nach Rolle
Paranoide Persön­lichkeit unein­heitlich miss­trauische Distanz
Schizoide Persön­lichkeit neutral vor­sichtige Distanz
Schizotype Persön­lichkeit neutral befremd­liche Distanz

5. Klärungen

Der erste Schritt zur Klärung von Beziehungsproblemen ist die verbesserte Wahrneh­mung. Zwei Dinge gilt es wahrzunehmen: sich selbst und den Anderen. Die Mittel dazu sind...

Der zweite Schritt zur Klärung von Beziehungsproblemen ist die Bereitschaft, den Anderen über sich selbst bestimmen zu lassen.

Der dritte Schritt liegt im Mut, sich verbindlich aber nachhaltig gegen mögliche Übergriffe des Anderen abzugrenzen.

5.1. Selbstwahrnehmung

Je mehr Selbstbewusstsein ich habe, je mehr ich mir also dessen bewusst bin, was mich ausmacht und mit welchen Wünschen, Gefühlen, Ansprüchen und Erwartungen ich an mein Gegenüber herantrete, desto weniger wird mein Verhalten von Motiven gesteuert, die ich selbst nicht verstehe.

Selbstwahrnehmung setzt die Ausrichtung der Achtsamkeit auf innerseelische Ereignisse voraus. Grundbedingung klarer Sichtverhältnisse ist eine bedingungslos akzeptierende Einstellung sich selbst gegenüber. Man sieht nur, was man nicht verändern will. Will man etwas verändern, hat man statt der Wirklichkeit das Resultat im Auge, das man anstrebt. Eine akzeptierende Einstellung heißt dabei nicht, dass man jeden Impuls, bloß weil er aufkommt, umsetzt. Bedingungslos akzeptierend heißt, Impulse, Gedanken und Gefühle keiner moralischen oder weltanschaulichen Zensur zu unterziehen. Uneingeschränkte Erkenntnis setzt voraus, dass nichts, was erkannt werden könnte, durch ein Tabu verdunkelt wird.

Verstand ist die Fähigkeit, den Standpunkt zu wechseln, von dem aus man die Welt betrachtet.

Spiegel

Gewiss: Der andere ist auch ein Spiegel, an dessen Verhalten ich etwas über mich ablesen kann. Ein anderer ist aber kaum je ein so unparteiischer Spiegel, wie der, der in der Garderobe hängt. Was der andere mir "spiegelt" bin nicht immer ich. Oft ist es er.


Meist ein guter Rat

Lassen Sie den anderen über sich selbst entscheiden.

Ein tragfähiges Selbstbewusstsein kommt nicht durch vereinzelte Akte der Selbst­wahrnehmung zustande. In jedem Jetzt tauchen Aspekte des Selbst in der Lichtung des Bewusstseins auf. Erst wenn viele Aspekte erkannt sind, entsteht ein klares Bild von dem, was meine Person und den inneren Raum jenseits von ihr ausmacht.

5.2. Beachtung des Anderen

Während man sich selbst erkennt, indem man nach innen schaut, gibt es drei Mittel zur Erkenntnis des Anderen:

  1. Wahrnehmen, was der Andere tatsächlich tut

    Auch hier gilt: Man sieht nur, was man nicht zu verändern versucht. Je mehr man danach trachtet, das Verhalten eines anderen zu beeinflussen, desto weniger kann man an dem, was er tut, erkennen, welchen Impulsen er tatsächlich folgt.

  2. Hören, was der Andere über sich sagt

    Zum Zuhören wiederum gehört zweierlei:

    • Die Sichtweise des anderen nicht verändern zu wollen, sondern bereit zu sein, sich in seine Lage zu versetzen, um ihn besser zu verstehen.
    • Erkennen, was man nicht versteht und Fragen stellen, um das Ungeklärte aufzuklären.
  3. Hören, was Dritte über den Anderen sagen

    In der Regel verhält man sich verschiedenen Bezugspersonen gegenüber unter­schiedlich. Um den Anderen besser zu verstehen, kann es nützlich sein, zu wissen, wie er sich Dritten gegenüber verhält. Dabei ist zu bedenken, dass die Sichtweise eines Dritten von dessen persönlichen Bewertungen verzerrt sein kann.

Es gibt keine echte Verbundenheit jenseits der Freiheit. Menschen, die sich nicht frei lassen, sind nicht miteinander verbunden. Sie sind ineinander verschränkt.
5.3. Bindung und Freiheit

Kein Vorurteil scheint fester verankert zu sein als der Glaube, Beziehung sei Vereinnahmung des Anderen für eigene Zwecke. Das ist doch nicht zu viel erwartet... ist eine Idee, die sich in vielen Köpfen festkrallt, wie Flechten auf Findlingen in Lappland. Dementsprechend sind normale Beziehungen vom offenen oder verdeckten Versuch durchsetzt, das Verhalten des jeweils anderen von außen zu steuern. Echte Verbundenheit kommt dadurch nicht zustande. Stattdessen entwickeln sich ambivalente Verklammerungen, die durch Abhängigkeiten verschweißt sind, die eine unbefangene Hingabe an die Zugehörigkeit aber verhindern, weil ein latentes Misstrauen die Partner in vorsichtiger Distanz hält.

Umso wichtiger ist es, die Entscheidungen des Anderen ohne Widerstand zu akzeptieren. Es gilt, nicht die Freiheit des Anderen einzuschränken, sondern die eigene zu bewahren und auszuweiten.