Je tiefer das Selbstbild im Selbst verankert ist, desto weniger zweifelt die Person an ihrem Wert; und desto weniger befasst sie sich mit der Frage, wie sie ihn steigern könnte. Den eigenen Wert zu steigern, ist ein Bedürfnis, das oberflächlich bleibt.
Die griechische Mythologie berichtet vom Jüngling Narziss. Als Narziss sein Spiegelbild im Wasser eines Teiches sah, fand er es so schön, dass er sich in das Bild verliebte. Beim Versuch, sich dem geliebten Bild zu nähern, stürzte er ins Wasser und ertrank.
Die Psychoanalyse hat gezeigt, dass die Selbstwertregulation eine große Rolle im Gefüge der seelischen Dynamik spielt. Sind die Grundbedürfnisse erfüllt, hat das meiste, was der Mensch tut, auch etwas mit Aufbau und Sicherung seines Selbstwertgefühls zu tun.
Gewiss: Steffen interessiert sich inhaltlich für die Erforschung der Kometen. Dass er der entsprechenden Fachgruppe beim Verein der Sternenfreunde aber erklären kann, wie man das Perihel (griechisch: peri [περι] = um herum und Helios [Ηελιος] = Sonne) von C/2013 US10 Catalina berechnet, empfindet er keineswegs als Schande.
Nur aus dem Gefühl eigenen Wertseins heraus, ist der Mensch in der Lage, seine Interessen unbefangen und nachhaltig zu vertreten. Deshalb interessiert ihn die Frage, wie er seinen Wert sicherstellen kann. Angeregt durch die griechische Mythologie hat die Psychologie das Interesse des Einzelnen am eigenen Wert als Narzissmus bezeichnet.
Das Interesse am Selbstwert hat soziale und psychologische Funktionen.
Innerhalb der menschlichen Gemeinschaft hat man Vorteile, wenn man als wertvoll angesehen wird. Wer als wertvoll gilt, erntet Anerkennung und Zuwendung. Menschen sind bereit, die Interessen dessen, den sie für wertvoll halten, tatkräftig zu fördern. Man macht ihm Platz und gesteht ihm Rechte zu, die man anderen verweigern würde. Denn: Was Jupiter erlaubt ist, ist Ochsen verboten. Dafür zu sorgen, dass man als wertvoll gilt, ist daher eine nützliche Strategie zur Sicherung des Überlebens; egal ob man einen wirklichen Wert verkörpert oder ob man einen vermeintlichen simuliert.
Bislang gehört es allerdings zur Tragik der Menschenwelt, dass der eigentliche Wert des Einzelnen oft verkannt wird und man einen vermeintlichen vorschützen muss, um Ausgrenzung zu vermeiden.
Schmackhafte Nebenwirkungen
Das Streben nach Steigerung des Selbstwerts spielt eine wichtige Rolle; sowohl bei der Entwicklung persönlicher Fähigkeiten als auch in der menschlichen Evolution. Um etwas zu erlernen, bedarf es oft der Mühe. Wer etwas kann, wird aber meist mit größerem Respekt behandelt als der, der nichts kann. Das Bestreben, sich diesen Respekt zu verschaffen, war eine wichtige Triebkraft. Gemeinsam mit der Neugier auf die Wirklichkeit, hat sie den Menschen vom Affenbrotbaum zur Raumstation befördert, was uns zur Teflonpfanne verhalf.
Apropos Teflonpfanne
Wussten Sie, dass man persischen Reis mit Kruste (Tahdig [ثه ديگ]) auch ohne speziellen Reiskocher problemlos in der Teflonpfanne machen kann? Reis rein, Wasser rein, Salz rein, Deckel drauf. Immer mal wieder kucken. Der Reis ist fertig, wenn sich der Reiskuchen vom Boden löst. Je nachdem, wie dunkel man ihn haben will, kann man ihn etwas länger auf dem Feuer lassen.
Im normalen Funktionszustand des Bewusstseins deutet sich der Mensch als eine vom Umfeld abgegrenzte Person. Als solche steht der Einzelne als egozentrische Einheit einer übermächtigen Wirklichkeit gegenüber, von der er glaubt, dass sie ihn über kurz oder lang beseitigen wird. Aus dem Wissen um das grundsätzliche Ausgeliefertsein an die Übermacht der Wirklichkeit entsteht Existenzangst.
Da der Wesenskern des Menschen zeitlos ist, kann er die Aussicht auf eine zukünftige Vernichtung nicht akzeptieren. Um seiner Angst Herr zu werden, benutzt der egozentrische Mensch verschiedene Abwehrmechanismen. Der bekannteste davon ist die Verdrängung. Man verdrängt die Angst vor dem Tod oder die Existenz zweifelhafter Eigenschaften, die das Existenzrecht infrage stellen könnten.
Eine weitere Möglichkeit zur Abwehr der Lebensangst ist das Bemühen um die Steigerung des Eigenwerts; denn der Mensch kann und will nicht glauben, dass etwas wirklich Wertvolles tatsächlich vernichtet werden wird.
Pathologischer, also Leid erzeugender Narzissmus, hat etwas mit dem Bild zu tun, von dem sich bereits der Jüngling Narziss verführen ließ. Im Gegensatz zur Wirklichkeit, sind Bilder erdachte Konstruktionen oder substanzlose Reflexe im Spiegel. Es fehlt ihnen jener Realitätsgehalt, der etwas wirklich Wertvollem inneliegen muss, um glaubhaft wertvoll zu sein.
Darin liegt das Problem dessen, der sich einem glanzvollen Selbstbild verschreibt, um der Angst vor der Vernichtung des Wertlosen zu entkommen. Beim Bestreben, sich dem Bild zu nähern, blickt der narzisstische Mensch nicht auf sich selbst, sondern auf das substanzlose Bild, dem er zu gleichen versucht. Je mehr er sich aber mit dem Bild gleichsetzt, desto mehr wird die Angst, vor der er flieht, durch die Substanzlosigkeit des Bildes geschürt.
Narzisstische Themen
Als narzisstische Persönlichkeiten gelten Menschen, bei denen das Bemühen um den Eigenwert mehr Raum einnimmt als beim Durchschnitt. Ein narzisstischer Mensch neigt dazu, seine Qualitäten zu betonen. Je nachdem, wie er seine Qualitäten einschätzt, führt sein narzisstisches Interesse zu verschiedenen Verhaltensmustern:
Neigt er dazu, seinen Eigenwert im Vergleich zu anderen als deutlich überlegen einzuschätzen, kann das dazu führen, dass er sich nicht um den Erwerb neuer Fähigkeiten bemüht, sondern sich aus seiner selbstverliebten Vorstellungswelt heraus damit begnügt, sich anderen gegenüber abwertend oder gönnerhaft zu verhalten.
Zweifelt er daran, dass die Überdurchschnittlichkeit seines Eigenwerts bereits gesichert ist, bemüht er sich, womöglich mit Elan, um den Erwerb neuer Fähigkeiten, Qualitäten oder Kompetenzen.
Nicht jeder, dem der Zweifel am eigenen Wert zu schaffen macht, wählt manifest narzisstische Muster, um sich vor dem Zweifel zu retten. Daher spricht die Psychologie von progressivem und von regressivem Narzissmus.
Der progressiv narzisstische Mensch ist jener, von dem eben die Rede war. Er versucht, in den Augen aller, und vor allem in den Augen seiner selbst, als eine Person zu erscheinen, deren Wert den anderer Personen überragt. Gegenüber Abwertungen ist er empfindlich. Entweder reagiert er verärgert, wenn das Umfeld seinen Anspruch auf besondere Wertschätzung nicht erfüllt, oder er hält das Gleichgewicht, indem er den anderen die Fähigkeit abspricht, seinen Wert überhaupt zu erkennen.
Eine begnadete Narzisstin
Schon mehrfach hat Marlene erlebt, wie sich Leute von ihr abwandten. Das ist aber kein Anlass darüber nachzudenken, was sie dazu beiträgt, dass andere den Umgang mit ihr als unerfreulich empfinden. Die passende Erklärung des Phänomens liegt stets parat: Wer nicht erkennt, wie gut es ihm tut, Marlenes Tugenden aus der Nähe zu genießen, ist im besten Falle ein Dummkopf, der sich in unsinnige Vorstellungen verrannt hat. Im schlimmsten Fall, und der kommt leider oft vor, ist er missgünstig und will es Marlene nicht gönnen, ihrem Wesen gemäß über dem Rest der Menschheit zu stehen.
Wenn der progressiv narzisstische Mensch um seine Schwäche weiß, nämlich hungrig nach Lob und Anerkennung durch andere zu sein, und sich das nicht übel nimmt, kann er ein charmanter Zeitgenosse sein, der das Umfeld durch spritzige Lebendigkeit dafür entschädigt, dass er es für unterlegen hält.
Fehlen dem progressiven Narzissten Humor und Selbsterkenntnis, empfindet ihn sein Umfeld oft als arrogant. Aus der Angst heraus, abgewertet zu werden, wertet er selbst andere ab; zuweilen in grob verletzender Weise. Dadurch kann im nächsten Schritt eine Eskalation wechselseitiger Abwertungen ausgelöst werden, die den Narzissten erst recht dazu anstachelt, sich über andere zu stellen.
Zwei Spielarten des progressiven Narzissmus
Respektierend | Abwertend |
Wertet andere nicht ab, sondern verführt sie, ihn selbst als etwas besonders Wertvolles zu betrachten. | Setzt andere durch unmittelbar entwertende Botschaften herab. |
Muster: Der Gewinn des Bewundert-werdens ist umso größer, je wertvoller die Bewunderer ihrerseits sind. |
Muster: Mein Wert tritt erst recht hervor, wenn der Unwert anderer betont wird. |
Erkennt narzisstische Bedürftigkeit als eigene Schwäche... und gönnt sie sich. |
Kann sich selbst keine Schwäche eingestehen. Verleugnet daher seine eigene Bedürftigkeit. |
Motto: Ich bin der Beste von lauter Guten. |
Motto: Ich bin der einzig Gute unter lauter Schlechten. |
Narzisstische Bedürftigkeit besteht im Bedürfnis, den eigenen Wert durch Selbstlob oder Anerkennung durch andere bestätigt zu sehen. Ein Mensch ohne narzisstische Bedürftigkeit ist so mit dem Wert des Menschen an sich identifiziert, dass sich die Bestätigung dieses Wertes ebenso erübrigt, wie die Bestätigung der Tatsache, dass er zwei Ohren hat.
Regressiv narzisstische Menschen sind oft im Umfeld der progressiven anzutreffen. Dort spielen sie die Rolle der Bewunderer. Auch den regressiven Menschen treibt insgeheim die Sehnsucht, so schön wie Narziss zu sein, sodass sich niemand der Faszination des Bildes entziehen könnte.
Im Gegensatz zum progressiven, der die Courage hat, die glanzvolle Position auf eigene Faust in Anspruch zu nehmen, fehlt es dem regressiven Narzissten am Glauben, dass er gegen die Konkurrenz des progressiven bestehen könnte. Indem er ihn bewundert und sich in seinem Glanz zu bewegen versucht, macht er den progressiven Narzissten zu seinem Stellvertreter.
Gehen ein progressiv und ein regressiv narzisstischer Mensch eine Partnerschaft ein, spricht man von einer narzisstischen Partnerkollusion (lateinisch co-ludere = zusammenspielen). Solche Kollusionen können so stabil sein wie die Bindung von Elektron und Proton.
Grundsätzlich gilt: Das narzisstische Interesse überbewertet die oberflächliche Ebene des Individuums, also die Person; was dem Umstand zu verdanken ist, dass die Wertfrage den Hauptstrahl ihrer Durchschlagskraft aus der dualistischen Deutung eines polaren Gegensatzes zwischen Ich und Nicht-Ich bezieht. Dort stellt das narzisstische Interesse Vergleiche an. Dort entsteht es aus Angst und Neid. Von dort aus will es sich über die Ebene erheben.
Obwohl Narzissmus grundsätzlich Oberflächen vergleicht, können die oberflächlichen Ebenen in Grade unterschiedlicher Oberflächlichkeit unterteilt werden.
Erst wenn die Evolution es geschafft hat, Wesen hervorzubringen, die ohne aktives Bemühen um die Schönheit ihres Leibes auf Dauer schön sind, kann sie guten Gewissens auf einen Narzissmus verzichten, der sich um die oberflächlichste Ebene aller Ebenen bemüht. In diesem Sinne ist das narzisstische Interesse am eigenen Körper als Provisorium anzusehen, dessen eine Schöpfung bedarf, die bislang bloß Zwischenresultate hervorgebracht hat.
Eine Sonderform des pathologischen Narzissmus ist der Rassismus. Der Rassist versucht seine Selbstwertzweifel durch die Behauptung beizulegen, typische Körpermerkmale der ethnischen Gruppe, zu der er sich zählt, seien Beleg eines höheren Wertes. Indem er sich damit selbst herabsetzt, vertieft er sein Problem, statt es zu beheben.
Unterhalb der Ebene des Körpers kommt der Intellekt. Der kluge Narzisst ist so klug, sein Bemühen um die Steigerung des Eigenwerts nicht ausgerechnet auf einer Ebene anzusiedeln, auf der es eigentlich immer nur bergab gehen kann; abgesehen von den kaum je nachhaltigen Erfolgen des Muskelaufbaus, der Faltenreduktion, der Lifting-Op's und Botulinuminjektionen. Der kluge Narzisst befasst sich daher mit seiner intellektuellen Überlegenheit. Diese kann man im Laufe des Lebens tatsächlich steigern; zumindest bis auch das Hirn beginnt, sich dem Sinkflug aller Körperlichkeit anzuschließen. Aber auch für den klügsten Narzissten gilt: Intelligenz ohne Weisheit ist Dummheit.
Tiefer als der Intellekt, also die Fähigkeit, viel zu wissen und scharf zu denken, liegt die integrative Ebene des Charakters. Auch diesbezüglich kann man narzisstisch sein; indem man sich darum bemüht, ungeachtet dessen, was man tatsächlich fühlt, generell als vorbildlich guter Mensch zu gelten.
Vom Geben und Nehmen
Von Eltern und Kindern
Es hat schon viele Eltern gegeben, die nicht verstehen konnten, warum ihre Kinder auf die schiefe Bahn gerieten, obwohl sie selbst so gut gewesen sind.
Nicht dass das Bemühen um menschliche Güte keine Tugend wäre, es wird aber zu einem Laster, wenn dem Tugendhaften die eigene Tugend so sehr gefällt, dass er bedenkliche Folgen ihrer vordergründigen Präsenz ignoriert und Zweiflern an der Unbedenklichkeit seiner Tugend jede Tugend abspricht, sobald sie Zweifel äußern.
Was man sieht, ist eine Frage der Brennweite. Der eine schaut dahin, der andere dorthin. Je nachdem, wohin man blickt, kann man unterschiedliche Folgen seiner Taten erkennen.
Sommermärchen oder Wirklichkeit
Deutschland war so vom Bild seiner Schönheit begeistert, dass es beim Versuch, sich selbst zu lieben, kopfüber in gesellschaftliche Konflikte sprang.
Der moralische Narzisst schmückt sich mit allem, was so aussieht, als sei es menschenfreundlich. Manchmal fehlt ihm aber nur der Mut, sich anzunehmen, wie er wirklich ist oder um die Brennweite seiner Weitsicht so einzustellen, dass er erkennt, wie teuer ihn selbst oder andere das Gutsein, das er heute betreibt, später womöglich zu stehen kommt.
Sollten Sie daran Interesse haben, dabei vorne mitzumischen, dann schrecken Sie auf keinen Fall davor zurück, ungeachtet etwaiger Einwände Ihrer Vernunft, größere Wohltaten für faktisch und vorgeblich Leidende zu fordern, als die Konkurrenz es tut. Unterstellen Sie jedem, der Bedenken an Ihrem Realitätssinn äußert, dass er heimlich mit der niedrigsten aller Gesinnungen sympathisiert.
Echte Menschenfreundlichkeit ist daran erkennbar, dass der wahrhafte Menschenfreund sich auch seinen Kritikern gegenüber freundlich verhält. Reagiert er empört auf Kritik, entsteht der Verdacht, dass er zumindest kein Freund von Kritikern ist.
Die Psyche des Menschen treibt merkwürdige Blüten. Eine davon könnte man man als paradoxen Narzissmus bezeichnen. Exemplarisch ist die Dynamik, die dazu führt, bei der Bipolaren Störung zu erkennen. Bei dieser Erkrankung schwankt die Stimmung des Patienten zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Aber nicht nur die Stimmung schwankt, sondern auch das Selbstwertgefühl und man kann sich fragen, ob beides nicht kausal miteinander verwoben ist.
Während der manisch gestimmte Mensch keine Probleme hat, sich für großartig, allseits überlegen oder gar Gott persönlich zu halten, beschreibt er sich in der depressiven Phase ganz anders. Dann ist er der größte Versager überhaupt, eine missratene Kreatur ohne jeden Wert, der Träger unfassbarer Schuld, die ihn wie Blei auf die tiefste aller Stufen drückt.
Diesem Selbstbild ist der Superlativ des Schlechten zugeschrieben... und egal wovon der Superlativ beansprucht wird, durch das Super, von dem er spricht, katapultiert er das damit Beschriebene aufs herausragende Siegertreppchen der jeweiligen Disziplin: auch den Unwert. Die These sei daher gewagt: Der Nichtigkeitswahn ist wie der maniforme Höhenflug das Echo einer narzisstischen Störung, allerdings paradoxer Art.
Die Frage nach dem Selbstwert ist ursprünglich eine Frage nach dem eigenen Wert. So besagt es der Begriff. Da der Mensch seine Identität aber in der Regel übersieht und sich stattdessen in Bildern sucht, überträgt er die Wertfrage auf alles, womit er sich identifiziert; zum einen um zu überprüfen, ob seine Identifikationen von Vorteil sind, zum anderen, um sich durch Identifikationen gezielt zu erhöhen. Daraus ergibt sich ein Wechselspiel aus Identifikation und Idealisierung.
Wer er selbst ist, enthält das Universum, wer nicht, geht darin verloren. Zum einen identifiziert sich der Verlorene mit etwas Größerem, das er für wertvoll hält, zum anderen neigt er dazu, das, womit er sich identifiziert, zu idealisieren, damit der Gewinn an absorbiertem Wertempfinden möglichst groß ausfällt. Identifikationsobjekte im Großen sind Nationalitäten, politische Utopien und Glaubensgemeinschaften. Im Kleinen mögen es Fußballvereine, Parteien oder Subkulturen sein.
Da jede Identifikation am Wahren vorbeigeht, hat die entsprechende Strategie der Selbstwertpflege Schwächen: Einerseits weil sie abhängig bleibt und schwankt, sobald das Identifikationsobjekt Risse bekommt, andererseits weil die Kehrseite jeder Idealisierung Abwertung ist.
Zur Lage der Nation
Wenn ein Deutscher sich explizit als deutsch auffasst, gerät sein Selbstwertgefühl in Turbulenzen. Das hat historische Gründe. In den letzten 200 Jahren fuhr der Wert, den Deutsche dem Deutschtum beimaßen, Achterbahn.
Während die Brudervölker die Welt besetzten, duckte sich der deutsche Michel unter seine Obrigkeit und sah dem globalen Raubzug Europas tatenlos zu, bis von der Beute in Übersee nur noch der Bismarck-Archipel und ein paar Landstriche in Afrika übrigblieben.
Endlich zur Nation vereint, hieß es dann Hurra bis das nationale Wertgefühl nach dem ersten großen Krieg darniederlag und sich durch's Weimarer Elend schleppte.
Mit dem Dritten Reich kam der Versuch, den nationalen Unwert durch Barbarei ins Gegenteil zu wenden. Die Grässlichkeit seiner Verirrung und sein Zusammenbruch mündeten im Abgrund.
Heute ist das Wertgefühl, das auf der nationalen Identität beruht, gespalten. Seine helle Seite glaubt, nur solange Oberwasser zu behalten, wie sie sich täglich von der dunklen lossagt. Eine Funktion der ständigen Fokussierung des Bösen mag politische Bildung sein. Der tausendfach wiederholte Fingerzeig auf die Verirrung des Nationalsozialismus hat für die, die mit dem Finger zeigen, jedoch eine psychologische Funktion. Je anklagender sie auf das Dunkle zeigen, desto eher glauben sie, auf sicherer Distanz im Hellen zu sein. Die rituelle Lossagung von der dunklen Seite scheint ein wesentlicher Teil von dem zu sein, was die helle an Wert für sich zu reklamieren weiß.
Grundlage der deutschen Methode, um als gut zu gelten, sind Spaltung und Projektion. Zeitgleich mit Deutschlands Bereitschaft, die gesamte Schuld am Desaster auf sich zu nehmen, spaltet das gute Deutschland alle Verantwortung von sich ab und schreibt sie dem bösen zu. Je lauter es ruft Alle Schuld liegt bei uns, desto mehr meint es: Ich war's aber nicht. Es waren die anderen.
Tatsächlich aufarbeiten kann ein Land seine Geschichte nur, wenn es Gut und Böse nicht in zwei getrennte Lager spaltet, sondern zur historischen Dynamik steht, in die beide verstrickt sind. Den Mut, zu seiner Geschichte zu stehen ohne sich selbst zu verleugnen, wird Deutschland wohl niemals finden. Es genügt ihm, sich durch ein Mea maxima culpa und Bußgeld freizukaufen.
Denkbar ist, dass dem deutschen Umgang mit seiner nationalen Schuld eine paradox narzisstische Komponente inneliegt. Wenn Deutschland schon nicht über allem steht, wie es das Deutschlandlied verheißt, dann immerhin die deutsche Schuld, die mit dem Anspruch des Liedes verbunden ist. Wagt jemand, die deutsche Schuld mit der anderer zu vergleichen, reagieren viele Deutsche empört. Zu vermuten ist, dass das Empor der Empörung nicht nur der Sorge vor einer Wiederholung der Untaten entspringt, sondern auch Motiven, von denen die Empörten nichts wissen.
Narzissmus ist ein wesentlicher Faktor im Kräftespiel der Seele. Im Grundsatz ist er keineswegs pathologisch. Erst die einseitige Betonung des Strebens nach Anerkennung und Eigenwert schafft Leid. Dieses Leid wird dadurch verursacht, dass sich der narzisstische Mensch nicht sich selbst zuwendet, sondern dem Bild, dem er gleichen will. Durch den Blick zum Bild entzieht er dem Selbst die Zuwendung seiner Achtsamkeit, was zu einem verstärkten Bedürfnis nach Bestätigung führt, mit dem er sich dann ans Umfeld wendet. So macht sich der Narzisst abhängig, was sein Selbstwertgefühl weiter untergräbt. Bestätigung von außen oder Überlegenheit im abwertenden Vergleich werden zu einer Droge, die kurzfristig Symptome bekämpft, die die Ursache der Symptome aber nicht behebt.
Die Heilung des pathologischen Narzissmus gelingt, wenn der Betroffene zwischen Bild und Wirklichkeit zu unterscheiden lernt; und durch die Unterscheidung erkennt, dass seiner Wirklichkeit bereits mehr Wert inneliegt, als er je durch ihre Angleichung an sein Bild erreichen könnte. Der Weg zur Heilung heißt vertiefte Selbsterkenntnis. Nichts von dem, was verglichen werden könnte, sind Sie selbst.