Kreislauf der Neurose
Kinder brauchen Bestätigung. Wer sie als Kind nicht bekommt, sucht noch als Erwachsener danach. Erwachsene, die selbst nach Bestätigung suchen, geben ihren Kindern nicht genug davon. Wer den Kreislauf nicht verlässt, setzt ihn fort.Millionen Kinder leben bei manifest seelisch kranken Eltern; oder bei solchen, die so in ihre eigenen Probleme verstrickt sind, dass sie ihre Elternrolle nur ungenügend erfüllen können. Das ist eine Belastung, die es Kindern erschwert, ihren Platz im Leben zu finden. Die psychische Erkrankung der Eltern kann dazu führen, dass sie ihren Kindern weder die Geborgenheit noch den Freiraum bieten, die deren Reifung begünstigt.
Erstaunlich
Selbst für einfache Tätigkeiten braucht man drei Jahre Ausbildung, bis man befugt ist, sie auszuführen. Bei der Erziehung von Kindern ist das anders. Kaum hat die Mutter entbunden, wird das Paar mit einem hilflosen Balg nach Hause geschickt. Wie leicht fände man zehn nutzlose Pflichten, die man gegen die, einen Elternkurs zu besuchen, ersetzen könnte.
Studien zeigen, dass das seelische Gleichgewicht von Kindern, die bei psychisch kranken Eltern aufwachsen, durch verschiedene Faktoren gefährdet ist (z.B. Wiegand-Grefe: CHIMPs [Children of mentally ill parents]). Besonders riskant sind:
Kinder mit geringem Selbstwertgefühl sowie geringen sozialen und intellektuellen Fähigkeiten sind besonders betroffen. Dabei ist klar, dass ein geringes Selbstwertgefühl nicht nur ein Risikofaktor für Spätfolgen durch problematisches Elternverhalten, sondern seinerseits eine frühe Folge desselben Verhaltens ist. Entwertende Erziehungsbotschaften untergraben das Selbstwertgefühl. Kinder mit angeschlagenem Selbstwertgefühl haben es schwer, sich unbefangen in Gemeinschaften einzugliedern. Im Gefolge der gestörten Einbindung entstehen weitere psychische Probleme, die das Selbstwertgefühl weiter schwächen. Ein Teufelskreis entsteht. Neben den allgemeinen Risikofaktoren, sind je nach Diagnose spezielle Gefährdungen zu bedenken.
Schwangerschaft und Wochenbett bringen tiefgreifende Veränderungen ins Leben der Frau. Daher sind sie Risikofaktoren für Psychosen und Depressionen.
Während die leibliche Gefährdung des Kindes durch problematisches Verhalten werdender Mütter, zum Beispiel Suchtmittelkonsum, Fehlernährung, Abtreibungs- bzw. Selbstmordversuche, offensichtlich ist, ist die seelische nur schwer zu erforschen. Wenn aber auch nach der Geburt eine Depression oder Psychose besteht, ist klar, dass sich die Mutter ihrem Kind nicht unbeschwert zuwenden kann. Das Risiko des Kindes, eine sogenannte Frühe Störung zu erleiden, ist erhöht.
Frühe Störung
Unter einer Frühen Störung versteht man die Beeinträchtigung der seelischen Entwicklung durch traumatische Erfahrungen im ersten Lebensjahr. Man geht davon aus, dass die Psyche in dieser Zeit besonders störanfällig ist.
Viele Autoren beschreiben Verbindungen zwischen frühen Störungen und der Entwicklung von akzentuierten Persönlichkeiten, vor allem solchen vom Borderline-Typ (z.B. Otto Kernberg, Heinz Kohut, Edith Jacobsen, Christa Rohde-Dachser, Bela Grunberger).
Unbedacht oder aus Unkenntnis wird über Wochenbetterkrankungen im Nachhinein oft so gesprochen, als sei das Kind an der Erkrankung der Mutter schuld. Stehen solche Vermutungen im Raum, kann das für die seelische Entwicklung des Kindes eine schwere Belastung sein.
Zu den affektiven Störungen gehören Depressionen und Manien sowie die Bipolare Erkrankung. Ist ein Elternteil depressiv, wird ihm das Leben samt seinen Kindern zur Last. Ist es manisch, neigt es dazu, in der Begeisterung für die eigene Größe, die Belange anderer zu übersehen. Affektive Störungen wiederholen sich oft phasenhaft. Mal ist der Betroffene ausgeglichen, mal schwermütig, dann überschwänglich. Für das Kind kommt es zu einem Hin-und-her. Durch das Wechselbad der Gefühle, die das familiäre Klima bestimmen, kann es verunsichert werden.
Dramatisch wird es, wenn Selbstmordversuche oder -drohungen die Angst des Kindes vor Verlust und Schuldgefühlen steigern. Statt dass sich das Kind getrost mit seinen Belangen beschäftigen kann, wird es in eine Verantwortung gerissen, die es überfordert.
Persönlichkeitsstörungen sind unbehandelt oft chronisch. Bei ausgeprägten Störungen sind Kinder daher dauerhaft einem Beziehungsklima ausgesetzt, das ihre Sicht auf die Realität verzerrt. Außerdem werden sie in die Thematik der elterlichen Störung einbezogen, was zu innerseelischen und/oder zwischenmenschlichen Spannungen führt.
Abhängige Persönlichkeiten erwarten von ihren Kindern Schutz, Geborgenheit und verfrühte Entscheidungskraft. Es besteht Gefahr, dass sie ihre Kinder parentifizieren. Oder die Kinder lernen am Modell ihrer Eltern, dass man eigene Interessen nicht tatkräftig vertritt, sondern darauf wartet, dass andere das machen.
Narzisstische Persönlichkeiten erwarten von ihren Kindern Bewunderung für sich selbst oder Leistungen, die das Selbstwertgefühl der Eltern stärken. Die Kinder werden dazu angehalten, nicht die eigenen, sondern die Ziele ihrer Eltern zu erreichen. Erbringen sie tatsächlich anerkennenswerte Leistungen, kann es sein, dass die Messlatte der Eltern so hoch hängt, dass deren Anerkennung ausbleibt, oder dass der elterliche Hunger nach Anerkennung die Eltern dazu verführt, die kindlichen Leistungen für sich selbst zu verbuchen.
Ängstlich-vermeidende Eltern flößen ihren Kindern die Vorstellung ein, dass die Welt bloß aus Gefahren besteht und man am besten beisammenbleibt, um sich gegenseitig zu beschützen. Der Impuls des Kindes, die Welt auf eigene Faust zu entdecken, wird entmutigt. Stattdessen wird von ihm erwartet, Lebensangst und Neid der Eltern abzumindern, indem es jedes eigene Risiko vermeidet, das sein Leben um Inhalte erweitern könnte, nach denen seine Eltern nicht zu greifen wagen.
Zwanghafte Eltern beengen ihre Kinder durch übertriebene Forderungen nach Ordnung und Sauberkeit. Vom Kind wird die Anpassung an ein vermeintlich einzig richtiges Verhaltensmuster verlangt. Es kann sich nicht mehr schuldfrei ausprobieren. Oder es rebelliert gegen den Zwang und flüchtet mutwillig ins Chaos. Dort riskiert es, sich zu verheddern, ohne von innen heraus Strukturen zu entwickeln, die seiner Persönlichkeit entsprechen.
Schizoide Persönlichkeiten impfen ihre Kinder mit dem Gefühl, dass ihre Nähe lästig ist. Später kann es sein, dass sie entweder kritiklos Nähe suchen oder jeder Nähe von sich aus aus dem Wege gehen, um dem Erleben erneuter Kälte vorzubeugen.
Depressive Eltern geben ihren Kindern ein problematisches Beispiel. Sie leben ihnen vor, dass man eigene Bedürfnisse nicht offen vertritt, sondern anderen gegenüber vorauseilend in Vorleistung geht; und leidend darauf wartet, dass freiwilliger Verzicht vom Leben großzügig belohnt wird. Da die Rechnung des depressiven Musters selten aufgeht, führt es meist zu chronischer Unzufriedenheit. Die Schwermut, die unzufriedene Eltern um sich herum verbreiten, kann sich wie ein grauer Schleier über eine ganze Kindheit legen.
Erbringen depressiv-strukturierte Eltern vorauseilend Leistungen für ihre Kinder, erwarten sie von ihnen Dankbarkeit; selbst dann, wenn die Kinder die vorauseilend erbrachten Leistungen weder haben wollten noch brauchen können.
Dank, der als Pflicht zu zollen ist, ohne dass er empfunden werden kann, verbiegt das kindliche Verhalten in ein falsches Rollenspiel. Dank, der verweigert wird, obwohl der Geber hungrig danach lechzt, führt zu Schuldgefühlen.
Histrionische Persönlichkeiten wollen immer im Mittelpunkt stehen. Sie weisen ihren Kindern die Rolle von Statisten zu. Statisten gehören zur Kulisse des Bühnenbilds. Je nach ästhetischer Laune des Regisseurs werden sie hin- und hergeschoben. Da die Launen histrionischer Regisseure im Fallwind sprunghafter Ereignisse schaukeln, weiß das Kind nie, ob der Platz, den es gemäß morgendlicher Absprache einnahm, abends noch ins Bühnenbild passt. Vereinbart waren Pfannkuchen um sechs. Stattdessen gibt es Spiegeleier um halb acht.
Suchterkrankungen der Eltern sind eine schwere Belastung für Kinder. Suchtmittel verengen das Bewusstsein und verfälschen Gefühle. Im Rausch achten suchtkranke Eltern ebenso wenig auf sich selbst wie auf ihr Gegenüber. Sie werden im Verhalten unecht. Sowohl Beschaffung und Konsum der Suchtmittel als auch das Verkraften der Nachwirkungen kosten Zeit und Energie. Da bleibt nur wenig übrig, um sich der Lebendigkeit eines Kindes zu stellen.
In schweren Fällen kommen Klinikaufenthalte hinzu. Jedes Einrücken zur stationären Entgiftung ist für Kinder ein Verlusterlebnis... oder eine Atempause mit bitterem Beigeschmack.
Das Beispiel der Eltern, sich den Lasten des Lebens nicht offenen Auges zu stellen, sondern sich allenthalben dicht zu machen, hat so manches Kind frühzeitig auf den gleichen Weg gebracht.
Die Symptome bei der Generalisierten Angststörung ähneln denen der Ängstlich-vermeidenden Persönlichkeit. Was dort gilt, gilt daher auch hier. Der generell ängstliche Mensch sieht im Leben vor allem Gefahren; denn sein Bedürfnis nach Sicherheit ist unersättlich. Deshalb findet er jederzeit Argumente, die dafür sprechen, etwas zu unterlassen und kaum je solche, die dazu ermuntern, etwas mutig anzugehen. Da aber der gewinnt, der wagt, gehört der, der alles unterlässt, zu den Verlierern.
Bei der Agoraphobie traut sich der Betroffene nicht mehr aus dem Haus oder bloß in Begleitung potenzieller Beschützer. So manches Kind wird für Botengänge eingespannt, für die es nicht zuständig ist oder es hat in einer Lebensphase Schutz zu bieten, in der es ihrer selbst bedarf. Eltern, die ihre sozialphobischen Ängste nicht überwinden, schicken ihre Kinder vor, wenn es mit Fremden etwas zu regeln gibt. All das sind Spielarten der Parentifizierung.
Bei schizophrenen Psychosen und wahnhaften Störungen kommt es darauf an, ob der Kranke seine Krankheit als solche begreift; und sich angemessen behandeln lässt. Verkennt er den trügerischen Charakter von Halluzinationen und Wahnideen, ist seine Erziehungsfähigkeit eingeschränkt oder gar aufgehoben. Oft wird das Jugendamt die Kinder in fremde Obhut geben.
Für Kinder kann es ausgesprochen schwer sein, sich der paranoiden Realitätsverkennung psychotischer Eltern zu entziehen. Das gilt erst recht, wenn kein gesundes Elternteil für Ausgleich sorgt. In manchen Fällen kommt es beim Kind zu einem induzierten Wahn. Unter dem suggestiven Einfluss des kranken Elternteils, teilt das Kind dessen wahnhafte Ideen.
Kinder sind ihren Eltern ausgeliefert. Das führt dazu, dass hinter verschlossenen Türen Dinge geschehen. Als Täter kommen dabei nicht nur Personen infrage, deren seelisches Gleichgewicht klinisch manifest gestört ist; und die daher aus schulmedizinischer Sicht psychiatrisch erkrankt sind. Auch bei denen, die man gemeinhin als psychisch normal betrachtet, sind Übergriffe häufig.
Neben dem sexuellen Missbrauch gibt es tausenderlei Varianten des psychologischen. Dabei funktionalisieren Eltern Kinder für eigene Zwecke. In vielen Fällen sind solche Funktionalisierungen unterschwellig. In anderen sind sie offensichtlich, weil manche Eltern davon ausgehen, dass ihre Kinder sowieso nur dafür da sind. Missbrauch ist ein großes Thema.
Vom Festhalten und Loslassen
Kinder sind nicht nur Kinder, solange sie klein sind. Darüber hinaus ist man solange Kind, wie die Eltern leben. Daraus ergibt sich einiges:
Andere Eltern haben einen unstillbaren Hunger nach Zuwendung. Sie lassen keine Gelegenheit aus, den Kindern Schuldgefühle zu vermitteln, falls sie einen Anruf "zu Hause" vergessen.
Kluge Eltern lassen Kinder gehen, weniger kluge halten sie fest. Kinder, die gehen dürfen, kommen gerne zurück. Kinder, die festgehalten werden, würden am liebsten gehen.
Eine Trennung der Eltern kann für Kinder Fluch oder Segen sein. Zuweilen sind Trennungen beides zugleich. Dann ist schwer zu entscheiden, welche Folge überwiegen wird. Aus Sicht des Kindeswohls können Trennungen in drei Kategorien eingeordnet werden. Es gibt...
Leichtfertig ist eine Trennung, wenn Eltern nur das eigene Glück im Auge behalten und den Partner wechseln, sobald die Beziehung die Hoffnungen nicht mehr erfüllt, die einst in sie gesetzt wurden.
Leichtfertige Trennungen werden von Vätern oder Müttern beschlossen; oder von beiden gemeinsam.
Der Kindsvater, der sich nach genüsslicher Liebesnacht aus dem Staub macht und die Geschwängerte im Stich lässt, ist ein Klassiker familiärer Dramen. Die Häufigkeit derartiger Dramen einzuschränken, ist Zielsetzung und Verdienst der meisten großen Moralsysteme.
Quellen des Unglücks
Das Unglück lediger Mütter und ihrer Kinder wird in der patriarchalischen Kultur nicht nur durch Kindsväter verursacht, die sich ihrer Verantwortung entziehen. Eine zweite Quelle des Unglücks entspringt den Widersprüchen der Moral selbst, die betroffene Mütter und deren Kinder ächtet. Zur Treulosigkeit fahnenflüchtiger Kindsväter kommt so die Treulosigkeit einer unredlichen Moral, die im Eifer für die Ehre oder das eigene Glück im Himmel, unglückliche Töchter auf Erden ins Abseits stößt. Glücklicherweise hat die Moderne tradierte Vorstellungen vielerorts aufgeweicht.Da die Moralsysteme der patriarchalischen Kulturen von Männern ersonnen und durch männliche Sichtweisen geprägt sind, werden treulose Erzeuger zwar durchaus missbilligt, die Schuld am entstandenen Drama wird aber vorwiegend Frauen und deren Verführungskraft angelastet; dabei der Wahrheit gegenüber umso treuloser, je fester die patriarchalische Moral im Sattel sitzt.
Anders gelagert
Selbst vor dem Verlust der sexuellen Unschuld sind Frauen durchaus in der Lage, schuldhafte Strategien anzuwenden, wenn es darum geht, für sich selbst ein vermeintliches Lebensglück zu schmieden. Nach dem Verlust ist es ebenso. Deshalb gehört nicht jeder Kindsvater, der nach einem Schwangerschaftstest das Weite sucht, in den Brennpunkt der Missbilligung.
Manche Frauen kommen während eines Schäferstündchens auf die problemträchtige Idee, eine ungeplante Schwangerschaft werde aus einem Mann, der sich bislang als Liebhaber betrachtet, einen Gatten machen, der lebenslange Freude sicherstellt.
Nebenbei bemerkt: Hätte der Autor dieser Formulierung ein Interesse daran, hier auf die besondere Position des Menschen im Tierreich hinzuweisen, könnte er statt problemträchtig auch unheilschwanger sagen. Er hat es aber nicht.
Ungeplant ist die Schwangerschaft dann nur für den Mann, jedoch nicht für die Frau, die ungefragt über sein Schicksal entscheiden will. Und es kann durchaus zum Schicksal aller Beteiligten werden, dass sich der Mann dazu entscheidet, sich dem Zugriff auf sein Leben zu entziehen. Gatte - das sei hier zusätzlich erwähnt - ist sprachgeschichtlich mit Gitter verwandt.
Dann sind da die Männer, die nach ein paar Jahren mühsamer Vaterschaft an der Seite ihrer Frau dem Alltäglichen entfliehen und ihr Lebensgefühl durch etwas Jüngeres zu steigern trachten. Das Wohl der Kinder wird dabei oft vergessen.
Da sich kein Mann bei genauer Betrachtung als der Beste entpuppt, riskiert manche Frau aus ihrer biologischen Mitgift heraus so lange nach Besserem zu trachten, bis das Gute kaputt ist. Erst wenn sie das Beste nicht mehr darin vermutet, dass er mit ihr in allem übereinstimmt, sondern sie mit sich, wird sie an der richtigen Stelle suchen. All das hindert uns nicht an der Erkenntnis, dass das Gleiche, ein bisschen anders, auch für Männer gilt.
Stimmig ist eine Trennung, wenn das Verhältnis der Eltern zueinander dermaßen zerrüttet ist, dass die Kinder ohne Trennung unter einem Klima ständiger Zwietracht zu leiden hätten. Solche Trennungen sind stimmig, weil sie mit dem Kindeswohl, das bei leichtfertigen Trennung oft übergangen wird, übereinstimmen.
Unter Umständen kann auch eine Trennung stimmig sein, wenn zwischen den Eltern keine Zwietracht herrscht, sondern bloßes Desinteresse, sodass sie ihren Kindern ein Beziehungsmodell vermitteln, in dem echte Bezogenheit gar nicht vorkommt.
Da das anfänglich leidenschaftliche Interesse Verliebter füreinander im Laufe eines alltäglichen Zusammenseins jedoch zurückgeht, ist die stimmige Trennung wegen fehlender Bezogenheit oft nur schwer von einer leichtfertigen zu unterscheiden, die durch unrealistische Ansprüche ausgelöst wird. Generell wird bei Trennungen zu fragen sein, wie viel positive Bezogenheit des Kindes zu dem Elternteil verlorengeht, der das Sorgerecht nicht übernimmt. Eher als Kindern ist es Erwachsenen zuzumuten, auf eine umfassend liebevolle Bezogenheit zu verzichten; zumindest solange, bis die Kinder groß sind.
Überfällig ist eine Trennung, wenn ein Elternteil Kinder missbraucht oder misshandelt und der andere aus eigener Verlustangst den Schaden der Kinder in Kauf nimmt.
Überfällig sind aber auch Trennungen, wenn ein Partner - in der Regel die Frau - Gewalt vonseiten des anderen erleidet. Dann mag zwar die Beziehung des Vaters zu seinen Kindern überwiegend positiv sein, sein Verhalten der Mutter gegenüber bringt die Kinder jedoch in Loyalitätskonflikte, die ihrer Entwicklung schaden.
Kinder sind in besonderer Weise abhängig. Sie sind den Entscheidungen anderer und Einflüssen von außen ausgeliefert. Problematische Einflüsse erhöhen daher die Gefahr psychologischer Entwicklungsstörungen, die ganze Biographien überschatten können. Dabei stehen zwei Felder im Vordergrund.
Missbrauch, egal welcher Variante, signalisiert dem Kind eine vermeintliche Minderwertigkeit. Das ist logisch: Wer für die Zwecke eines anderen vereinnahmt wird, wird funktionalisiert. Eine Funktion steht im Rang unter dem, dem sie dient. Missbräuchliche Muster weben somit ein narzisstisches Defizit ins Selbstbild des Kindes ein, das ihm umso selbstverständlicher erscheint, je weniger Vergleichsmöglichkeiten es hat. Auch Missbrauchsmuster, die als normal betrachtet werden, wie die Ausrichtung an normierenden Moralvorstellungen, können breit gestreute Schäden anrichten. Jedes Menschenbild, das von einem Du sollst ausgeht, unterstellt, dass Menschen bloß Objekte sind, mit denen man von oben herab etwas machen kann.
Gottlob ist es keineswegs vorgezeichnet, dass die Entwicklung der Kinder durch seelische Krankheiten der Eltern behindert wird. Um das zu erreichen, ist ein verantwortungsvoller Umgang mit den Problemen anzuraten. Für die meisten Probleme können sinnvolle Lösungen gefunden werden, wenn man sich ernsthaft um eine Lösung bemüht.
Wohlgemerkt
Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist vielschichtig. Regeln, die immer gelten, sind schwer aufzustellen. Anregungen zum Umgang mit Kindern sind von Fall zu Fall zu überprüfen. Sie können im Umgang mit Ihrem Kind falsch sein. Vertrauen Sie nicht blind auf die Meinung eines vermeintlichen Experten. Achten Sie auf Ihr Gefühl. Benutzen Sie den eigenen Verstand.
Leitlinien für seelisch Leidende im Umgang mit ihren Kindern
Spielen Sie vor Ihren Kindern kein Versteck. Beantworten Sie Fragen offen und ehrlich. Mit der Wahrheit können Kinder meist besser umgehen, als mit einer Schönfärberei, die nicht glaubhaft wirkt.
Machen Sie deutlich, dass ihre Kinder keine Schuld an Ihrer Erkrankung tragen. Das gilt auch dann, wenn die Mühen der Erziehung zur Symptomverstärkung führen oder die Erkrankung scheinbar auslösen. Betrachten Sie es so: Nicht die Kinder sind schuld, sondern Ihr Unvermögen, den Herausforderungen der Elternschaft standzuhalten.
Fordern Sie von ihren Kindern keine besondere Rücksicht, die Ihnen wegen Ihrer Erkrankung angeblich zusteht.
Drohen Sie niemals mit Selbstmord; vor allem nicht mit dem Hinweis, dass eine vermeintliche Unart Ihrer Kinder Ursache Ihrer Selbstmordideen ist.
Sollten Sie Suchtmittel konsumieren, spannen Sie Ihre Kinder nicht zu deren Beschaffung ein. Konsumieren Sie nicht in ihrer Gegenwart.
Verbergen Sie Ihre wahren Gefühle nicht. Missbrauchen Sie ihre Gefühle aber auch nicht dazu, um ihre Kinder zu manipulieren.
Ermutigen Sie Ihr Kind, sich treu zu bleiben. Ermutigen Sie es, sich nach reiflicher Überlegung gegebenenfalls anders zu entscheiden, als es Ihren Vorstellungen entspricht.
Das bisher Gesagte klingt so, als seien Eltern immer nur Täter und Kinder immer nur Opfer. Diese Sichtweise bietet sich an, seit die Psychologie auf die Folgen hingewiesen hat, die abwertendes oder gar traumatisierendes Elternverhalten auf das Leben ihrer Nachkommen haben kann. Sie ist aber einseitig.
Kleinkinder, vor allem, wenn sie schwierig sind, können für die Eltern nicht nur Segen, sondern auch Zumutung sein. Daraus eine Schuld abzuleiten, wäre falsch. Kleine Kinder bleiben aber nicht klein. Je größer sie werden, desto eher sind sie in der Lage, ihr eigenes Verhalten zu steuern und je mehr sie das können, desto mehr Verantwortung fällt ihnen bei der Gestaltung der Eltern-Kind-Beziehung zu. Deshalb bleibt die Eltern-Kind-Beziehung keine Einbahnstraße, auf der das Unrecht bloß in eine Richtung fließen kann.
Auch aus Elternhäusern, die ihre Aufgaben gut gemeistert haben, gehen nicht nur Pubertierende hervor, deren Weisheit mit der eines Sokrates vergleichbar wäre. Fehlt die Weisheit des großen Philosophen, neigen Pubertierende dazu, Einflüssen von außerhalb des Elternhauses zu folgen, auf die selbst weise Eltern keinen Einfluss haben. Turbulenzen sind dann vorprogrammiert, Turbulenzen, in Gegenwart derer die Eltern fragen: Womit haben wir das verdient?
Und außerdem: Selbst wenn Eltern ihre Rolle gut gespielt haben oder sich ihre Fehler im Rahmen hielten, steckt das Leben für Jugendliche voller Hürden; und für Erwachsene meist ebenso. Scheitern hochfliegende Pläne an solchen Hürden, ist die Versuchung groß, die Schuld an jedem Scheitern Eltern anzulasten, die das Vollbild idealer Elternschaft verfehlten.
Hättet ihr mich in der Kindheit besser behandelt, wäre aus mir ein Erwachsener geworden, der mit dem Leben keine Schwierigkeiten hat. Solches Denken ist weit verbreitet. Es wird von vielen jungen Leuten praktiziert. Vorwürfe, die daraus abgeleitet werden, setzen Eltern unter Druck. Haben Eltern sowieso ein schlechtes Gewissen oder starke Selbstwertzweifel, die es ihnen erschweren, unrealistische Schuldzuweisungen stoisch zu ertragen, können ihnen solche Vorwürfe das Leben zur Hölle machen. Und selbst wenn Eltern schwere Fehler machten, schaden sich betroffene Kinder durch ein automatisches Durchwinken aller Verantwortung für späteres Scheitern selbst. Nur wer die Verantwortung übernimmt, kann sein Leben zum Guten wenden. Wer immer auf andere zeigt, bleibt in der Rolle eines tragischen Opfers.