Der Unglückliche glaubt, er sollte glücklich sein. Dem Glücklichen sind Glück und Unglück gleichgültig.
Im Begriff Neurose tauchen zwei griechische Wurzel auf: Neuron [νευρον] = Nerv und -ose [-ωσις]. Die griechische Nachsilbe [-ωσις] kann hier ungefähr mit der deutschen -keit übersetzt werden. Eine Neurose ist also eine "Nervlichkeit". Gemeint ist eine Krankheit, die etwas mit den "Nerven" zu tun hat.
Obwohl der Begriff bereits 1776 von Cullen eingeführt wurde, verschaffte ihm erst Sigmund Freud nachhaltige Verbreitung. Das psychoanalytische Erklärungsmodell vieler psychischer Störungen fußte lange Zeit auf Freuds Konzept des ungelösten Ödipuskomplexes (1910), den er als ausschlaggebende Ursache aller sogenannten neurotischen Erkrankungen ansah. Freuds Konzept wird heute nur noch von wenigen Psychiatern geteilt, sodass der Begriff weitgehend aus der offiziellen psychiatrischen Nomenklatur (ICD und DSM) verdrängt wurde.
Ursache der Verdrängung ist zweierlei:
Das psychoanalytische Krankheitsmodell denkt eine kausale Verursachung mit, die mit streng wissenschaftlichen Mitteln nicht objektiviert werden kann. Die heutige Psychiatrie bevorzugt daher beschreibende Diagnosen, die auf eine begleitende Benennung der Ursachen mangels Beweisbarkeit verzichten.
Dass die konkreten Ursachen psychischer Störungen nicht beweisbar sind, macht Modelle, die sie in grundlegende Kategorien einzuteilen versuchen aber nicht nutzlos. Die Abgrenzung ist zu plausibel um sie völlig zu verwerfen. Dass eine Psychose nach LSD-Konsum eine kategorial andere Ursache hat als eine Soziale Phobie wird kaum jemand bezweifeln. Deshalb macht der Versuch einer theoretischen Unterscheidung von neurotischen und nicht-neurotischen Störungen Sinn. Sie ist in der Praxis außerordentlich befruchtend. Ohne sie würde nur symptomatisch behandelt. Die Menge verordneter Psychopharmaka würde drastisch steigen.
Drei wichtige Kategorien der Psychiatrie sind zu unterscheiden:
Alle seelischen Störungen lassen sich zunächst zwei Mechanismen zuordnen, durch die sie im Organismus entstehen.
Psychosen sind Folge organischer Veränderungen und materieller Einflüsse.
Neurosen sind Folge persönlicher Reaktionsweisen auf innerseelische Zustände und äußere Realitäten.
Polare Gegensätze
Psychose | Neurose |
Die Ursachen der psychotischen Symptome liegen jenseits der Psyche. Sie wirken von außen darauf ein. | Neurotische Symptome entstehen von innen aus der psychischen Dynamik heraus. |
Die Symptome sind grundlegend nur mittelbar zu beeinflussen; zum Beispiel durch Substanzen, die in den Stoffwechsel eingreifen oder physikalische Maßnahmen (z.B. EKT). | Die Symptome sind unmittelbar und mittelbar zu beeinflussen; mittelbar durch Substanzen, unmittelbar durch seelische Aktivität, also durch Erkenntnis, Wahrnehmung, Deutung und Willensakte. |
Psychotische Störungen können durch Substanzen verursacht werden, z.B. durch medikamentöse Nebenwirkungen. Oder sie werden absichtlich herbeigeführt, um die Symptome von Neurosen auszugleichen; zum Beispiel durch den Einsatz von psychotropen Substanzen, die das Bewusstsein verändern. | Neurotische Symptome können zu Substanzmissbrauch führen, im Sinne einer krankhaften Lösungsstrategie. |
Der neurotische und der psychotische Mechanismus der Krankheitsentstehung kann als polarer Gegensatz dargestellt werden. Der Mensch ist jedoch eine psychosomatische Einheit. Im konkreten Fall kommt es oft zu einer Vermischung beider Elemente. Die theoretische Klarheit der polaren Gegensätze geht verloren.
Wer an einer Psychose erkrankt, hat im Vorfeld meist schon neurotische Muster praktiziert. Diese fallen mit der Psychose nicht weg. Sie wirken auf den Ausdruck der psychotischen Erlebnisweisen ein. Außerdem reagiert der psychotisch Erkrankte mit zusätzlichen neurotischen Mustern auf die Psychose.
Deshalb kann zwar nicht die Ursache, wohl aber Ausdruck und Intensität psychotischer Symptome unmittelbar, also durch seelische Aktivität beeinflusst werden. Und auch eine Psychose kann im Sinne einer problematischen Lösungsstrategie zu einem Substanzmissbrauch führen.
Zwillingsstudien belegen angeborene Grundmuster, die später neurotische Reaktionsweisen bahnen. Zwar entsteht daraus nur selten eine psychotische Symptomatik im engeren Sinne, der Einfluss organischer Vorgaben auf neurotische Entwicklungen ist aber gut belegt.
Die Psychiatrie hat es schwerer. Nichts von dem, was sie zu heilen versucht, ist durch objektive Mittel messbar. Auch Psychotests sind Ausdruck subjektiver Denkmodelle. Deshalb sind diagnostische Kategorien nur unscharf abzugrenzen. Niemand kann verbindlich entscheiden, was als normal, neurotisch, psychotisch oder persönlichkeitsgestört aufzufassen ist.
Nicht alles, was wie eine organisch, endogen oder stofflich verursachte Störung aussieht, ist eine Psychose im eben definierten Sinne. Endogen heißt von innen heraus. Gemeint ist dabei nicht aus der Persönlichkeitsdynamik heraus, sondern aus der stofflichen Grundlage heraus. Der Begriff bezeichnet die vermutliche Ursache endogener Psychosen sowie endogener Depressionen und Manien. Als deren Ursache nimmt man Stoffwechselstörungen an.
Psychotische Symptome, zum Beispiel Wahn, können auch durch seelische Aktivität verursacht werden. Man spricht von einer psychogenen Psychose. Man könnte das Phänomen auch als "neurotische Psychose" bezeichnen. Der Begriff hat sich jedoch nicht eingebürgert.
Ob seelische Aktivität zu einer Neurose oder zum Bild einer Psychose führt, hängt von der Wahl der Abwehrmechanismen ab. Allen Abwehrmechanismen gemeinsam ist ihr Versuch, die Wirklichkeit anders zu deuten, als sie ist.
Art der Abwehr und ihre Folgen
Der Widerstand gegen die Akzeptanz der Wirklichkeit ist entweder... | ||
neurotisch | oder | psychotisch |
Die Wirklichkeit wird grundsätzlich anerkannt. | Die Wirklichkeit wird verworfen. | |
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit wird durch Abwehrmechanismen verzerrt. | Die Wirklichkeit wird durch ein Wahnbild ersetzt. |
Als Beispiele psychogener Psychosen können paranoide Entwicklungen bei Schwerhörigen oder bei sozialer Isolation sowie die Folie à deux (französisch: Verrücktheit zu zweit) genannt werden.
Soziale Isolation kann zum Wahn führen, weil sich gedankliche Spekulationen über die Wirklichkeit so sehr verirren können, dass sich daraus ein Wahn verfestigt. Fehlt die Korrektur des einsamen Denkens durch Austausch und Begegnung, spinnt sich der Isolierte in sein Wahnbild ein.
Bei der Folie à deux überträgt eine dominante Persönlichkeit ihr Wahnbild auf eine Person, die mit ihr in enger, oft abhängiger Beziehung lebt. Während der Wahn der ersten Person schizophren sein mag, ist der der zweiten psychogen. Er entsteht, weil die abhängige Persönlichkeit ihr Weltbild von der dominanten übernimmt.
Die Unterscheidung zwischen Neurose und Persönlichkeitsstörung ist theoretisch klar. In der Praxis ist sie oft willkürlich.
Zu den Psychoneurosen zählt man Erkrankungen, die sich vorwiegend durch Störungen des seelischen Erlebens und Verhaltensauffälligkeiten ausdrücken. Dazu gehören Angstneurosen wie Agoraphobie, Klaustrophobie, isolierte Phobien (Spinnenphobie, Hundephobie, Höhenangst) und Panikstörungen, neurotische Depressionen, Zwangserkrankungen, dissoziative Störungen, Hypochondrie, sadomasochistische Störungen und Essstörungen.
Zu den Organneurosen gehören Erkrankungen, die sich vorwiegend auf körperlicher Ebene zeigen. Dazu gehören die somatoformen Störungen.
Als Persönlichkeitsstörungen bzw. Charakterneurosen werden persönliche Grundhaltungen aufgefasst, die zu dauerhaften Spannungen mit dem Umfeld und/oder dauerhafter Einschränkung des persönlichen Wohlbefindens führen.
Tatsächlich gehen beide Kategorien fließend ineinander über. Persönlichkeitsstörungen werden regelhaft durch chronisch kränkende Erlebnisse hervorgerufen, die nicht angemessen verarbeitet werden. Da die Kränkungen meist in der frühen Kindheit beginnen, ist eine Abgrenzung gegenüber angeborenen Charaktereigenschaften schwierig. Zudem entscheiden angeborene Charaktereigenschaften ihrerseits darüber mit, ob der Betroffene auf Kränkungen angemessen reagiert oder nicht.
Neurosen entstehen durch die Eigenaktivität der Psyche. Das gilt ebenso für den Teil einer Persönlichkeitsstörung, der keiner angeborenen Charakterneigung entspricht. Um den Grundmechanismus der Pathogenese, also der Krankheitsentstehung, zu verstehen, gilt es, Struktur und Psychodynamik des bewussten Individuums zu betrachten. Zur Struktur gehört der Unterschied zwischen Selbst und Selbstbild. Zur Psychodynamik gehört die Reaktion auf Infragestellungen des Selbstbilds.
Das bewusste Individuum existiert als faktische Realität. In Wirklichkeit ist es zu jedem Zeitpunkt so, wie es zu diesem Zeitpunkt eben ist. Innerhalb der Wirklichkeit vollzieht es einen Wandlungsprozess. Manches wandelt sich dabei. Anderes bleibt, wie es ist.
Zum Bewusstsein gehört aber auch, dass sich das Individuum ein Bild von sich macht. Dieses Bild setzt sich aus drei Komponenten zusammen:
Wie neurotisch ein Mensch ist, hängt von der Ausrichtung seiner seelischen Haltungen, seinen Identifikationen und seinem Urteil über sich selbst ab.
Unterschiede
Gesund | Neurotisch |
Der Gesunde schaut auf sich selbst. Er versucht zu erkennen, wie er tatsächlich ist. Er neigt dazu, das Erkannte zu akzeptieren. Widersprüche nimmt er als kreative Spannung an. Er vertraut darauf, dass sich Erfolg im Leben einstellt, wenn er sich selbst treu bleibt. | Der neurotische Mensch schaut auf den Erfolg. Er fragt nicht, wie er wirklich ist, sondern wie er sein sollte, damit er vom Leben, und vor allem von anderen, bestätigt wird. Widersprüche deutet er als Schwäche und Missstand. Passt das, was er von sich selbst erkennt, nicht zu seinem Plan, bekämpft er es. |
Der Gesunde identifiziert sich mit sich selbst. | Der Kranke identifiziert sich mit seinem Selbstbild. Sein Ziel ist nicht die Bejahung seiner selbst, sondern die Verwirklichung seines Ich-Ideals. |
Ich bin, wie ich bin. | Ich will werden, wie ich sein sollte. |
Was ich tatsächlich bin, bejahe ich. | Was ich tatsächlich bin, lehne ich ab, wenn es nicht meiner Vorstellung entspricht. |
Durch den Lauf der Dinge wird jedes Selbstbild infrage gestellt. Wenn etwas erkennbar wird, was man bisher anders sah, steht man vor der Wahl:
Entweder: Man nimmt es zur Kenntnis und richtet sein Selbstbild an der Wirklichkeit aus.
Oder: Man leugnet, verurteilt oder verdrängt es und versucht sein Selbstbild gegenüber dem Anspruch der Wahrheit abzusichern.
Bei der Entscheidung, ob man eine Erkenntnis akzeptiert oder nicht, spielt die Qualität der Gefühle, die durch die Erkenntnis ausgelöst werden, eine wesentliche Rolle. Angenehme Gefühle sind leicht zu akzeptieren, unangenehme nicht. Je nachdem, mit welchem Gefühl man auf eine Erkenntnis reagiert, begrüßt man sie oder man empfindet sie als Bedrohung, die abzuwehren ist.
Absorption oder Darmpassage
Eine Erkenntnis zu akzeptieren, heißt mehr, als dass man sie abnickt. Wirklich akzeptiert wird eine Wahrheit nur, wenn man die Gefühle, die sie auslöst, bis zum Ende erlebt. Wenn man den Kelch nicht austrinkt, bleibt der Bodensatz zurück. Oft enthält er den eigentlichen Nährstoff.
Die Entscheidung, die man an dieser Stelle trifft, ist die Entscheidung über gesund oder krank. Weicht man dem Erlebnis unangenehmer Erfahrungen aus, indem man sich diverser Abwehrmechanismen bedient, um das Unerwünschte aus dem Bewusstsein zu vertreiben, entsteht ein chronischer Konflikt zwischen Selbstbild und Wirklichkeit; und damit zwischen Selbstbild und Selbst, denn das Selbst ist Ausdruck der Wirklichkeit.
Das Gefühl, das durch eine Erkenntnis ausgelöst wird, ist nicht nur eine Reaktion, die man annimmt oder bekämpft. Das Gefühl beinhaltet seinerseits Erkenntnisse. Oft sind es solche, die nicht willkommen sind.
Klaus wird vom Chef kritisiert. In seiner Seele vermengen sich Wut und Scham. Nicht nur die Erkenntnis, dass der Chef ihn wenig schätzt, ist bitter. Die Tatsache, dass er so heftig auf Kritik reagiert, enthält eine weitere Lehre, die sein Selbstbild erschüttert: Er ist abhängiger von der Bestätigung durch andere, als ihm lieb ist.
Anna entdeckt, dass Holger mit Charlotte flirtet. Die Sache macht ihr nicht nur klar, dass sie für Holger austauschbar ist. Ihre Bestürzung führt ihr zusätzlich vor Augen, wie selbstgefällig sie sich bisher Holgers Treue sicher war.
Nach der Liebesnacht ließ die Bekanntschaft aus der Disko nichts mehr von sich hören. Der charmante Ralf hat sie bloß mal eben so vernascht. Jennifers Schamgefühl macht ihr deutlich, wie einfältig sie bisher glaubte, dass ihr so etwas nicht passieren könnte.
Als Hannah den Raum betrat, konzentrierte sich Peter auf seine Arbeit. Von der Verlegenheit, die ihn gegenüber Hannah befiel, wollte er nichts wissen.
Schmerzhafte Erkenntnisse betreffen nicht nur Vorstellungen über soziale Positionen, sondern auch über die eigene Persönlichkeitsstruktur. Fehlt der Mut, der Struktur ins Auge zu sehen, beginnt ein innerer Kampf gegen die Verwirklichung des wahren Selbst. In der Konsequenz vertieft das Selbstwertzweifel.
Um die Gefahr zu mindern, Teile seiner selbst abzulehnen, gilt es, zwischen Ereignis und Reaktion zu unterscheiden. Unterscheidet man nicht, vermengt man zwei Kategorien; und schüttet das Kind mit dem Bade aus.
Integration
oder
projektive Identifikation?
Der Verursacher eines Gefühls ist nicht das Ereignis oder der, von dem es angestoßen wird. Der Verursacher ist die eigene Neigung, so und so zu reagieren. Wer seine Reaktion dem Ereignis zuordnet, lehnt nicht nur Verantwortung für sich ab. Er festigt ein Selbstbild, in dem er intime Teile seiner selbst unter die Herrschaft anderer stellt. Wird das sein Selbstwertgefühl stärken?
Die Kritik des Chefs mag ungerecht sein. Dann sollte Klaus sie zurückweisen. Dass er aber mit Wut und Scham reagiert, ist nicht die Schuld des Chefs. Diese Gefühle sind Ausdruck seiner selbst; obwohl er sich nicht bewusst dazu entscheidet.
Wenn Anna Holgers Flirt mit Charlotte nicht akzeptieren kann, muss sie die Sache mit ihm klären. Dass ihr ihre Selbstgefälligkeit peinlich ist, ist aber nicht Holger anzulasten.
Die wütende Jennifer hat wenig davon, wenn sie alle Schuld an der Enttäuschung Ralfs falschen Liebesschwüren zuschreibt. Besser sie lässt sich durch das Schamgefühl über ihre Eitelkeit belehren.
Dass Peter seine Verlegenheit verdrängt, bringt ihn nicht weiter. Besser er stellt sich der Angst, zu dem zu stehen, was er gerne möchte.
Oft fasst man das Ereignis und die Reaktion darauf als Einheit auf. Man betrachtet Gefühle als Begleiterscheinungen der Ereignisse. Fühlt sich das Ganze unangenehm an, versucht man nicht nur eine Wiederholung des Ereignisses zu verhindern, sondern man weist die ganze Erfahrung als vermeintlich schädlich zurück. Man verdrängt, verleugnet oder rationalisiert sie. Wer gemachte Erfahrungen aber zurückweist, weil sie weh tun, untergräbt die eigene Integrität.
Die normale Realitätsdeutung sieht die Person als Partikel in einem Feld. Während vom Feld nur ein Bruchteil zu erkennen ist, stehen der Person ihre eigenen Belange unübersehbar vor Augen. In der Folge neigt sie dazu, ihre Bedeutung zu überschätzen.
Grundirrtum
Der Grundirrtum der Neurose liegt darin, dass der Einzelne seiner Person mehr Bedeutung zumisst, als ihr in Wirklichkeit zukommt. Davon auszugehen, dass der eigenen Person kaum Bedeutung zukommt, ist ein Impfstoff, der den meisten psychischen Erkrankungen zuverlässig vorbeugt.Evolution und Individuation
Dass sich der Einzelne instinktiv große Bedeutung beimisst, ist ein nützliches Werkzeug der Evolution. Wie sonst fände er den Eifer, für seinen Vorteil zu streiten. Was für die Phylogenese der Spezies notwendig ist, führt individualpsychologisch oft auf ein Minenfeld unrealistischer Erwartungen.Derzeit bevölkern ungefähr...
Diese Zahl beschreibt die soziale Bedeutung. Eine der vielen Personen hat ausgerechnet, dass bislang einhundert Milliarden Menschen lebten. Also Pi mal Daumen noch zwei Nullen mehr für jeden Einzelnen was seine historische Bedeutung angeht. Eine Berechnung der kosmischen Bedeutung des Einzelnen ersparen wir uns aus Rücksicht auf die beschränkten Möglichkeiten des Taschenrechners. Man sieht also: Die Bedeutung des Einzelnen tendiert in Wirklichkeit gegen Null; selbst wenn man den humanoiden Rassendünkel pflegt und andere Geschöpfe bei der Zumessung ausklammert.
Den meisten neurotischen Phänomenen wäre die Grundlage entzogen, schriebe der Einzelne seiner Person nur so viel Bedeutung zu, wie ihr tatsächlich zukommt.
Auch bei anderen neurotischen Störungen schimmert die Überschätzung der eigenen Bedeutung durch die vordergründigen Erscheinungen hindurch.
Bei der Generalisierten Angststörung oder der Ängstlich-vermeidenden Persönlichkeit ist der Patient überwertig mit der Sorge beschäftigt, dass ihn oder seine Bezugspersonen ein Unheil treffen könnte. Über das Unheil, das Fremden droht, macht er sich wenig Sorgen. Das gilt auch bei der Sozialen Phobie: Wie könnte man der Gefahr, sich zu blamieren, Bedeutung beimessen, wenn man sich selbst für unwichtig hielte?
Nicht anders ist es bei den Zwangsstörungen. Nähme der Zwangskranke sich selbst nicht so wichtig, würde er kaum Energie darauf verwenden, noch das letzte Quäntchen Gefahrenpotenzial, das ihm droht, durch zermürbende Kontrolle von sich abzuwenden. Noch deutlicher wird die Selbstüberschätzung bei dem, der glaubt, ein Unheil verhindern zu können, indem er nicht auf die Ritzen zwischen den Pflastersteinen tritt. Er schreibt seinem Tun magische Macht über die Wirklichkeit zu.
Der depressive Patient wirft sich maßlose Schuld und Versagen vor. Dass sein vermeintliches oder tatsächliches Versagen so wichtig ist, dass man das Leid daran zum Lebensinhalt macht, ist nur erklärbar, wenn der Kranke seiner Person große Bedeutung zumisst; denn das Versagen eines quasi Bedeutungslosen könnte keine so große Bedeutung haben, als dass man davon viel Aufhebens macht.
Würde eine essgestörte Person sich akribisch mit ihrem Erscheinungsbild befassen, wenn sie der Person, deren sichtbarer Ausdruck der Körper ist, keine überwertige Bedeutung beimäße? Sie würde es nicht.
Der beschriebene Zusammenhang zwischen Überschätzung der eigenen Bedeutung und seelischem Leid beschäftigt auch die spirituelle Tradition. Dort wird versucht, sich aus der Anhaftung ans Ego zu lösen. So lautet die Sprachwahl des Buddhismus.
Fortschritte
Es gehört zur Funktionsweise des Egos, die Bedeutung der Person zu überschätzen. Es gehört zur Reifung der Person, diesen Irrtum zu durchschauen.Das Ego, aus dessen Zugriff sich der spirituelle Mensch zu befreien versucht, ist keine eigenständige Instanz. Das Ego ist begrifflicher Repräsentant eines Selbstbilds, das das Ich mit der Person gleichsetzt und deren Belangen eine so überragende Bedeutung zuspricht, dass die Person es partout nicht unterlassen kann, darüber nachzudenken.
Größenwahn und Größenirrtum
Die realitätsfremde Einschätzung der eigenen Bedeutung betrifft nicht nur das neurotische Selbstbild. Beim psychotischen Selbstbild wird sie erst recht virulent. Ein Kernsymptom der Psychose ist das Beziehungserleben. Der Kranke bezieht alles auf sich; als stünde er im Mittelpunkt der Welt, als habe er eine solche Bedeutung, dass sich alles und jeder mit ihm befasst. Was bei der Neurose Irrtum bleibt, wird bei der Psychose zum Wahn. Bei der Neurose zieht das Trugbild leise an den Strippen, bei der Psychose drängt es lautstark in den Vordergrund.
Betrachtet man das bisher Gesagte, könnte man meinen, Neurosen seien ausschließlich individualpsychologische Fehlentwicklungen. Das ist falsch. Das Grundprinzip der Neurose ist Untreue zu sich selbst. Wer sich selbst nicht annimmt, wie er ist, sondern gegen Teile seines Soseins ankämpft und sich Bildern anzupassen versucht, leidet neurotisch.
Daraus folgt unmittelbar, dass der Anpassungsdruck, den das soziale Umfeld auf das Individuum ausübt, ein mächtiger Faktor bei der Verursachung von Neurosen ist.
Neurotische Entwicklungen können durch einzelne Ereignisse angestoßen werden. Solche Ereignisse nennt man traumatisch, also verletzend. Ist das Trauma groß, löst es eine posttraumatische Belastungsstörung aus. Eine posttraumatische Belastungsstörung ist eine Sonderform der neurotischen Entwicklung. Punktuelle Traumata können Gewaltakte, sexueller Missbrauch oder schwere Demütigungen anderer Art sein.
Häufiger werden Neurosen aber nicht durch wuchtige Einzelereignisse ausgelöst, sondern durch dauerhafte psychosoziale Missstände, denen man besonders in der Kindheit ausgeliefert ist. Traumatisierend sind Missstände vor allem dann, wenn sie den Eigenwert des Individuums leugnen und/oder sein Selbstbestimmungsrecht infrage stellen. Der Verzicht des Einzelnen auf sein Selbstbestimmungsrecht wird in der Regel durch die Drohung erzwungen, ihn bei mangelndem Gehorsam aus der Gemeinschaft zu verstoßen oder ihm gezielt zu schaden. Wenn du nicht tust, was wir wollen, grenzen wir dich aus oder wir bestrafen dich. Zu den chronisch traumatisierenden Umständen gehören:
Grundregel
Je mehr jemand durch andere lebt, als aus sich selbst heraus, desto neurotischer ist er.Ein persönliches Beziehungsverhalten ist neurotisch, wenn einer den Anderen für seine Zwecke vereinnahmt; und erst recht, wenn sich die Partner wechselseitig zu vereinnahmen versuchen. Vereinnahmung kann auf zweierlei Arten vonstattengehen:
Unmittelbar fordernd sind ich-starke Personen, die es aus narzisstischem Anspruch heraus oder zur Abwehr unbewusster Verlustängste für selbstverständlich halten, sich ins Leben anderer einzumischen. Ihnen ist klar, dass sich der Andere so oder so verhalten sollte; und wehe, der Betreffende hält sich nicht an die Vorgaben der Regie.
Noch häufiger sind manipulativ neurotische Muster. Sie werden sowohl von ich-starken als auch von ich-schwachen Persönlichkeiten eingesetzt. Manipulativ ist jedes Verhalten, das verdeckt darauf abzielt, das Denken, Fühlen und Handeln des Gegenübers zu steuern.
Gewiss: Auch gesundes Verhalten beeinflusst das Denken, Fühlen und Handeln des Umfelds. Im Gegensatz zum neurotischen ist die Beeinflussung aber kein verdecktes Motiv. Der Gesunde handelt in Übereinstimmung mit sich selbst und respektiert die Reaktionen des Umfelds. Der Neurotiker spielt die Rolle, von der er sich den gewünschten Effekt auf andere erhofft. Er will die Reaktion des Umfelds bestimmen. Kaum je ist ihm bewusst, wie sehr er es tut.
Eine Sonderform ist das gleichgültige Elternhaus. Gleichgültige Eltern fordern zwar keinen Verzicht auf die Selbstbestimmung, sie senden aber eine pathogene Botschaft: Du bist uns egal. Das Desinteresse solcher Eltern verunsichert das Kind, indem sie ihm das Gefühl schützender Zugehörigkeit vorenthalten. Die resultierende Angst des Kindes untergräbt dann dessen Mut, über sich selbst zu bestimmen.
Zwei Mechanismen spielen bei der Entstehung posttraumatischer Störungen eine große Rolle: Identifikation und Reaktionsbildung.
Bei der Identifikation übernimmt der Betroffene die abwertende Botschaft des Umfelds. Zu seinem Selbstbild gehört fortan die Vorstellung: Ich bin wenig wert. Da ich wenig wert bin, muss ich auf den Anspruch, selbstbestimmt zu leben, verzichten. Am besten ich mache, was andere wollen; selbst wenn es mir nicht entspricht.
Durch die Identifikation wird der Konflikt mit dem Umfeld vermieden. Die Zugehörigkeit wird sichergestellt. Der Preis ist aber hoch. Wer die verzerrende Botschaft annimmt, wird seine Bedürfnisse fortan zurückstellen. Um einen Platz zu finden, wird er anderen gegenüber dienstbar sein.
Bei der Reaktionsbildung wird das verleugnet, was die abwertende Botschaft als Wahrheit verrät. Erscheint dem Betroffenen die Erkenntnis, in den Augen anderer unwichtig oder austauschbar zu sein, unannehmbar, wird er sich womöglich ein Selbstbild zimmern, das genau diese Tatsache verdrängt. Resultat könnte eine narzisstische Persönlichkeitsstörung sein, die die Bedeutung der eigenen Person trotzig überbewertet und den Wert anderer ihrerseits leugnet.
In der Praxis verzahnen sich beide Mechanismen. Dadurch entstehen individuell unterschiedliche Muster.
Obwohl der Ödipuskomplex, so wie Freud ihn als Ursache neurotischer Störungen beschrieben hat, heute nur noch von wenigen Therapeuten als pathogener Faktor in den Vordergrund gestellt wird, liefern die Betrachtung seines Konzepts und seine kulturhistorische Einordnung wichtige Erkenntnisse.
Der Begriff Ödipuskomplex bezieht sich auf einen altgriechischen Mythos. Ödipus soll seinen Vater Laios getötet und dessen Witwe Iokaste, also seine Mutter geheiratet haben. Freud behauptet, dieser Mythos verweise auf zweierlei:
In der Urhorde hätten sie gemeinsam ihren tyrannischen Vater ermordet um sich dessen Frauen anzueignen. Aufgrund des Schuldgefühls, das das Verbrechen nach sich zog und um ihre Schuld durch Gehorsam zu sühnen, hätten sie den toten Vater vergöttert und sich ihm fortan rituell untergeordnet. So seien aus dem Konflikt ambivalenter Gefühle - der Bewunderung väterlicher Macht und der Schuld, die Macht durch Mord entthront zu haben - Kultur und Religion entstanden.
Der Sohn habe den Wunsch, es den Söhnen der Urzeit gleichzutun. Er spüre den Impuls, seinen Vater zu ermorden, weil er die Mutter begehre und den Vater als Konkurrenten um deren Liebe empfinde. Da er den Vater zugleich liebe, erlebe er den Impuls schuldhaft und fürchte vom Vater zur Strafe kastriert zu werden.
Gemäß freudianischer Deutung stehe die Verdrängung des Schuldgefühls und die Verleugnung der mörderischen Impulse an der Wiege sämtlicher Neurosen.
Freuds Beschreibung der ödipalen Dynamik ist überwiegend individualpsychologisch. Zwar spricht er vom tyrannischen Vater, aber so, als sei der eine Figur der Vorzeit gewesen, die damals per Vatermord aus der Welt geschafft wurde, um fortan den Weg zu einer kulturellen Entwicklung zu öffnen, in der Väter keineswegs tyrannisch oder kastrierend sind, sondern Vermittler einer höheren Tradition, die dem Gemeinwohl diene und Söhnen keinerlei Anlass gebe, berechtigterweise aggressive Impulse gegen sie zu entwickeln. Deshalb sei die ödipale Aggression schuldhaft und die Kastrationsangst eine Projektion in Ambivalenzkonflikten gefangener Kinder auf schuldfreie Väter.
Mit dieser Darstellung bleibt Freud ein gehorsamer Sohn der patriarchalischen Kultur, deren Werte er, trotz all der geistigen Freiheit, die man bei der Lektüre seiner Werke genießen kann, als Introjekte verinnerlicht hat. Er übersieht, dass die Kastrationsdrohung der jüdisch-christlichen Kultur keineswegs nur eine umherlichternde Angstphantasie dreijähriger Knaben ist, sondern Alltag im konfessionell geprägten Milieu.
Die Betrachtung der ödipalen Thematik belegt...
Zeugenaussage
Ein afghanischer Flüchtling: In Afghanistan sind 90% der Leute psychisch krank. Wenn er damit Einschränkungen der gedanklichen Freiheit meint, die durch dogmatische Introjekte verursacht werden, mag er damit richtig liegen.
Der Auftrag des hebräischen Gottes an alle männlichen Erben Abrahams, ihre Söhne in den Gehorsam zu zwingen und sie gegebenenfalls auf Befehl zu töten, dringt in das Kinderzimmer eines jeden Elternpaares vor, das sich ernsthaft einer abrahamitischen Konfession verschreibt.
2 Moses 13, 8:*
Du sollst es deinem Sohne einschärfen...
5 Moses 13, 7-12:*
Wenn dein Bruder... oder dein Sohn oder deine Tochter oder die Frau an deiner Brust oder dein Freund, den du so lieb hast wie dein Ich, dich heimlich verführen wollen... andern Göttern (zu) dienen... so darfst du... nicht... sie schonen... Dem Tod sollst du sie überliefern! Deine Hand soll sich zuerst gegen sie erheben, um sie zu töten...
Die ödipale Aggression, die Freud bei seinen Analysen oft entdeckt haben mag und ihre kulturelle Sublimation ist daher nicht der Ursprung der Religion, sondern eine Folge pseudoreligiöser Irrwege, die Väter dazu anstiften, ihre Söhne einem Anpassungsdruck auszusetzen, der massiv mit Gewalt und Ausgrenzung droht. Die Beschneidung ist in diesem Zusammenhang unschwer als symbolische Kastration zu erkennen. Tatsächlich religiöse Väter fordern nicht den Gehorsam ihrer Söhne. Sie fördern deren Freiheit.
Sublimation
Sollten auch Sie ödipale Aggression und Begierde in sich tragen, kann eine sublimative Lösung vorgeschlagen werden, die weder Reue noch Schuld mit sich bringt. Befreien Sie die Wahrheit aus dem Zugriff von Irrtum und Selbstbetrug. Da auch Schönheit eine Inkarnation des Wahren ist, wird die gefreite Wahrheit einst als Weib erscheinen, das sich Ihnen hingeben wird. Nächte werden Seide sein.
Bei der Behandlung neurotischer Störungen spielen Medikamente eine nachgeordnete Rolle. Gegen Angst, Zwang und Depression können vor allem Antidepressiva wirksam sein. Die kausale Behandlung fußt auf Psycho- und Verhaltenstherapie. Dabei gilt es, den Patienten zu ermutigen, sein wahres Selbst zu akzeptieren, pathogene Introjekte zu verwerfen und freimütig seine Interessen zu vertreten.
Sobald man den Mechanismus versteht, der die neurotische Entwicklung auslöst, ergeben sich Ansätze und Grundregeln zur Heilung und Verhütung von selbst.
* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.