Das Selbst


  1. Begriffe
  2. Ich-Grenze
  3. Struktur des Selbst
  4. Selbsterkenntnis
  5. Selbstwertzweifel
Das relative Selbst ist Mittel des absoluten. Es kann sich dessen gewahr sein oder es verkennen.

Der längste Weg ist der zu sich selbst.

Grundlage der Freiheit ist nicht Macht, sondern Wissen. Wahre Macht ist nie blind. Was blind ist, ist ohnmächtiges Werkzeug dessen, was über ihm steht.

Das absolute Selbst ist keine Erscheinung. Daher kann es vom relativen Selbst nicht wahrgenommen werden. Mit den Mitteln des relativen Selbst kann man das absolute nicht sehen. Das relative sieht man. Das Absolute ist man.

Jede Absicht einzugreifen verengt den Blick auf die Stelle, an der der Eingriff ansetzt. In der Meditation versucht das Ich, den Modus des Eingreifens abzustreifen, um in den Modus uneingeschränkter Wahrnehmung überzugehen. Der Meditierende versucht, die Wirklichkeit zu sehen ohne wegen einer Absicht von etwas abzusehen.

1. Begriffe

Die Herkunft des Begriffes selbst ist sprachgeschichtlich ungeklärt. Er benennt die Identität einer Person, einer Sache oder einer Erscheinung... mit sich selbst. Erhellend ist die Gegenüberstellung von derselbe und der gleiche.

Im ersten Fall handelt es sich um zwei Tassen; deren Erschei­nungsbild gleich ist. Im zweiten Fall handelt es sich um ein und dieselbe Tasse; die mal von ihm und mal von ihr benutzt wird. Aus derselben Tasse kann man den gleichen Kaffee trinken, aber nicht denselben.

Der Begriff Selbst benennt kein Erscheinungsbild, dessen Ursache Verschiedenes sein könnte. Er verweist auf die tiefer liegende Ebene unaustauschbaren Seins. Das Selbst ist eindeutig. Jenseits des Selbst gibt es nichts, worauf es zurückgeführt werden könnte. Wo es Veränderliches gibt, ist das Selbst dessen unveränderliche Grundlage.

Da es jenseits des Selbst nichts gibt, was es bedingt, ist zu vermuten, dass das Selbst das Jenseits ist. Das absolute Selbst ist das Jenseits der Erscheinung.

Gartenhäuschen
Hat das Gartenhäuschen ein Selbst? Wenn ja, ist es dann in seiner materiellen Struktur verankert? Wäre es so, müsste man auch Brettern und Schrauben jeweils ein eigenes Selbst zugestehen. Und was ist, wenn ein Brett zerbricht? Entstehen dann aus einem Selbst zwei neue? Wo bleibt das Selbst der Schrauben, wenn sie verrosten? Haben Rostpartikel ein Selbst, das von dem anderer verschieden ist?

Auch der menschliche Körper ist eine materielle Struktur. Sein Aufbau ist kompli­zierter als der des Gartenhäuschens; aber auch er besteht aus verschiedenen Teilen. Wenn der Struktur des Körpers aber ein Selbst entspricht, warum dann nicht auch der Struktur des Schulterblatts.

Wenn sich das Selbst in einer materiellen Struktur vollständig verwirklicht, setzt sich das Selbst des Körpers dann aus den Selbsten seiner Bestandteile zusammen? Kann ein Selbst aus anderen Selbsten bestehen? Solange man uns davon nicht überzeugt hat, glauben wir es nicht... und folgern daraus, dass das Selbst des Körpers nicht vom Horizont der körperlichen Struktur umschlossen ist. Das Selbst mag als Teil etwas zum Ausdruck bringen, es selbst ist aber nie nur Teil. Es bleibt stets Ganzes. Da es alles Dingliche umfasst, ist es keiner Bedingung unterworfen.

2. Ich-Grenze

Wenn man von sich selbst spricht, trifft man eine Unterscheidung. Man sagt, dass es ein Ich gibt, das sich von dem unterscheidet, was es nicht ist. Man formuliert die Ich-Grenze des alltagspraktischen Selbstkonzepts.

Als jenes Ich, das das Essen gekocht hat, meint der alltägliche Sprachgebrauch eine Person. Personen werden als abgegrenzte Einheiten aufgefasst, die all dem gegenüber­stehen, was sie selbst nicht sind. Den Bereich innerhalb dieser Ich-Grenze nennt man im alltäglichen Sprachgebrauch ich selbst.

Fiktion oder Wirklichkeit
Ist das Subjekt nur Eigenschaft komplex angeordneter Materie, existiert es ohne eigenes Selbst. Es ist dann fiktiv und Effekt einer Architektur physikalischer Teilchen, Felder und Kräfte.

Wenn es ein Selbst tatsächlich gibt, ist es nicht deren Eigenschaft, sondern den Objekten übergeordnet. Es kann nur Subjekt sein, wenn es die Möglichkeit hat, sich von den Objekten zu entbinden.

3. Struktur des Selbst

Das umgangssprachliche Selbst erweist sich bei genauer Betrachtung als zusammen­gesetzt. Es besteht aus zwei Ebenen:

Das relative Selbst ist unauflösbar mit der Person verbunden, als die es in Erscheinung tritt. Das relative Selbst besteht aus dem Leib, der der Person unaustauschbar zugeordnet ist sowie der mentalen Ereigniskette, die diesem Leib als Psyche angehört. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Ereigniskette, bei der ein Kettenglied ans nächste gereiht ist. Vielmehr ist an einen Ereignisstrom zu denken, der unzählige Stränge und Strudel zu einem Vorgang verwebt.

Möglicherweise ist nur die Architektur des Gehirns als persönlich unaustauschbar zu betrachten. Immerhin können bereits heute viele andere Organe ausgetauscht werden, ohne dass das Identitätsgefühl des Betroffenen darunter leidet.

Das relative Selbst manifestiert sich an einem festgelegten Ort im Universum. Es steht von dort aus in Relation zu jenem Bedingungsgefüge, das der jeweils besonderen Person zugrunde liegt. Sich manifestieren geht auf lateinisch manifestare = handgreiflich machen, offen bekunden zurück. Die manifestierte Ebene des Selbst bekundet ihr Dasein nach außen. Ihr leiblicher Teil ist handgreiflich präsent.

Als absolutes Selbst kann jene Instanz beschrieben werden, die einerseits die Inhalte des relativen Selbst wahrnimmt, ohne selbst einer der Inhalte zu sein, und die andererseits steuernd ins relative Selbst eingreifen kann. Der Begriff steuernd unterstellt hier, dass die Eingriffe echter Entscheidungsfreiheit entspringen.

Entscheidungsfreiheit beruht darauf, dass die Fähigkeit, eingreifen zu können, der Fähigkeit, wahrnehmen zu können, nachgeordnet ist. Das fundamentalere Vermögen des absoluten Selbst ist Erkenntnisfähigkeit. Erst danach kommt Macht.

Unterschiede

relatives Selbst absolutes Selbst
Steht in hervorgehobener Relation zu einem individuellen Ausschnitt der Wirklichkeit. Steht mit einem besonderen Teil in besonderer Beziehung. Hat keine besondere Beziehung zu einem bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit. Ist von allem Besonderen abgelöst und steht zugleich mit jedem Teil der Wirklichkeit in gleichwertiger Beziehung.
Unterscheidet sich von Person zu Person. Ist das besondere Selbst des Individuums. Ist für alle Personen identisch. Ist das eine Selbst aller.

Wer den kleinsten gemeinsamen Nenner aller sucht, sucht nach dem, was am größten ist.

3.1. Ich-Grenzen

Führt man sich den inneren Aufbau des Selbst vor Augen, erkennt man, dass nicht nur eine Ich-Grenze zu benennen ist, sondern zwei.

Wohlgemerkt

Ich-Grenzen trennen nicht nur. Im gleiche Zuge verbinden sie. Man kann also auch sagen: Die absolute Ich-Grenze verbindet das absolute Selbst mit dem relativen.

Das relative Selbst ist ein Zwitter. Aus der Perspektive der Person ist es Innenwelt. Aus der Perspektive des absoluten Selbst ist es Teil der Außen­welt. Die Person ist Teil des Weltgeschehens. Wie jeder andere Teil kann sie gesehen und beeinflusst werden. Wie jeder andere Teil fließt sie am Auge des Betrachters vorbei. Das relative Selbst ereignet sich, während das Auge, das das Ereignis wahrnimmt, als absolutes Selbst verstanden werden kann.

Der Begriff Ich-Grenze kann in die Irre führen. Er kann den Eindruck erwecken, das absolute Selbst sei ein Ich. Stellt man es sich aber als ein Ich vor, spaltet man einen Teil von ihm ab. Das entspricht nicht seinem Wesen. Ein Ich ist ein Etwas, das einem Nicht-Ich gegenübersteht. Das absolute Selbst ist jedoch umfassend. Sonst wäre es nicht absolut. Es würde durch das mitbedingt, dem es begegnet. Das absolute Selbst kann sich als ein oder viele Ichs zum Ausdruck bringen. Die Vorstellung, es sei selbst ein Ich, wird ihm aber nicht gerecht.

Ich-Grenzen

Absolutes Selbst
Ich r Nicht-Ich
Absolutes Selbst a Relatives Selbst Physikalische und soziale Außenwelt
Wahrnehmen können
  • äußere Sinneseindrücke
  • unmittelbare Leibes­wahrnehmungen
  • Gefühle
  • Gedanken
  • Impulse
  • Ausrichtung der Achtsamkeit
  • Meinungen
  • Erinnerungen
  • automatisierte Reaktionsmuster
  • Vorstellungsbilder wahrnehmen
Eingreifen können
  • Motorik
  • Denkakte
  • Ausrich­tung der Achtsamkeit
  • Urteile
  • Vorstellungs­bilder einsetzen
r = relative Ich-Grenze
a = absolute Ich-Grenze

Das Absolute Selbst umfasst und reicht zugleich in jedes Ich hinein.

Wahrnehmungen
Objekte aller Art, Bauchweh, Position des Körpers im Raum, Ausrichtung der Gelenke, Bewegungsabläufe, was man denkt, was man meint, worauf man gerade achtet, was man sich vorstellt, welchen Reaktionsmustern man unterliegt.

Eingriffe
Äpfel pflücken, Denkakte durchführen, um sich auf zukünftige Situationen vorzubereiten, die Achtsamkeit ausrichten, Denkakte abschließen und Meinungen bilden, sich durch die Vorstellung eines Bads in der Wanne über den Arbeitstag hinwegtrösten.

Das Selbst kann sich seiner relativen Inhalte bewusst sein. Es muss es aber nicht. Im Tiefschlaf ist es keiner Inhalte bewusst. Es ist aber nicht erloschen, sondern verhindert, dass man aus dem Bett fällt. Das absolute Selbst ist zeitlos. Es besteht ungeachtet wechselnder Umstände, die es erkennen könnte.

3.2. Relatives Selbst

Das relative Selbst besteht seinerseits aus zwei Bereichen:

  1. dem Leib
  2. der Psyche

Der Leib ist sowohl für das absolute Selbst als auch für andere Personen erkennbar. Bei der Psyche handelt es sich um ein Netzwerk individueller Erlebnisweisen, Bedeutungs­vergaben und Reaktionsalgorithmen, die bewusst oder unbewusst wirksam sind. Ihre Inhalte und Wandlungen werden als virtuelle Objekte vom absoluten Selbst erkannt. Das Wissen um erkannte Inhalte wird der Person, und nur ihr, vom absoluten Selbst zur Verfügung gestellt. Das Wissen um dessen Inhalte, wird zum Inhalt des persönlichen Bewusstseins.

Diesseits des Körpers ist der Mensch Person. Jenseits davon ist er er selbst.
3.2.1. Leib

Der Leib einer Person ist insofern vom Umfeld abgelöst...

Mit anderen Worten: Der Leib ist eine begrenzte Struktur, die eine Zeitlang eigen­beweglich ist.

Der Abgelöstheit des leiblichen Aspekts der Person, und damit ihrer Fähigkeit zur Selbst­bestimmung, steht eine umfassende Einbindung gegenüber. Der Leib ist vollständig ins Umfeld eingebunden. Sein Sosein wird durch sämtliche Faktoren des Umfelds mitbe­stimmt. In seiner Bedingtheit ist er dem Weltgeschehen ausgeliefert.

3.2.2. Psyche

Der materielle Aspekt des relativen Selbst wird von einem virtuellen begleitet. Dabei handelt es sich um eine mentale Struktur, die sich aus ineinander verzahnten Erscheinungen zusammensetzt:

Die Vorstellungswelt des Denkens umfasst einen Horizont, der die Illusion vom autonomen Ego aufrechterhält. Tritt man aus der vorgestellten Welt heraus, wird die nicht-denkende Schicht unterhalb des Denkens erkennbar. Descartes' berühmter Satz zum Beleg der eigenen Existenz, Cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich) macht beim Bedingten halt.
3.2.3. Identifikationen

Das normale Ich neigt dazu, sich mit dem leiblichen und/oder dem psychischen Aspekt des relativen Selbst gleichzusetzen. Es sagt: Ich bin dieser Körper, in dem ich dies und das denke, so und so fühle, das und das mag, jenes will oder dieses ablehne. Es hält seine Seele für einen virtuellen Körper, dessen Struktur aus Gedanken, Vorstellungen, Gefühlen und Impulsen besteht.

Die Art, wie das Ich über seine psychischen Inhalte spricht, zeigt jedoch an, dass die Identifikation keine Identität bedeutet. Das Ich sagt:

Obwohl das Verb haben anzeigt, dass der Besitzer all dieser Elemente, nicht mit den Elementen identisch sein kann, identifiziert sich das Ich im egozentrischen Modus mit den Elementen an sich. Kritisiert jemand seine Idee, sieht es nicht die Idee hinterfragt, sondern sich selbst. Das normale Ich fasst sich nicht als reinen Betrachter auf. Es deutet sich als einen Teil des Betrachteten. Es beschreibt sich als relatives Selbst, das als begrenztes Etwas Teil des Universums ist und dort anderen Trägern eigenständiger Selbste begegnet.

3.3. Absolutes Selbst

Das absolute Selbst übersteigt dualistische Gegensätze. Es vereint in sich zwei grundsätzliche Vermögen:

  1. Es kann wahrnehmen.
  2. Es kann eingreifen.

Sowohl beim Wahrnehmenkönnen als auch beim Eingreifenkönnen handelt es sich um Potenziale, die verwirklicht werden können, aber nicht verwirklicht sein müssen.

Wissen...

ist unmittelbares Wahrnehmenkönnen des Wirklichen und seiner Entwicklungsdynamik über den jeweiligen Zeitpunkt hinaus. Der Wissende kann des zukünftigen Neumonds gewahr sein, sobald er den Vollmond am Himmel sieht.

Reihenfolgen

Das absolute Selbst greift ein, um Wahres aufzudecken. Das relative Selbst nimmt wahr, um einzugreifen.


Das Ich ist Eingriffspunkt des Absoluten ins Bedingte. Einerseits ist es Ausdruck des absoluten Selbst, andererseits Teil der Welt. Da das Absolute die Raumzeit übersteigt, geht das Ich jenseits der Raumzeit ins Absolute ein.

Grade der Wirklichkeit

Für sich genommen wäre das relative Selbst unwirklich. Wirk­lichkeit kommt ihm zu, weil es die Verwirklichung einer Möglichkeit des absoluten ist. Das absolute Selbst wird als relatives eingeschränkt präsent. Das relative repräsentiert eine Möglichkeit des absoluten.

Sobald das absolute Selbst tatsächlich ins Weltgeschehen der dualistischen Gegensätze eingreift, entsteht das relative Selbst, das seinerseits dualistische Qualitäten aufweist um in der Welt als handelnder Pol gegenwärtig zu sein. Das absolute Selbst ist ein zeitlos Ungemachtes, das sich als sichtbarer Ausdruck in einem zeitlich aufgespreizten relativen Selbst mani­festieren kann. Das relative Selbst hat Geschichte, das absolute macht sie.

Personen sind beschränkte Eingriffspunkte des absoluten Selbst ins Weltge­schehen. Sie sind Dualismen unterworfen, weil sie als Werkzeug beschränkter Eingriffe den Ansatzpunkten ihrer Eingriffe gegenüberstehen.

Das Eingreifenkönnen des absoluten Selbst ist reale Macht aus selbstbe­stimmter Willensfreiheit. Selbstbestimmte Willensfreiheit liegt jenseits aller Bedingungen. Die Eingriffe der Macht ins dualistische Weltgeschehen bedienen sich des relativen Selbst, das als Bestandteil des dualistischen Gegensatzfeldes durch dessen Dynamik mitbe­dingt ist. Die Willensfreiheit des relativen Selbst wird dadurch eingeschränkt. Die Eigenschaften der Objekte, denen es begegnet, sind Begrenzungsmerkmale des relativen Selbst. Die Welt jenseits des relativen Selbst entspricht der jeweiligen Einschränkung seiner Freiheit.

Die Dynamik des relativen Selbst ist auf Eingriffe in die Wirklichkeit ausgerichtet. Im relativen Selbst ist Wahrnehmung dem Eingriffs­vorsatz untergeordnet.

Jeder ist ich im Gewand eines anderen Schicksals. Wer mich sucht, muss sich selbst finden.

Das Selbst schläft in vielerlei Form, aber es erwacht immer nur zum selben Selbst.

Das Leben ist eine Seinsweise des Selbst.

Das absolute Selbst ist die tiefste Ebene des Unbewussten.

Das relative Selbst sieht nicht. Es sortiert Gesehenes oder blendet es aus, um seine Eingriffe danach auszurichten.

Endstrecken

Markus hat mit Karolin Felix gezeugt. Anne bekam mit Arvid Melanie. Beginnen Melanies und Felix' Existenzen mit den Liebesakten ihrer Eltern? Wohl kaum. Denn um die Akte anzustoßen, bedurfte es komplexer Kaska­den vernetzter Ereignisse im Vorfeld. Was ist also der Ursprung von Melanies Person? Es ist der Ursprung einer kosmischen Lawine, die unauf­haltsam weiterläuft. Und was kann das wahre Selbst von Personen sein? Doch nur das, ohne das die Person nicht entstanden wäre. Das absolute Selbst Felix' ist also auch das absolute Selbst Melanies. Sie sind vorüber­gehende Endstrecken komplexer Prozesse, deren Identität im Ursprung aller strukturierten Ereignisse liegt. Oder hieße es besser parallele Etappen? Was sich ereignet, ist Erscheinungsform dessen, was tatsächlich ist.

Gemeinsamer Nenner

Stellen Sie sich vor, kurz nach Ihrer Geburt wäre Schwester Anneli ein Malheur passiert: Sie hätte Sie mit dem Baby aus Kreissaal B vertauscht. Das gesamte Repertoire biographischer Prägungen, sämtliche Erinnerungen an Ereignisse, die Sie betrafen und Menschen, die Ihnen begegnet sind, wären andere. Zweifellos wären Sie nicht mit der Person identisch, die Sie jetzt sind. Aber Sie wären ohne Abstrich Sie selbst. Wenn Sie bestimmen wollen, was der Kern ihrer selbst ist, müssen Sie alles abziehen, was austauschbar ist. Sie sind der gemeinsame Nenner aller Personen, die Sie sein könnten.

Offene Fragen

Gesetzt, Sie wären noch nicht auf der Welt und man würde Ihnen durch pränatale Genimplantate Neurodermitis und Kurzsichtigkeit ersparen. Wäre Ihr Selbst dann ein anderes als das jenes Menschen, der mit unveränderten Genen zur Welt käme?

Gesetzt, der Genforschung gelänge es, am lebenden Menschen ungünstige Gene gegen bessere auszutauschen; zum Beispiel solche für kariesresistente Zähne. Wäre das Selbst des Menschen nach dem Eingriff ein anderes als davor? Wenn nein: Ist das absolute Selbst überhaupt an Gene gebunden? Wenn nein: Wären Sie auch dann Sie selbst, wenn Ihrem Körper ein komplett anderer Chromosomensatz zugrunde läge? Wenn ja: Macht es Sinn, sich mit dem Körper gleichzusetzen, wenn Organe oder Gene ausgetauscht werden können, ohne dass das Selbst ebenfalls einem Austausch unterliegt?

3.3.1. Möglichkeit und Wirklichkeit

Die Sprache macht es uns nicht leicht. Wir fragen....

Wenn wir so fragen, verheddern wir uns; zumindest, wenn wir nicht sehen, dass wir es tun. Wäre das absolute Selbst da, hätte es also ein eigenes Dasein, käme ihm ein Ort zu, an dem es wäre. Hätte es aber einen Aufenthaltsort, der von anderen Orten zu unterscheiden wäre, wäre es ein Objekt. Also hat das absolute Selbst kein besonderes Dasein, in dem es abgesondert existierte. Es ist überall da, wo etwas da ist oder da sein könnte.

Wenn das absolute Selbst aber Hort des Vermögens ist, wahrzunehmen, was sonst als es selbst sollte dann wirkend sein?

Also ist zu fragen: Was ist dem Verwirklichten übergeordnet? Es ist die Möglichkeit; denn nichts kann wirklich werden, wenn es nicht möglich wäre. Möglichkeit ist daher grundlegender als Wirklichkeit. Das absolute Selbst ist die Möglichkeit, wirklich zu werden. Sein Wesen steht über allem, was bereits verwirklicht ist. Sein Wesen ist Sein und Nichtsein zugleich.

4. Selbsterkenntnis

Erkenne dich selbst (griechisch: Gnothi seauton = Γνωθι σεαυτον). Dazu forderte eine Inschrift am Apollontempel in Delphi den Betrachter auf.

Schon früh hatte man erkannt, dass persönliche Reifung nicht nur aus ausgeklügelten Handlungsmöglichkeiten besteht (Hol' schon mal den Wagen, Harry!), die Tieren vorenthalten sind und vertiefter Erkenntnis der Außenwelt entspringen: Durch Beobachtung und Scharfsinn hatte Otto den Verbrennungsmotor erfunden, den Harry später in Bewegung setzte, damit Horst zum Drehort fahren konnte.

Man heißt natürlich nicht, dass es alle erkannten. Der Satz Erkenne dich selbst wird Chilon von Sparta zugeschrieben. Ungeachtet der Tatsache, ob man die Tatsache erkennt, hat persönliche Reifung aber damit zu tun, was das Individuum über sich selbst weiß.

Ausrichtungen
Der Mensch kann seine Identität nicht erkennen, wenn sein Blick an Äußerem hängenbleibt. Zum Äußeren gehört das Feld sinnlicher Erfahrungen ebenso wie das bildlicher Vorgaben. Jedes Du sollst! droht zu verhindern, dass der Mensch erkennt, was er ist. Dem Menschen wird kein Du sollst! gerecht, sondern ein Schau hin und erkenne dich selbst.

Es gibt zwei Felder der Selbsterkenntnis:

  1. Man erkennt die verschiedenen Inhalte und Strukturen des relativen Selbst.
  2. Man erkennt, dass man in Wirklichkeit als relatives Selbst bloß erscheint.

Die erste Ebene bedient sich psychologischer Introspektion. Die zweite bedient sich meditativer bzw. spiritueller Des-Iden­tifikation. Sie führt von der Identifikation mit Erkennbarem zur Erkenntnis der Identität mit der Grundlage allen Seins.

5. Selbstwertzweifel

Das Gottesbild des egozentrischen Menschen ist dualistisch.

Das dualistische Gottesbild birgt stets die Gefahr, den Wert des Menschen geringzuschätzen.

Selbstwertzweifel sind eine Plage der Menschheit. Ihr Ursprung sind irrige Vorstellungen über die Identität der Person. Regelhaft identifizieren sich Menschen mit ihrem relativen Selbst. Sie glauben dieser besondere Leib zu sein, in dem sich Gedanken und Gefühle vermengen. Regelhaft sind Menschen egozentrisch.

Hat man sich fraglos mit der eigenen Person, also dem Ego gleichgesetzt, sieht man sich prompt von einer Frage bedrängt: Was gilt diese Person in einer Welt, die sie zum allergrößten Teil selber nicht ist? Die Antwort ist klar: Sie gilt so gut wie nichts. Selbst einer Bakterie erlaubt die Wirklichkeit, die Person bei Gelegenheit als Brutstätte zu benutzen; oder sie beiläufig aus der Welt zu schaffen.

Gering ist ein Selbstwertgefühl immer dann, wenn sich die Person mit ihrem relativen Selbst gleichsetzt und von dort aus Vergleiche anstellt:

Gibt eine Person alle Identifikationen auf, gibt es keine Vergleiche mehr, die das Selbstwertgefühl schwächen könnten. Jede Identifikation ist ein Gefängnis der Identität. Jeder Gefangene zweifelt an seinem Wert, weil er sich unterworfen sieht. Wer das Gefängnis verlässt erkennt, dass das scheinbar festgestehende Faktum, unterworfen zu sein, nur eine vorläufige Erfahrung ist.

5.1. Lösungen

Das egozentrische Selbstbild reißt eine narzisstische Wunde auf. Die Erkenntnis der Bedeutungslosigkeit, die sich der egozentrischen Person wie ein Ohrwurm aufdrängt, treibt das Ego dazu, nach Lösungen zu suchen. Dabei sind zwei Varianten erkennbar:

  1. Man kann seinen Wert steigern.
  2. Man kann seinen Wert erkennen.
5.1.1. Steigerung

Steigerung heißt: Die Person unternimmt allerlei, um den Wert ihrer selbst zu erhöhen. Dabei orientiert sie sich an Wertvorstellungen, die sie vom Umfeld übernommen hat oder selbst entwirft.

Bei der egozentrischen Steigerung des Selbstwertgefühls ist vieles möglich. Der eine erhöht sich, um sich zu erhöhen, der andere erniedrigt sich zum selben Zweck. Beiden ist gemeinsam, dass sie nicht wissen, was sie sind.
Unsichere Quellen
Unsicher ist jede Quelle des Selbstwertgefühls, wenn sie auf dem beruht, was man hat:
  • Schönheit
  • Wissen
  • Fähigkeiten
  • Intelligenz
  • Moral
  • Besitz
  • Kinder
  • gesellschaftliche Rollen
  • gute Ideen
  • edle Gefühle
  • Potenz
  • elitäre Weltanschauungen

Was man hat, kann man verlieren. Was man verlieren kann, hat man in Wirklichkeit nicht.

Auch wenn die genannten Methoden, den Selbstwert zu steigern, zunächst so klingen, als sei ihre Anwendung ihrer­seits wertlos, ist das ein Trugschluss. Das Bedürfnis nach Selbstwertsteigerung ist eine wichtige Triebkraft, die den Menschen gemeinsam mit elementarer Not aus den Händen eines Schicksals befreit hat, das ihn sonst endlos durch die Steppe hätte streifen lassen.

Die Anwendung von Maßnahmen zur Verbesserung der sozi­alen Position und des persönlichen Rangs ist also durchaus anzuraten; wenn man sie mit Maß und Ziel betreibt und das Wesentliche nicht aus dem Blick verliert. Sie erhöhen das soziale Selbstwertgefühl; jedoch nicht das existenzielle.

Steigerungsstrategien haben einen Nachteil: Ihre Kraft endet am Horizont der Person. Der Gewinn an Selbst­wertgefühl, der damit zu erreichen ist, bleibt von Verlust bedroht. Das Schicksal kennt tausend Kniffe, durch die es stolze Sieger vom Ross holen kann.

5.1.2. Erkenntnis

Ein verlässliches Selbstwertgefühl ergibt sich nicht aus Gewinn und Erwerb. Ein verlässliches Gefühl des eigenen Werts ist nur durch die Erkenntnis zu erreichen, dass Wert nicht auf dem beruht, was man haben und in der Folge auch verlieren könnte, sondern auf dem, was man unverlierbar ist. Sich selbst unverlierbar ist man nur soweit man absolut man selber ist.

Selbstwertgefühl wird durch Beachtung erzeugt:

Jede Reaktion auf etwas ist Eingriff in etwas.

Erkenntnismethoden

Das relative Selbst ist darauf ausgerichtet, einzugreifen. Es tut das in Kennt­nis oder unter Verkennung seiner Identität. Verkennt sich das Ich als bloß relativ, handelt es einseitig im Interesse der eigenen Person. Es wird egozen­trisch hyperaktiv.

Je mehr das Ich beabsichtigt, zum Vorteil der Person einzugreifen, desto mehr füllt es sich mit relativem Selbst: Es denkt, plant, rekapituliert, beurteilt Erin­nerungen, reagiert auf Sinneseindrücke, um sie nach Nützlichkeit oder Gefah­renmoment zu ordnen. Oder es regt sich über Zustände auf, um Kampfkraft auf den Plan zu rufen. Stets bleibt es dabei von der Angst beherrscht, zu kurz zu kommen.

Je mehr sich das Bewusstsein mit Relativem füllt, desto mehr wird das Abso­lute überdeckt. Um dem zu entgehen, streben Menschen auf der Suche nach ihrer Identität einen Zustand an, der durch den Verzicht auf jeden Eingriff in die Welt der Dinge ausgezeichnet ist. Sie versuchen, nicht mehr auf psychi­sche Inhalte oder weltliche Ereignisse zu reagieren, sondern alles ziehen zu lassen, wie es kommt und geht. Sie versuchen, sich keinem egozentrischen Gefühl mehr zuzuwenden und keinen Gedanken mehr aufzugreifen. Bei manchen entleert sich das Bewusstsein so von der Fülle des Relativen, dass die Identität mit dem Absoluten empfunden werden kann.

Durch Selbstbeachtung wird das Selbstwertgefühl von äußeren Faktoren losgelöst; aber nur, wenn man Beachtung nicht durch Bewertung ersetzt, weil jeder Maßstab zur Bewertung mit Bedingungen zusammenhängt. Am Endpunkt reiner Selbstbeachtung ist das Wertgefühl unbedingt. Unbedingtes Wertgefühl ist Liebe.