Die Begriffe Schuld und Verantwortung befassen sich mit Störungen der Gerechtigkeit. Schuld ist unerfüllte Verantwortung. Wer seiner Verantwortung nicht nachkommt, macht sich schuldig. Das Wort Schuld kommt von sollen. Der Schuldige soll eine Pflicht erfüllen, damit die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird.
Im Begriff Verantwortung findet man die Vorsilbe ver- und das Verb antworten. Die Vorsilbe weist auf eine Veränderung hin.
Die Wahl zwischen den Begriffen hat Folgen. Während die Frage nach Verantwortung nach demjenigen sucht, der die Antwort auf ein Problem zu geben hat, fragt Schuld im moralischen Sinn nach dem, der zu bestrafen ist.
Die Zuweisung der Verantwortung ist konstruktiv. Sie sieht ein Problem, das gelöst werden soll. Sie wertet auf, da sie dem Verantwortlichen mit der Pflicht die Fähigkeit zuschreibt, Gutes zu tun. Wer aber Gutes tun kann, ist wertvoll. Verantwortliche haben einen Rang.
Die Zuweisung von Schuld ist destruktiv. Dem Schuldigen wird kein Wert zugeschrieben. Er wird ihm aberkannt. Beim Blick auf den Schuldigen denkt man nicht an das Gute, das er geben kann, sondern an den Schaden, den man ihm zur Strafe seines Unwerts zufügt. Schuldige werden herabgestuft.
Bei Störungen der Gerechtigkeit fragt man nach... |
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Schuld | oder | Verantwortung |
Schuld spricht davon, dass die Störung bereits eingetroffen ist und der Schaden des Opfers nicht mehr gutgemacht werden kann. | Verantwortung geht davon aus, dass der Schaden erst droht oder noch zu beheben ist. | |
Spricht man von Schuld, will man die Waage ausjustieren, indem man dem Täter durch Strafe etwas nimmt. | Spricht man von Verantwortung, will man die Waage ausjustieren, indem der Täter dem Opfer etwas gibt. | |
Der Täter soll leiden. | Das Leid des Opfers soll behoben werden. |
Im alltäglichen Sprachgebrauch ist die Grenze zwischen den Begriffen durchlässig. So sagt man nach einem Verkehrsunfall: Ich war schuld. Dabei denkt man kaum an Strafe, sondern daran, dass man für die Wiedergutmachung des Schadens verantwortlich ist.
Wird man bei Gericht allerdings schuldig gesprochen, wird ein Strafmaß festgelegt. Dabei geht es nicht um die Regulierung eines verursachten Schadens, sondern um die verhaltenssteuernde Verursachung eines neuen. Die Verhaltenssteuerung bezieht sich dabei auf den Täter selbst, aber auch auf andere, die von vergleichbaren Taten abzuschrecken sind.
Man kann vom Leben zur Verantwortung gezogen werden oder von der Gemeinschaft. Dabei handelt es sich um zwei verschiedene Kategorien der Schuld. Die Antwort, die man dem Leben schuldet, ist existenziell. Das Soll, das eine Gemeinschaft fordert, ist eine soziale Norm. Dabei ist klar, dass man die soziale Ebene nur theoretisch von der existenziellen trennen kann. In Wirklichkeit ist auch die soziale Norm, die die Gemeinschaft fordert, Ausdruck der existenziellen Position, an der der Einzelne im Leben steht.
Der Wirklichkeit entkommt man nicht
Die Wirklichkeit zieht jeden für das zur Verantwortung, was er entscheidet. Sie mutet ihm die Konsequenzen zu, die seinen Taten folgen. Den Konsequenzen, die das Leben bestimmt, kann niemand entkommen.
Hier und dort kann man sich dazu entscheiden, die Übernahme der Verantwortung zu verweigern. Auch das ist eine Tat, die Folgen hat. Man wird die Verantwortung dafür zu tragen haben.
Das Leben...
... zieht zur Verantwortung, indem jede Entscheidung, die der Einzelne trifft, Folgen hat, mit denen er konfrontiert wird. Jede Entscheidung führt zu einem veränderten Verlauf der Wirklichkeit. Je nachdem, was man früher entschied, steht man heute vor dieser oder jener Konsequenz, auf die man erneut eine Antwort zu finden hat.
Das gilt auch dann, wenn man etwas entscheidet, was scheinbar nur andere trifft. Die Entscheidung hinterlässt eine Spur im Bild, das man von sich selber hat. Je nachdem, welches Bild entsteht, kann das erhebliche Folgen für das eigene Leben nach sich ziehen.
Sven hat im Rausch sein Kind verprügelt. Um Scham- und Schuldgefühle zu verdrängen, trank er danach erst recht.
Wenn man dem Leben keine Antworten gibt, stellt es Fragen mit wachsender Wucht.
Die Konsequenz, mit der das Leben zur Verantwortung zieht, bleibt konstruktiv. Das Leben versucht nie, einem Täter zu schaden. Es stellt ihn vor die Wahl. Er kann entscheiden, ob er alte Schuld begleicht oder Verantwortung zu umgehen versucht. Umgeht er Verantwortung nicht, wird das Leben ihn belohnen. Umgeht er sie doch, wird es ihn vor Aufgaben stellen, die schwer zu lösen sind.
Jessica hat sich jahrelang davor gedrückt, eine Ausbildung anzutreten. Sechs Jahre nach dem Schulabschluss ist es schwer, noch einen Platz zu finden.
Die Gemeinschaft...
... zieht zur Verantwortung, wenn der Einzelne gegen ihre Regeln verstößt und sie seiner habhaft wird.
Die Gemeinschaft besteht aus Personen, deren Weltbild durch Ängste, Begierden und dem Interesse am eigenen Vorteil beeinflusst wird. Ihr Weltbild wird zudem von Machtverhältnissen bestimmt, die die Geschichte des Kulturkreises in die Gegenwart überträgt. Die Regeln, die eine Gemeinschaft aufstellt, die Schuld, die sie zuweist und die Antworten, die sie vom Einzelnen fordert, weichen deshalb von dem ab, was ein Leben ohne kulturelles Vorurteil von sich aus festlegt.
Je weniger Menschen von ihren Ängsten und Begierden wissen und je mehr sie dem Zufall ihrer Kultur unterworfen sind, desto eher werden sie von Schuld statt Verantwortung sprechen. Je unreflektierter eine Gesellschaft handelt, desto schneller greift sie zur Strafe bevor sie nach Verantwortlichkeit fragt.
Gerechtigkeit
Über Gerechtigkeit wird viel gestritten; obwohl sie jeder gutheißt. Das liegt daran, dass der Begriff Gerechtigkeit ein Behälter ist, den jeder nach Gutdünken füllen kann. Da der Mensch meist unter der Herrschaft seines Egos steht, befüllt er den Behälter mit dem, wovon er sich Nutzen verspricht. Das gilt auch dann, wenn der Nutzen bloß aus dem gutem Gewissen besteht, nach eigenem Urteil nicht eigennützig, sondern gerecht gehandelt zu haben.
Aus dem gleichen Grund hat man den Eindruck, dass die Verantwortung, die das Leben erzwingt, nicht als vollgültig gerecht bewertet werden kann. So viele Mörder, Betrüger und Schinder entkommen dem Zugriff des individuellen Gerechtigkeitssinns; was man nur akzeptieren kann, wenn man Macht und Gerechtigkeit gleichsetzt oder an einen jenseitigen Ausgleich glaubt.
Um über die Gerechtigkeit des Lebens gerecht zu urteilen, müsste man die Wirklichkeit ohne eigenes Streben nach persönlichem Vor- und Nachteil erkennen. Solange man das nicht kann, bleibt unentschieden, ob es Gerechtigkeit als Faktum oder bloß als menschliche Behauptung, Hoffnung und Anspruch gibt.
Schuldgefühle zeigen einen Verstoß gegen die Zugehörigkeit an. Zugehörigkeit ist kein bloßes Dabeisein. Es ist ein Geben und Nehmen. Sobald wir anderen schuldig bleiben, was ihnen zusteht, spüren wir die Gefahr, unseren Platz in der Gemeinschaft zu verlieren. Schuldige werden aus der Gemeinschaft verstoßen, indem man sie umbringt, verjagt, ignoriert oder einsperrt. Das Schuldgefühl ist eine Form der Angst. Es macht uns auf eine Gefahr aufmerksam. Es beeinflusst unser Verhalten und unsere persönliche Entwicklung.
Dem Schuldigen droht nicht nur Ausschluss vonseiten der Gemeinschaft, das Schuldgefühl selbst senkt sein Selbstwertgefühl. Das verminderte Selbstwertgefühl führt dazu, dass sich der Schuldige von sich aus von der Gemeinschaft zurückzieht oder, dass er sich, um Rückzug und Ausschluss abzuwehren, selbstlos um das Wohl der Gemeinschaft bemüht.
Die Regeln, die eine Gemeinschaft festlegt, definieren eine soziale Schuld. Soziale Schuld hängt von Zeitgeist und Kulturkreis ab. Ob eine Person beim Verstoß gegen soziale Regeln Schuld oder Angst empfindet, wird vom Grad ihrer Identifikation mit den Regeln der Gemeinschaft bestimmt; ... und vom Nachdruck, mit der die Gemeinschaft die Einhaltung ihrer Regeln fordert.
Hat eine Person die Regeln verinnerlicht, wird sie beim Verstoß Schuld empfinden. Hat sie die Regeln nicht verinnerlicht, hat sie Angst vor Bestrafung, wenn sie nicht sicher ist, ob sie den Verstoß geheim halten kann.
Schuld und Schuldgefühl
Schuld ist eine objektive Größe. Sie liegt jenseits der Person in der Wirklichkeit. Wie groß sie tatsächlich ist, kann vom Individuum nur subjektiv gedeutet werden. Ihr Ausmaß wird nur durch Taten beeinflusst.
Schuldgefühle spiegeln die subjektive Einschätzung der Person bezüglich ihres Seins und Sollens wieder. Sie werden unmittelbar wahrgenommen. Ihr Ausmaß wird durch Taten und Sichtweisen bestimmt.
Ob man existenzielle Schuld empfindet, ist eine Frage des Gewissens. Das Gewissen ist eine Versammlung des Wissens. Es prüft, ob eine Tat mit dem Wesen des Täters in Übereinstimmung steht. Das Wesen des Täters wird wesentlich von dem mitbestimmt, was er zum Zeitpunkt der Gewissensprüfung weiß oder zu wissen glaubt.
Schulden heißen auch Verbindlichkeiten. Wie klug die Sprache ist! Der Begriff Verbindlichkeit erklärt, warum viele Menschen bereit sind, im Falle gemeinsamer Probleme, die Schuld einseitig auf sich zu nehmen, ohne vorher kritisch abzuwägen. Das Motiv ist Trennungsangst.
Wer die Schuld übernimmt, festigt Beziehungen. Wer dagegen sagt: Das ist dein Problem, nicht meins, verweist den Anderen auf seine eigene Verantwortung und schafft dadurch Distanz. Ertappt sich jemand dabei, wie er in Beziehungen voreilig Schuld übernimmt, könnte er Abhilfe schaffen, indem er lernt, seiner Angst vor Ohnmacht und dem Alleinsein standzuhalten.
Angst vor Ohnmacht? Gewiss: Schuld kann nur haben, wer die Macht dazu hätte, unschuldig zu sein. Wer die Schuld an Problemen übernimmt, geht davon aus, dass er sie durch eigenes Handeln beseitigen kann. Wer die Schuld beim Anderen sieht, setzt sich dessen Entscheidungen aus. Die Erkenntnis, ausgesetzt zu sein, ist für manche schwerer zu ertragen, als zu Unrecht übernommene Schuld.
Als Tom sie schlug, übernahm Amelie die Schuld. Sie hatte ihn wütend gemacht, weil sie zu spät zur Verabredung kam. Von da ab passte sie besser auf.
Das bisher Gesagte klingt so, als könne man alle Schuld aus der Welt schaffen, indem man soziale Absprachen trifft, die den Einzelnen von jeder Schuld freisprechen; gemäß dem Motto: Jeder ist sich selbst der Nächste... und kann daher schuldfrei tun, was jeweils seinem persönlichen Vorteil dient.
Ob das geht, ist zweifelhaft. Schuld hat mit Einbindung zu tun. Unbefleckbar durch jede Schuld könnte das Individuum nur sein, wenn es völlig abgegrenzt vom Rest der Wirklichkeit zu definieren wäre. Das ist es nicht. Besonders die Tatsache, dass die menschliche Spezies überhaupt nur existieren kann, wenn Eltern ihren Kindern Zuwendung geben, reicht aus, um Schuld als etwas zu definieren, das so tief in der Wirklichkeit verankert ist, dass es durch keine menschliche Umdeutung aus der Welt geschafft werden kann.
Wer ein Kind zeugt, übernimmt eine Verantwortung, der er sich nur schuldfrei entziehen kann, wer er tatsächlich nicht in der Lage ist, sich um das Kind zu kümmern. An jedem Schaden, den das Kind durch fehlende Zuwendung zu erleiden hat, macht er sich ansonsten schuldig. Er hat die Pflicht, den Schaden, soweit es in seiner Macht steht, wiedergutzumachen. Es gibt Schuldgefühle, die nur im Kopf entstehen, aber auch solche, die durch Fakten verursacht werden und nur durch Taten schuldfrei zu beheben sind.
Schuldgefühle sind nicht immer nützlich. Oft wird man in ihrer Gegenwart krank. Vier Gründe sind dafür zu nennen:
Schuld ist ein Verstoß gegen die Zugehörigkeit. Bei leichter oder mäßiger Schuld geht es meist um soziale Zugehörigkeit. Wir schulden anderen Personen, was diesen zusteht. Um die Zugehörigkeit zu sichern, reicht es, die Schuld aus dem zu begleichen, was wir haben. Bei sozialer Schuld wird unsere Person als solche nicht infrage gestellt. Sträubt man sich aber, soziale Schuld zu begleichen, kann das zu chronischen Spannungen führen.
Schwere Schuld besteht, sobald wir anderen einen Schaden zugefügt haben, der nicht mehr gutzumachen ist. Hier geht es um existenzielle Zugehörigkeit. Es geht nicht nur um unseren Platz in der Gruppe. Es geht um den Platz in der Schöpfung.
Während man sich bei der sozialen Schuld nicht grundsätzlich hinterfragen muss, bedarf existenzielle Schuld einer Neubestimmung des Egos. Eine existenzielle Schuld, die nicht beglichen werden könnte, gibt es nicht. Die schwerste Schuld ist jedoch nur zu begleichen, wenn man die Bindung ans Ego aufgibt. Wer bei schwerster Schuld das Ego nicht aufgibt, wird durch das Schuldgefühl nicht geläutert, sondern krank.
Krankhafte Schuldgefühle entstehen auch, wenn man Angst vor Selbständigkeit mit Schuld verwechselt. Wer sich vor den Folgen eigenständiger Entscheidungen fürchtet, neigt dazu, jeden Impuls zur Vertretung seiner Interessen schuldhaft zu erleben. Da Schuldgefühle den Anspruch auf Selbstbestimmung schwächen, schützen sie den ängstlichen Menschen vor der eigenen Courage. Die Betonung der Zugehörigkeit durch den missbräuchlichen Gebrauch von Schuldgefühlen kann zu chronischen Depressionen führen.
Schuldgefühle sind unangenehm. Schuld wird als Gefahr erlebt. Man geht davon aus, dass das Risiko, Schaden zu nehmen, durch Schuld gesteigert wird. Da man dazu neigt, Schuld und Schuldgefühl gleichzusetzen, neigt man auch dazu, Schuldgefühle zu verdrängen. Man meint, dass man mit dem Schuldgefühl auch die Schuld beseitigen kann. Tatsächlich geht das nicht.
Der Zusammenhang zwischen Schuld und Schuldgefühl ist locker. Die Stärke des Schuldgefühls sagt nur wenig über das objektive Ausmaß einer Schuld. Das objektive Ausmaß einer Schuld ist letztlich unbekannt.
Benjamin und Arnold fuhren von der Party betrunken nach Hause. Benjamin hatte Glück. Der Weg war frei. Er kam ohne Vorfall bis zur Garage. Arnolds Weg kreuzte ein Kind. Jetzt traut er sich kaum noch die Augen zu heben. Dabei hat er eigentlich nichts anderes als Benjamin gemacht.
Wenn Zufall mitentscheidet, ob man von Schuldgefühlen erdrückt wird oder keine hat, ist nur schwer zu entscheiden, woran Schuld zu messen ist. Hat Arnold genauso wenig Schuld, wie Benjamin empfindet; weil er faktisch nichts anderes tat als der? Oder ist Benjamin ebenfalls schuldig, obwohl niemand durch ihn zu Schaden kam?
Die Verdrängung von Schuldgefühlen ist eine häufige Ursache seelischer Störungen. Vieles spricht dafür, Schuldgefühle bewusst zu durchleben:
Schuld wird durch die Verdrängung des Gefühls sowieso nicht beseitigt.
Zwischen der Wucht des Gefühls und tatsächlicher Schuld besteht keine objektive Verbindung.
Die Verdrängung des Schuldgefühls kostet Energie, die womöglich nicht mehr zur Verfügung steht, tatsächliche Schuld zu vermeiden.
Schuldgefühle sind Ausdruck der Person, die sie empfindet. Schuldgefühle ungehindert zuzulassen, hat eine reinigende Wirkung. Gefühle ohne Auswahl zu durchleben, ist eine Bejahung des eigenen Selbst. Wer sich bejaht, vermeidet die Schuld, sich zu verleugnen und vermindert die Gefahr, andere zu verneinen.
Die Verdrängung von Schuldgefühlen ist oft von Projektion begleitet; und diese ihrerseits von Spaltung. Wer die Übernahme eigener Verantwortung umgeht, neigt dazu, sie anderen zuzuschreiben. Sobald er Gut und Böse in zwei getrennte Kategorien gespalten hat, kann er das Böse nahtlos projizieren. Glaubt man daran, der Andere sei zunächst am Zuge, ein Soll zu erfüllen, fühlt man sich von Erfüllungsdruck und Zweifeln am Eigenwert befreit. Ich bin mit mir und der Welt im Reinen. Wenn etwas nicht stimmt, dann liegt es beim anderen.
Einerseits entlastet die Zuschreibung unmittelbar, andererseits lähmt sie die Initiative dessen, der sich ihrer bedient. Dem kurzfristigen Vorteil der Schuldzuweisung stehen langfristig Nachteile gegenüber. Durch die Passivität, die sie fördert, gerät man ins Hintertreffen. Fühlt man sich im Hintertreffen, neigt man dazu, Schuldige dafür zu suchen. Ein Teufelskreis entsteht. Wer dabei unbelehrbar ist, zeigt ein Leben lang vorwurfsvoll nach irgendwo und versäumt, sein Glück aus eigener Kraft zu suchen.
Schuldzuweisung kann auch narzisstische Motive haben. Zeige ich auf die Schuld anderer und damit auf deren Makel, steige ich in der Wertschätzung meiner selbst. Der andere hat Dreck am Stecken. Ich selbst bin so tapfer, darauf hinzuweisen und verbessere dergestalt die Welt.
Menschen üben verschiedene Verhaltensmuster aus. Sind solche Muster akzentuiert und verursachen daher psychosoziale Probleme, geht die Psychiatrie von sogenannten Persönlichkeitsstörungen aus. Bei drei Mustern ist ein besonderer Umgang im Bezug zu Schuld und Schuldgefühlen zu beobachten. Sie entsprechen den eben beschriebenen Umgangsarten.
Die depressive Persönlichkeit ist vorauseilend bereit, in psychosozialen Konfliktsituationen, Schuld einseitig zu übernehmen. Sie geht davon aus, dass das Wohl anderer zuallererst zu bedenken ist und erst ganz zum Schluss das eigene. Da der Depressive in der Folge meint, anderen die Erfüllung all ihrer Bedürfnisse zu schulden, kommt er bei der Erfüllung seiner schier endlosen Pflichten schnell ins Hintertreffen. Passiert das, sind gemäß seiner Logik Schuldgefühle angebracht und er wird kaum zögern, solche zu empfinden. Verausgabt sich die depressive Persönlichkeit bei der Fürsorge für andere, glaubt sie, dass man ihr im Gegenzug Dankbarkeit schuldet.
Die paranoide Persönlichkeit dreht den Spieß um. Kommt jemand auf den naiven Gedanken, man könne sie auf ein Fehlverhalten hinweisen, das sie in der Folge einsichtig korrigiert, wird er prompt enttäuscht. Gemäß der Devise Schuld sind immer die anderen, geht der Paranoide zur Abwehr über und führt Beweise an, dass nicht er irgendeiner Schuld zu beschuldigen ist, sondern der Kritiker selbst und darüber hinaus der ganze Rest der Welt. Ich soll auf deinen Füßen stehen? Du bist es doch, der seine Füße dorthin streckt, wo ich darüber stolpern muss.
Die narzisstische Persönlichkeit ruht im Glanz der eigenen Herrlichkeit oder sie ist damit beschäftigt, ihn immer weiter zu erhöhen. Im ersten Fall können andere dankbar sein, dass sie die Gesellschaft des Narzissten überhaupt genießen dürfen und der Genuss ist gewiss so groß, dass damit alle Schuld beglichen ist, die dem Verhältnis zwischen Sonne und Mond entspringen könnte. Im zweiten Fall steht der Mond der Sonne sogar im Weg und verhindert durch sein belangloses Dasein, dass das Licht der Sonne aus jedem Winkel des Universums zu erkennen ist. Nur einer kann dem anderen in diesen Fällen etwas schulden.
Schuldgefühle führen dazu, dass der, der sie empfindet, bereit ist, die Ansprüche dessen zu erfüllen, dem gegenüber er sich schuldig fühlt. Darüber hinaus dämpfen sie expansive und egozentrische Impulse generell und räumen so das Feld für den, der sich selbst für schuldlos hält. Wer sich schuldig fühlt...
Schuldgefühle sind daher nicht nur innerseelische Wirkkräfte. Es sind auch soziale und politische Werkzeuge. Auf der Ebene unmittelbarer Beziehungen werden Schuldgefühle geschürt, um beim Ringen um Dominanz und der Einforderung von Loyalität die Oberhand zu behalten.
Während wir diese drei Sätze gelesen haben, wurden sie weltweit tausendfach ausgesprochen. Wir können davon ausgehen, dass bei einem großen Teil davon die Ebenbürtigkeit des Beschuldigten missachtet und sein Selbstbestimmungsrecht negiert wurde; und dass der Vorwurf nicht Gerechtigkeit im Auge hatte, sondern bloß den Vorteil dessen, der ihn erhob. Schuldgefühle werden eingepflanzt und wachgerufen um die Beschuldigten fremden Interessen zu unterwerfen.
Was im Mikrokosmos persönlicher Beziehungen zum Einsatz kommt, folgt auf politischer Ebene dem gleichen Mechanismus. Seit der Urmensch erkannte, dass man das Verhalten anderer nicht nur durch Gewalt bestimmen kann, sondern auch indem man die Vorstellungen beeinflusst, die sie über geschuldetes Verhalten haben, hat sich die Macht zum Hüter der Moral ernannt und die Moral prompt so verkündet, dass es ihrem Machterhalt entgegenkommt. Resultat sind Weltanschauungen, die als Introjekte ordnungspolitisch wirksam sind, die das Wohl des Einzelnen aber oft durch Induktion von Schuldangst dämpfen.
Beispielhaft sind Tabus zu nennen, die bei Naturvölkern Individuen davon abschrecken, ihrem Tatendrang freien Lauf zu lassen und so die Stammesordnung zu gefährden. Beispielhaft sind aber auch politisch propagierte Denkmuster großen Stils, die ihren eigenen Bestand erfolgreich sichern, indem sie jeden Zweifel an ihrer Lehre bereits als schwere Schuld beschreiben. Perfektioniert wurde das Werkzeug der Schuldangst durch die Offenbarungsreligionen, deren Beispiel und Wirkung bis in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus erkennbar sind.
Im europäischen Kulturkreis wurde der Umgang mit Schuld vom biblischen Weltbild geprägt. Für die abrahamitische Theologie ist Gehorsam eine bedingungslose Pflicht, die jeder, der in ihren Machtbereich hineingeboren wird, ihren Verkündern schuldet. Zugleich hat sie den Griff zum Baum der Erkenntnis zur Ursünde erklärt und die eigenständige Urteils- und Entscheidungsfähigkeit des Individuums somit als Ursprung diabolischer Schuld bezeichnet. Jede Kritik an ihrer Lehre hat sie durch Androhung einer vorgeblich gottgewollten Vernichtung all derer eingeschüchtert, die ihre angebliche Erbschuld nicht durch blinde Gefolgschaft begleichen.
1 Samuel 15, 23:*
... Eigensinn ist Sünde wie schuldbarer Götzendienst...
Psalm 101, 8:*
Jeden Morgen will ich alle Frevler im Land vernichten...
Psalm 139, 22:*
Mit äußerstem Haß hasse ich sie.
Da die Entwertung anderer seiner Ausbreitung ebenso dient wie die Strafangst in den eigenen Reihen, schreibt der abrahamitische Glaube Schuld und Verdammnis eine überragende Bedeutung zu.
Das Christentum hat die alttestamentarische Theologie übernommen. Es hat Europa mit deren angeblich göttlich verbrieften, tatsächlich aber politisch motivierten Schuldzuweisungen überschwemmt. Über Jahrhunderte hat das Christentum Abermillionen sensiblen Menschen teils quälende Schuldgefühle für "moralische" Verfehlungen eingeimpft, die bei Lichte betrachtet nichts anderes als natürliche Impulse sind. Das hat in Europa zu schweren, breit gestreuten neurotischen Fehlentwicklungen und gesellschaftlichen Verwerfungen geführt; ohne die die besonderen Katastrophen des 20. Jahrhundert nicht erklärbar wären.
Offenbarung 19, 3:*
Und abermals riefen sie: "Alleluja"! Ihr Rauch steigt auf in alle Ewigkeit.
Welche Moral als die eines verwirrten Geistes sähe in fehlendem Glauben eine Schuld, die ein liebender Gott durch ewige Folter bestraft. Und wie sollten Glückselige das Unglück Leidender bejubeln, ohne dass ihnen der Jubel im Halse stecken bleibt?
Während der Einfluss des Christentums als Verursacher pathologischer Schuldgefühle im Laufe des 20. Jahrhunderts breitflächig nachließ, wurde die Befreiung in Deutschland durch ein neues Thema kollektiver Schuld überlagert: die an den Verbrechen des Dritten Reichs. Bemerkenswert daran ist der historische Zusammenhang, der die alttestamentarische Mythologie, die als Wurzel christlicher Schuldideen zu erkennen ist, mit der nationalsozialistischen Weltanschauung verbindet.
Der abrahamitische Kulturkreis betrachtet den Nationalsozialismus als einen Fremdkörper, der von ihm abgespalten aus der Geschichte aufgetaucht ist, so als ob er selbst damit nichts anderes zu tun gehabt habe, als darunter zu leiden und als ob es selbstverständlich sei, nach dem Ende der entsetzlichen Entgleisung, die alten Denkmuster beizubehalten. Dabei sind die Parallelen zwischen der alttestamentarischen Ideenwelt und der nationalsozialistischen unübersehbar.
Resonanzen der Ideenwelt
alttestamentarisch | nationalsozialistisch |
Einem versklavten Volk schickt Gott einen Propheten, der es aus der ägyptischen Fronpflicht in die Freiheit führt. Dieses Volk ist dazu auserwählt, Land zu erobern und von dort aus für immer über sämtliche Nachbarvölker zu herrschen. Unterwegs zum Ziel muss es im Auftrag Gottes ein absolut wertloses Volk vernichten: die Kanaaniter. | Einem gedemütigten Volk schickt die Vorsehung einen Führer, der es von der Pflicht befreit, Reparationen zu zahlen. Das bislang gedemütigte Volk ist dazu auserkoren, neuen Lebensraum im Osten zu erobern und 1000 Jahre lang die Welt zu beherrschen. Unterwegs muss es ein wertloses Volk, das dem Heil im Wege steht, vom Antlitz der Erde vertilgen: die Juden. |
Deutlich ist auch, dass die nationalsozialistische Ideologie eine groteske Überspitzung christlich-abendländischer Überzeugungen war, die bis dahin ungebrochen im Kolonialismus zum Ausdruck kamen. Der Kolonialismus war von der typisch biblischen Idee landerobernder Kolonialisten beseelt, Träger der einzig werthaltigen Kultur zu sein und daher nicht nur berechtigt, sondern quasi verpflichtet, sich auf Kosten aller anderen auszubreiten. Im Zeitalter des Kolonialismus betrachtete das christliche Europa die ganze Welt als sein gelobtes Land, das es im Auftrag des biblischen Gottes dem eigenen Machtbereich einzugliedern galt; und bei dessen Unterwerfung konfessioneller Hochmut, Nationalismus und Rassismus fließend ineinander übergingen.
Die jahrtausendelange Prägung des abendländischen Denkens durch die Bilderwelt der abrahamitischen Theologie hatte in Europa den Resonanzboden einer Vorstellungswelt geschaffen, die darüber hinaus apokalyptische Vernichtungsereignisse als Sprungmarken göttlicher, also höchster Gerechtigkeit ansah. Erst im Hinblick auf diesen Resonanzboden ist verstehbar, warum Abermillionen im Zentrum des christlichen Kontinents einer Weltanschauung folgten, die das Bündel der alttestamentarischen Kernthemen in eine neue Heilsbotschaft umgoss, deren Menschenverachtung in der biblischen Heilsgeschichte ihr Vorbild fand.
1 Samuel 15, 1-3:*
Samuel sprach zu Saul: "Mich hat der Herr gesandt... Gehe nun hin und schlage Amalek, vollstrecke an allem... den Bann und verschone nichts; töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge...
Deutschland hat als Erbe des Drittens Reichs den Mut gehabt, sich zur Schuld am begangenen Unrecht zu bekennen. Das ist auch gut so. Die abrahamitische Tradition hat diesen Mut nicht. Die Schuld an den Verbrechen der biblischen Vorväter verleugnet sie unter dem Deckmantel einer Frömmigkeit, die angeblich dem höchsten moralischen Richtmaß des Kosmos verpflichtet ist.
Jeder, der seinen Verstand nicht durch den Mutwillen eines vorsätzlichen Glaubens entmachtet, kann durch die Lektüre der Bibel erkennen, dass die abrahamitische Theologie nicht von Gott gestiftet ist, sondern als ideologischer Überbau militärischer Pläne entworfen wurde, in deren Verlauf es zu schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit kam. Die Verleugnung der dabei angefallenen Schuld durch Glaubensakte hat den Weg in historische Ereignisse gebahnt, deren Schuld nur durch die Willkür neuer Glaubensakte verleugnet werden kann. Mehr als Glaube nützen uns Mut und Redlichkeit.
Dass konfessionelle Glaubenslehren ihren Bestand durch Induktion irrationaler Schuldangst sichern, heißt nicht, dass Schuld und Schuldvermeidung keine zentralen Themen einer wahrhaft religiösen Lebensführung wären. Religion heißt Wiederanbindung. Der religiöse Mensch sucht die Bindung zu etwas Heiligem. Als heilig stellt er sich dabei eine Instanz vor, die jeder Befleckung durch ungetilgte Schuld ledig ist. Der Anbindung an das Heilige kann eigene Schuld nur im Wege stehen; und da nichts leichter ist, als dem Gebot der eigenen Reinheit etwas schuldig zu bleiben, bleiben Schuld, deren Vermeidung und Wiedergutmachung Themen, die der religiöse Mensch zeitlebens zu beachten hat.
So leicht es zu sein scheint, Schuldfreiheit als religiöses Anliegen zu erkennen, so schwer ist es zugleich festzulegen, worauf religiöse bzw. existenzielle Schuld beruhen könnte. Weit davon entfernt, darauf eine verbindliche Antwort zu geben, sei in aller Vorsicht Folgendes dazu gesagt...
Einerseits ist der Einzelne das, was er in Wirklichkeit ist. Andererseits spielt fast jeder Rollen, durch die er sich bemüht, als etwas zu erscheinen, was er hinter der Maske des Spiels nicht wirklich ist. Darauf fußt eine existenzielle Grundschuld.
Der Einzelne entsteht aus der Wirklichkeit. Sie macht ihn zu dem, was er ist. Als das, was er ist, hat die Wirklichkeit den Einzelnen in sich eingefügt. Zu dem, was der Einzelne wirklich ist, gehört seine Freiheit, so zu tun, als sei er etwas anderes. Im egozentrischen Rollenspiel wird diese Freiheit ausgeübt.
Der Freiheit, von sich abzuweichen, entspricht zugleich die Freiheit, genau das nicht zu tun. Nur wer sich dazu entscheidet, nicht von dem abzuweichen, was er wirklich ist, kann im existenziellen Sinne schuldfrei sein.
Wer sich annimmt, wie er ist, ohne sich zweckgerichtet zu verformen, nimmt auch andere an, so wie sie sind. Er wird sie weder abwerten noch ihnen absichtlich schaden. Es kann sein, dass man durch die Begegnung mit jemandem, der ist, was er ist, etwas erleidet. Dann entsteht entweder keine Schuld oder die Schuld liegt bei dem, der leidet. Er schuldet der Wirklichkeit, sich und den anderen so sein zu lassen, wie sie in Wirklichkeit sind. Steht ein Baum, wo er steht und wirft einen Schatten, trägt er am Schatten keine Schuld.
Sein zu wollen, was man nicht wirklich ist, wird durch Motive bewirkt. Durch ein eigenmächtig festgelegtes Sosein will man etwas erreichen: Vorteile oder die Verhütung von Nachteilen. Jedes absichtlich zielgerichtete Festlegen eines persönlichen Soseins droht die existenzielle Grundschuld zu erhöhen. Die meisten Absichten sind dabei nicht bewusst. Erst durch Selbsterforschung kann man viele der Motive erkennen, unter deren Einfluss man handelt. Das gilt vor allem für solche, die zu psychologischen Rollen geronnen sind und eine verdeckte Manipulation des Umfelds bezwecken.
Daraus folgt:
Wer so ist, wie er ist, ohne damit etwas zu bezwecken, ist schuldfrei. Man glaube nicht, dass das einfach wäre. Zu sein, was man ist, heißt keineswegs bloß die Person zu sein, deren Rolle man im Leben spielt. Es heißt, man selbst zu sein... und das Selbst ist stets größer, als jede Rolle, die man spielen könnte. Tatsächlich ist man nur dann man selbst, wenn man sich nicht mehr mit seiner Person verwechselt. Das zu erreichen, ist schwerer, als zeitgleich Chinesisch, Klavier und höhere Mathematik zu erlernen. Schuldfrei kann nur werden, wer Schuld anerkennt, ohne davon etwas zu erhoffen. Wer kann das schon?
Der existenziell schuldfreie Mensch ist der unverstellte Mensch. Der unverstellte Mensch hat keiner allgemeinen Regel zu entsprechen. Der unverstellte Mensch ist das, was er ist. Nur als das, was man ist, kann man das Heilige erreichen.
* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.