Das Wesen der Dinge liegt nicht in dem, als was sie erscheinen. Es liegt in dem, was ihr Erscheinen begründet.
Die Begriffe Wirklichkeit und Realität werden oft synonym verwendet. Eine sprachgeschichtliche Bestimmung ergibt Indizien dafür, dass eine Gleichsetzung beider die Wirklichkeit verkennt. Wirklichkeit ist mehr als Realität.
Wirklich besteht aus zwei Bestandteilen: dem Verb wirken und der Endsilbe -lich. Vermutlich gehen wirken und Werk wie der Wurm auf indoeuropäisch ṷer- = drehen, biegen, winden, flechten zurück. Dazu gehört der veraltete Begriff Wirkwaren, der heute durch Textilen (lateinisch texere = weben, flechten) ersetzt ist. Das Verb wirken verweist auf eine Tätigkeit, die einzelne Stränge zu einem Ganzen verwebt. Wo etwas getan wird, gibt es einen Täter.
Die Silbe -lich entstammt dem germanischen Substantiv lika = Körper, Gestalt, dem auch das Wort Leiche entspringt. Weder ein Körper noch eine Gestalt sind Schüttelhaufen unverbundener Teile. Im Gegenteil: Sie bilden ein jeweils Ganzes. Wirklichkeit erscheint als verwobene Gestalt, ohne dass ihre Erscheinung sie vollständig enthält.
Die Endsilbe -keit im Begriff Wirklichkeit ist Abkömmling des indoeuropäischen Verbs kāi = scheinen, leuchten. Wirklichkeit leuchtet und bewirkt durch ihr Leuchten, was in Erscheinung tritt. Wirklichkeit ist Sonne und Mond zugleich.
Real ist von lateinisch res = Sache abgeleitet. Real sind Objekte, die in der Wirklichkeit vorliegen. Objekte selbst weben jedoch nicht, sondern sind ihrerseits verwoben. Die Realität unterliegt der Wirklichkeit, ohne sie zu umfassen oder mit ihr identisch zu sein. Während die Realität als Gewebe von Objekten betrachtet werden kann, umfasst die Wirklichkeit auch den Weber: das Subjekt, das kein Gewebe ist, sondern wirkt und erkennt.
Weber und Gewebe
Objekte | Subjekt | |
Wirklichkeit | + | + |
Realität | + | - |
Realität benennt das Gefüge des Dinglichen. Wirklich wird es durch die Gegenwart des Betrachters. Objekte mögen möglich sein, ohne Subjekt sind sie nicht wirklich.
Zum Vorstellungsfeld von Wirklichkeit und Realität gehört das Existierende. Der Begriff Existenz leitet sich vom lateinischen ex-sistere = heraustreten, vorhanden sein ab. Sistere heißt anhalten, zum Stehen bringen. Vor Gericht sistiert ein Verfahren, wenn es eingestellt wird. Im OP sistiert die Blutung, wenn der Chirurg die Ader verschließt.
Die Vorsilbe Ex- zeigt an, dass der Ursprung des Existierenden nicht in dem Feld liegt, in das es hinaustritt. Das heißt allerdings nicht, dass es als verwirklichte Gestalt bereits vor dem Heraustreten außerhalb des Existenzfeldes vorläge und nach dorthin verschoben würde. Vielmehr liegt die bewirkende Kraft des Existierenden außerhalb des Feldes, in dem das Existierende zum Vorschein kommt. Existierendes ist Ausdruck dessen, was sich durch seinen Austritt Ausdruck verschafft. Ist es ins Feld des Ausgedrückten herausgetreten, besteht seine Existenz solange, wie seine Gestalt im Fluss der Verwandlung zum Stehen gebracht ist. Der Apfelkuchen existiert, bis er seinen Fressfeinden zum Opfer fällt.
Macht und Vermögen
Macht kommt von machen: falsch! Machen geht auf indoeuropäisch maĝ = kneten zurück. Jede Rührmaschine macht etwas, ohne dass sie Macht hätte.
Macht, Vermögen und Möglichkeit: alle drei Begriffe entspringen der indoeuropäischen Wurzel magh = können. Wer etwas vermag, hat die Möglichkeit, die Dinge dorthin zu bringen, wo er sie haben will. Dazu muss er sie verstehen. Da Macht ohne Verstand unmöglich ist, liegt Macht ausschließlich im Subjekt.
Wasser hat nicht die Macht, Ebenen zu überfluten. Fluten sind physikalische Prozesse, in deren Verlauf Ebenen untergehen. Wasser hätte nur die Macht, zu überfluten, wenn es die Macht hätte, es nicht zu tun. Macht ist die Freiheit, zu entscheiden.
Wirkliche Macht kann man nicht haben. Wirkliche Macht kann man nur sein. Wer Macht bloß hat, ist Mittel. Tyrannen haben Macht, aber sie sind keine. Sie sind Mittel der Verirrung ihrer selbst oder der Verirrung von Millionen.
Sein Auftauchen im Existenzfeld setzt das Existierende Kräften aus, die einen Wandlungsprozess bewirken. Deswegen kommt das Existierende niemals ganz zum Stehen. Auch wenn seine Form zunächst unverändert erscheint, unterliegt es der Zeit, also der Tatsache, dass es einer Dynamik sich wandelnder Feldkräfte ausgesetzt ist, die schließlich das Ende des Existierenden herbeiführt. Das Wesen materieller Partikel, die sich zu Existierendem verbinden, besteht nicht darin, da zu sein, sondern auftauchen zu können.
Falsch gefragt
Existiert das Subjekt der Wirklichkeit? So ähnlich wird oft gefragt. Meist wird dabei statt der Wendung Subjekt der Wirklichkeit der Begriff Gott benutzt. Zu einer plausiblen Antwort auf diese Frage kommt man erst, wenn man Subjekt und Objekt genau unterscheidet. Meist wird das nicht getan. In der Folge wird das Subjekt der Wirklichkeit als ein wissendes und mächtiges Objekt vorgestellt, das über allem thront. Tatsächlich wissen Objekte aber nichts. Sie sind auch keine Macht.
Objekte sind Eigenschaften unterworfen. Man wird keins finden, das nicht mindestens einer davon unterläge. Durch seine Eigenschaften wird die Existenz des Objekts verwirklicht und ein Objekt, das nicht existierte, wäre keins. Daher macht die Frage nach der Existenz eines bestimmten Objektes Sinn. Sie kann mit ja oder nein beantwortet werden. Ja heißt, dass das Objekt als etwas Erkennbares erscheint.
Anders ist es beim Subjekt. Das Subjekt hat keine Eigenschaften, denen es unterworfen wäre. Es ist in kein bestimmtes Sosein angehalten. Das Subjekt ist Vermögen. Es ist das Vermögen, zu erkennen und in Erkanntes einzugreifen. Eigenschaften nimmt es nur soweit an, wie es ihnen zugrundeliegt. Das Subjekt existiert daher nur, wenn es eine Möglichkeit seiner Existenz verwirklicht. Existiert es nicht, schmälert das sein Vermögen keineswegs. Als Möglichkeit, zu sein oder nicht, steht es auch dann über all dem, was existieren könnte, wenn es sich gegen jede Existenz entscheidet. Die Aussage, dass das Subjekt der Wirklichkeit existiert, trifft daher ebenso zu wie die Aussage, dass es nicht existiert.
Obwohl Wirklichkeit ein Ganzes ist, also alles Gegebene und das Gebende umfasst, kann der Verstand sie begrifflich in Aspekte unterteilen:
Die Wirklichkeit, wie sie uns vor Augen tritt, enthält alle drei Aspekte. Nichts spricht jedoch dagegen, dass eine Wirklichkeit aus reinem Bewirkenkönnen besteht, ohne dass das Können etwas bewirken würde. Die Möglichkeit des Bewirkenkönnens ist für sich allein vollständig, während es nichts Verwirklichtes geben kann, ohne dass die Möglichkeit seiner Existenz vorausgesetzt ist; ihm also das Subjekt gegenwärtig ist.
Die Wirklichkeit besteht nicht nur aus Realitäten, sondern auch aus Möglichkeiten, die verwirklicht werden könnten. Damit etwas verwirklicht wird, muss es etwas geben, das die Entscheidung dazu trifft. Im Kleinen wird so entschieden, an welcher Position sich ein bestimmtes Elektron befindet, im Großen, welche Massen Elementarteilchen haben und wie das Universum in der Folge aussieht.
Um etwas bewirken zu können, bedarf es zweier Vermögen:
Was diese Bedingungen erfüllt, kann etwas bewirken. Erkenntnis ist Voraussetzung zur Entscheidung. Entscheidung ist bereits Eingriff. Was eingreift, ohne aus Erkenntnis heraus zu entscheiden, bewirkt nichts, selbst wenn sein vermeintliches Handeln Folgen hat. Es ist Mittel jener Kraft, die über es bestimmt und als tatsächlich Handelndes anzusehen ist.
Wir gehen davon aus, dass wir nicht nur Mittel uns unbekannter Kräfte sind. Wir gehen davon aus, dass wir als Bewirkende aus uns heraus etwas bewirken. Als Bewirkendes schafft das Bewirkenkönnen Fakten. Fakten sind Gemachtes (lateinisch facere = machen). Unsere Möglichkeit, als Bewirkende etwas zu erkennen und einzugreifen, wird durch das Bewirkte eingeschränkt, das wir als Personen sind und dem wir als Welt begegnen.
Brennweiten
Wer den Blick auf die Welt fokussiert, sieht sie als Wirklichkeit. Wer nach der Wahrheit fragt, erkennt Welt als Erscheinung.Das Verwirklichte umfasst, was gegeben ist. Dazu gehört das Bewirkende ebenso wie das bloß Reale. Alles Verwirklichte wirkt auf andere Aspekte der Wirklichkeit ein. Das macht seine Wirklichkeit aus.
Gespenster sind insofern unwirklich, wie sie nicht in der Lage sind, auf die Wirklichkeit einzuwirken. Die Furcht vor Gespenstern gehört im Gegensatz dazu zur Wirklichkeit. Sie kann erhebliche Folgen haben.
Alles, was ist, ist so wie es ist, weil es anderem begegnet. Vor der Begegnung besteht ein Feld von Möglichkeiten, die mit bestimmter Wahrscheinlichkeit verwirklicht werden können. Sämtliche Teile der Wirklichkeit verflechten sich durch wechselseitige Einwirkungen zu dem, was durch seine Verflochtenheit ein Ganzes ist. Das bloß Reale wirkt dabei nicht selbst. Es stellt als Funktion des Bewirkenden Weichen.
Achim war in der Elfringhauser Schweiz auf Wandertour. Als er vom Wanderweg A3 nach A4 abbiegen wollte, schoss Bambus aus dem Boden und versperrte den Durchgang. Dann eben nicht, dachte Achim überrascht... und nahm A5. Hier gehen wir davon aus, dass der Bambus nicht selbst über sein plötzliches Wachstum entschied, sondern als etwas durch Kräfte Bewirktes zu gelten hat.
Verwirklichtes kommt nicht von irgendwoher, so als entstünde es zunächst außerhalb der Wirklichkeit und verwöbe sich erst in einem zweiten Schritt. Vielmehr bringt die Wirklichkeit Aspekte hervor, die als neue Teile auftauchen und für die Dauer ihrer Existenz im Flechtwerk der Wirklichkeit bleiben.
Dem Bewirkenkönnen kommt mehr Wirklichkeit zu, als dem, was es bewirkt. Verwirklichtes, das auftaucht, wird von Kräften ins Dasein gebracht, die von je her wirken. Die Qualitäten verwirklichter Teile sind nicht zufällig so, wie sie sind. Sie werden vom Wesen der Wirklichkeit bestimmt. Das Wesen der Wirklichkeit tritt ihr im Verwirklichten als Subjekt entgegen. Daher sind alle Teile der Wirklichkeit deren Ausdruck und nicht nur Komponente. Alles, was wirklich ist, hat einen gemeinsamen Nenner.
Das Ich, das sich seiner selbst bewusst ist, das Bewusstsein, der Vogel, dessen Flug das Bewusstsein wahrnimmt sowie die gedanklichen Assoziationen und Handlungsimpulse, die der Wahrnehmung folgen, sind Aspekte eines Prinzips.
Das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit ist ausschlaggebend für sein seelisches Befinden. Wie man sich der Wirklichkeit gegenüber verhält, hängt davon ab, von welcher Sichtweise man ausgeht. Es gibt zwei Möglichkeiten:
Von Dudweiler nach Herrensohr
Newton ging davon aus, dass Raum und Zeit unabhängig voneinander sind. Einstein wies darauf hin, dass Zeit davon abhängt, mit welchem Tempo man Raum durchquert. Bei der Fahrt zu Tante Trinchen nach Herrensohr lässt man die Feinheit des Einstein' schen Weltbilds erfolgreich außer Acht. Es geht auch ohne sie. Die trillionstel Sekunde, die man zu spät kommen mag, sei Tante Trinchens Apfelkuchen als zusätzliche Überlebenszeit von Herzen gegönnt.
Ähnliches gilt für die Unterscheidung zwischen Teilsein und Ausdruck. Im Alltag kann man viele Entscheidungen sinnvoll treffen, obwohl man sein Selbstbild aufs Teilsein beschränkt.
Während die Erkenntnis der physikalischen Verbundenheit aber erst bei der Reiseplanung nach α-Centauri zur Geltung kommt, ist die Erkenntnis der existenziellen Verbundenheit bereits beim Entwurf eines zufriedenen Daseins erforderlich; denn viele Entscheidungen sind nicht sinnvoll zu treffen, wenn man die existenzielle Verbundenheit ignoriert.
Schon gewusst?
Mundartlich wird Herrensohr auch als Kaltnaggisch bezeichnet, weil der Hügel, über dem es sich erhebt, vordem kalt und nackt gewesen sein soll. Da das zu wissen Sie nicht weiterbringt, mag es als Hinweis darauf gelten, dass man neben nützlichen völlig nutzlose Informationen finden kann. Es gibt drei Fragen, um die einen von den anderen zu unterscheiden:
Wenn nichts davon zutrifft, wenden Sie sich besser ab.
... gehe ich davon aus, dass mein Wesenskern vom Wesenskern der übrigen Wirklichkeit getrennt ist; oder dass die Wirklichkeit an sich keinen Wesenskern hat, sondern als Sammelbegriff ihrer Teile anzusehen ist.
... gehe ich davon aus, dass mein Wesenskern mit dem Wesenskern der Wirklichkeit zusammenfällt.
Die Wahl zwischen den Sichtweisen hat weitreichende psychologische und soziale Folgen. Die Auswirkungen der Wahl betreffen...
Sichtweisen und ihre Folgen
Ich bin... | ||
Themen | Insasse der Wirklichkeit | Ausdruck der Wirklichkeit |
Grenzen | Für den Insassen ist die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich unverrückbar. Die anderen, die Welt überhaupt, sind etwas Fremdes, das nicht nur die Existenz des Insassen, sondern ihn selbst infrage stellt. | Für den Ausdruck der Wirklichkeit ist die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich transparent. Die Welt um ihn herum ist zwar Gegensatz, der Gegensatz bezieht sich aber nur auf die Rolle, die man jeweils spielt. Im Wesentlichen besteht kein Widerspruch, sondern unauflösbare Verbundenheit. |
Ziele | Wer nichts von dem ist, was ihn umgibt, bemüht sich, möglichst viel davon auf die eigene Seite zu bringen. Dementsprechend konzentriert sich der Insasse auf den Vorteil der eigenen Person, deren Absicherung er als vorrangiges Ziel empfindet. Das Verhältnis zwischen Insasse und Umfeld ist von Besitzstreben, Konkurrenz und Konflikt geprägt. | Wer im Grunde ist, was ihm begegnet, braucht nichts davon zu haben. Es reicht, wenn er es entdeckt. Dementsprechend wird der Kampf um Vorteil und Absicherung der Person als Facette eines umfassenden Seins betrachtet, das die Existenz der Person übersteigt. Das Verhältnis zwischen Ausdruck und Wirklichkeit ist von Erkenntnis und Achtsamkeit geprägt. |
Ausrichtung | Den Insassen treibt die Frage um, ob die Welt ihn annimmt oder nicht. Deshalb richtet er den Blick nach außen. Er sucht Hinweise darauf, wie er sich anzupassen hat und Gelegenheiten, die Welt im eigenen Interesse zu formen. | Der Ausdruck geht davon aus, dass er bereits passend ist; auch dann, wenn die Person zum Umfeld radikal im Widerspruch steht. Sein Blick pendelt frei zwischen innen und außen. |
Wertschätzung | Der Insasse neigt dazu, den Wert anderer nur dann zu achten, wenn sie ihm nützlich sind. Sein Verhalten bleibt selbst im Bündnis egozentrisch. Liebe wird als Tauschgeschäft zum wechselseitigen Vorteil aufgefasst. Liebe ist für den Insassen Bevorzugung von dem, was ihm gefällt oder nützt. | Der Ausdruck der Wirklichkeit geht davon aus, dass andere gleichwertige Ausdrucksformen dieser Wirklichkeit sind. Liebe als absichtsfreie (An-)Erkenntnis des jeweils anderen wird selbst-verständlich. Selbstverständlich heißt: Der Ausdruck versteht sich selbst als der Andere. |
Grundgefühl | Der Insasse erlebt sein Dasein als bedroht. Im Leben wie im Sterben geht es um Sein oder Nichtsein. Sein Grundgefühl ist Vernichtungsangst. Im Kampf dagegen will er immer mehr. Grenzen sind für ihn bedrohlich wie der Tod an sich. Im Bemühen, sie zu überschreiten, wird er zerstörerisch. | Für den Ausdruck der Wirklichkeit gibt es zwischen Leben und Tod keinen Unterschied. Grenzen betrachtet er nicht als Feinde, sondern als gestaltende Elemente der Wirklichkeit und der eigenen Existenz. Sein Grundgefühl basiert auf Zuversicht. Im Verhalten übt er Gelassenheit. Er sieht und lässt zu, weil er vertraut. |
Der Mensch betrachtet die Welt aus der Sicht eines beweglichen Tiers. Das erklärt, warum sich das normale Bewusstsein der Welt gegenüber so verhält, als sei es Teil und nicht Ausdruck der Wirklichkeit. Als Tier trägt man das Rüstzeug der Wahrnehmung, also die Sinnesorgane, am Körper mit sich fort. Es entsteht der Eindruck, vom Rest der Wirklichkeit abgelöst zu sein und der Welt als einem Gegenüber zu begegnen.
Verstärkt wird die Illusion der Trennung durch Erfordernisse der Körperlichkeit. Um den Körper zu erhalten, muss man Konflikte mit dem Umfeld austragen. Das festigt den Eindruck, dass ich hier bin und dass das Dort zu einem Nicht-Ich gehört, mit dem ich nicht mehr zu schaffen habe, als dass ich etwas davon erbeuten muss oder gezwungen bin, mich gegen seine Widrigkeit zu wehren.
Erst wenn ich über das unmittelbar Erkennbare hinausblicke, wird klar, dass das Auftauchen meiner Person nahtlos aus einem Netzwerk unzählbar vieler physikalischer, chemischer, biologischer, sozialer und psychologischer Bedingungen und Ereignisse resultiert, die sich ohne erkennbare Grenze in die Raumzeit verästeln.
Betrachtet man sich aus dieser Perspektive, ist man kein abgetrennter Ego-Körper mehr, der bloß die eigene Sache vertritt. Man ist Ausdruck einer umfassenden Wirklichkeit, die das Ego genauso geschaffen hat wie all das, was diesem Ego als Nicht-Ich begegnet und die den Auftrag, die Interessen des Egos zu vertreten, für die Dauer seiner Existenz an es abgetreten hat.
Betrachtet man sich als Teil der Wirklichkeit, steht man mit ihr im Konflikt. Je eindeutiger man meint, dies zu sein und nicht das, desto mehr spitzt sich die Frage zu, wer über wen entscheidet. Bestimmt die Wirklichkeit über mich oder ich über sie?
Die Folgen von Rangfolgen
Sieht man sich als Teil der Wirklichkeit, stellt man die virtuellen Kategorien von Gut und Böse sowie richtig und falsch schnell über die wirklichen Kategorien von wahr oder unwahr. Je weniger man aber zwischen wahr und unwahr unterscheidet, desto egozentrischer wird die Wahl zwischen Gut und Böse.
Betrachtet man sich als Ausdruck der Wirklichkeit, hat man nichts, was man über sie stellen könnte. Über Gut und Böse entscheidet man erst, wenn man wahr und unwahr unterschieden hat.
Wer zwischen wahr und unwahr redlich unterscheidet, zögert sein Urteil über Gut und Böse hinaus.
Während die Wirklichkeit über wahr und unwahr sowie über Sein und Nichtsein entscheidet, hat das Ich als Teil nur wenig Handlungsmacht. Weil es sich Ohnmacht nur ungern eingesteht, formuliert es eine virtuelle Gegenwelt, die sich um sein Selbstbild herum gruppiert.
Mit dieser Gegenwelt widerspricht es der Bestimmungsmacht der Wirklichkeit. Statt in Demut vor der Übermacht zu erforschen, was diese als wahr oder unwahr bestimmt, beschäftigt sich die virtuelle Gegenwelt mit Moral und persönlicher Meinung. Dabei legt sie aus der Perspektive egozentrischer Positionen fest, was als gut oder böse sowie als richtig oder falsch zu gelten hat.
Das tägliche Leben des egozentrischen Individuums wird vom Kampf gegen die Wirklichkeit überschattet. Das egozentrische Individuum, das sich als abgegrenzte Einheit empfindet, die der übrigen Wirklichkeit gegenübersteht, formuliert ein Selbstbild, dem es die Wirklichkeit anzupassen versucht. Der Kampf um die Anpassung der Wirklichkeit an egozentrische Sichtweisen ist die zentrale Quelle jenes pathologischen Leidens, das die Psychiatrie in diagnostische Kategorien unterteilt.
Zweierlei Leid
Es gibt existenzielles Leid und pathologisches Leid. Existenzielles Leid ist unvermeidlich. Es entspringt den Existenzbedingungen des Daseins und fördert das Leben unmittelbar; zum Beispiel das Gefühl des Ausgesetztseins, das man erleidet, wenn man mit einer abweichenden Meinung allein dasteht. Pathologisches Leid ist Resultat geistiger Verwirrung. Es entsteht aus falschen Vorstellungen über die Wirklichkeit und Fehlentscheidungen, die diesen Irrtümern entspringen; zum Beispiel: Um ein guter Mensch zu sein, muss ich tun, was die anderen von mir erwarten, selbst wenn es meinem Wesen widerspricht.
Das Weltbild, also die Sichtweise, die man der Wirklichkeit gegenüber einnimmt, entscheidet maßgeblich darüber mit, ob man seelisch gesund ist oder erkrankt. Mehr noch: Seelische Krankheit im eigentlichen Sinne ist die Folge eines verkrümmten Weltbilds.
Seelische Krankheiten im eigentlichen Sinne werden hier von eigentlich körperlichen Krankheiten abgegrenzt, zu deren Symptomatik psychische Veränderungen zählen: zum Beispiel Demenzen und organische sowie endogene Psychosen.
Grundirrtümer des neurotischen Menschen
Identitätsgefühl des gesunden Menschen
Verkrümmungen des Weltbilds entstehen durch missbräuchliche Anwendung von Abwehrmechanismen, wodurch das Ego versucht, irrige Vorstellungen über das Wesen der Wirklichkeit aufrechtzuerhalten.
Der zentrale Irrtum, der eine Vielzahl nachfolgender Irrtümer bedingt, ist die Neigung, sich mit dem Bild einer fest definierten Person gleichzusetzen, als die man anderen Personen und der Welt begegnet. Ich bin der und der... und nichts anderes.
Die Identifikation mit dieser Person führt zu einem unterschwellig paranoiden Weltbild. Aus diesem Weltbild heraus deutet sich das Ich als ein vom Nicht-Ich umzingeltes Ego, dessen vordringliche Aufgabe darin besteht, die konkrete Form, als die es sich betrachtet, vor dem Untergang zu retten.
Resultat dieser Sichtweise ist ein ständiger Kampf um die vermeintlich richtige Form.
Hinter dem Eifer für die vermeintlich einzig richtige Form liegt in letzter Konsequenz Todesangst. Instinktiv meint der Mensch, dass die Welt nur richtig sein kann, wenn sie das Richtige vor dem Untergang schützt. Da der Mensch von seiner Sterblichkeit weiß, versucht er sich durch den Sprung in die richtige Form zu retten. Sobald er erkennt, dass sein Wesenskern formlos ist, kann er den Untergang dessen, was aus dem Formlosen übergangsweise erscheint, ohne grundsätzliche Angst akzeptieren.
Die meisten Kämpfe um die richtige Form spielen sich auf dem Boden jener psychosozialen Vorgänge ab, die wir als normal bezeichnen. Der Übergang vom Normalen zum anerkannt Krankhaften ist fließend. Dabei gilt: Je unauflöslicher sich eine Person mit einer bestimmten Denk- oder Sichtweise identifiziert, desto größer ist die Gefahr, dass sie eine schwere psychiatrische Symptomatik entwickelt.
Der Kampf um die richtige Form führt dazu, dass das Ego an jeder Vorstellung festhält, die es als Grundlage seiner Identität definiert. Es haftet an dem, was es für richtig hält. Es bindet sein Identitätsgefühl an Grundüberzeugungen, die das Verhalten aus dem Hintergrund bloß vorbewusster Strukturen des Selbstbilds steuern.
Jedes Festhalten an einer Vorstellung, die man als Grundlage des Identitätsgefühls definiert, führt zu einer Verminderung der existenziellen Freiheit. Nicht umsonst heißt definiert so viel wie von Grenzen umgeben. Im Festhalten sucht das Ego Sicherheit. Tatsächlich erreicht es das Gegenteil, weil es durch die Festlegung nur unflexibel auf Veränderungen der Wirklichkeit reagieren kann.
Je mehr ich meinen Bewegungsspielraum durch Festlegung auf bestimmte Formen verenge, desto mehr fürchte ich den Ideenreichtum der Wirklichkeit, wenn es darum geht, mich vor neue Probleme zu stellen. Und je eindeutiger ich festlege, wie ich sein soll und wie nicht, desto mehr muss ich darum kämpfen, das Festgelegte gegen den Wandel der Welt zu verteidigen. Da das Ego beim Kampf gegen die Wirklichkeit auf Dauer nur verlieren kann, steuert es sich durch sein Anhaften an Vorstellungen in eine Position stets gegenwärtiger Angst.
Diese Angst ist Nährboden aller pathologischen Ängste, die sowohl zum krankhaften Leiden an der Normalität - der Normopathie - als auch zur Entwicklung komplexer psychischer Symptome führt.
Vorstellungen werden durch perspektivische Verzerrung der Wahrnehmung bedingt. Das Festhalten an bedingten Vorstellungen über die eigene Identität lässt sich lösen. Machen Sie sich klar, dass alle Vorstellungen geistige Formen sind, die wie alle Formen, die in der Wirklichkeit auftauchen, der Vergänglichkeit unterliegen und daher keine Identität beschreiben. Eine Identität kann nur in dem liegen, was nicht von anderen Bedingungen bestimmt werden kann. Daher ist die tatsächliche Identität Ihres Wesens formlos. Sie ist reines Vermögen.
Glauben Sie nicht, dass Sie das sind, was als Dies oder Das erkennbar ist. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit an allen Formen vorbei. Nur was durch nichts bedingt werden kann, sind tatsächlich Sie selbst. Mit allem anderen haben Sie sich verwechselt.