Unschwer ist herauszuhören, auf welches lateinische Zahlwort der Begriff Dualismus zurückgeht: duo = zwei. Ebenso berechtigt ist es, seinen Ursprung auf lateinisch dualitas = Zweiheit zurückzuführen. Wie die Dualität hat der Dualismus mit Gegensätzen zu tun. Gegensätze stehen einander paarweise gegenüber. Dualität und Dualismus sind jedoch nicht dasselbe.
Die sinnlich erfassbare Wirklichkeit ist in duale Erfahrungsmöglichkeiten aufgefächert. Dual heißt: Es stehen sich zwei Pole gegenüber zwischen denen sich ein fließendes Kontinuum erkennbarer Intensitäten, Nuancen oder Größen aufspreizt. Als Beispiel einer Dualität kann der Gegensatz von Heiß und Kalt genannt werden; oder der zwischen Schwarz und Weiß.
Während die Dualität erkennbarer Eigenschaften eine Qualität der Wirklichkeit ist, ist der weltanschauliche Dualismus ein intellektuelles Konzept, das auf dem archaischen Abwehrmechanismus der Spaltung beruht. Spaltung ist ein Werkzeug der Psyche mit dessen Hilfe sie sich ein vereinfachtes Weltbild erstellt. Im dualistischen Weltbild werden die polaren Gegensätze der Wirklichkeit der Einfachheit halber als einander ausschließende Positionen betrachtet, zwischen denen sich kein verbindendes Kontinuum befindet. Im dualistischen Weltbild ist schwarz schwarz und weiß weiß. Übergänge bleiben unbeachtet. Das exemplarische Gegensatzpaar des weltanschaulichen Dualismus ist der Gegensatz von Gut und Böse. Das dualistische Weltbild spaltet kategorisch: Im Guten gibt es nichts Böses und im Bösen nichts Gutes. Beide hängen nicht miteinander zusammen.
Ein anderes Gegensatzpaar, das für das Verständnis oder die Verkennung der Wirklichkeit ausschlaggebend ist, ist das von Ich und Du. Das dualistisch denkende Ich glaubt, dass zwischen ihm und den anderen keine substanzielle Verbindung besteht. Das monistische betrachtet Unterschiede als Oberfläche und Tiefe als Einheit.
Gelegentlich wird der Dualismus als manichäisch bezeichnet. Der Begriff geht auf den antiken Religionsgründer Mani zurück, dessen Lehre - der Manichäismus - radikal zwischen einem Reich des Lichts und einem Reich der Finsternis unterschied.
Zugehöriger Begriff
Auch der Begriff Dichotomie kann dazu verwendet werden um eine Spaltung in Gegensatzpaare zu benennen. Zur Definition der Dichotomie gehört es, dass sich zwischen den polaren Bereichen keine Schnittmenge befindet. Dichotomie ist aus griechisch dicha [διχα] = entzwei und temnein [τεμνειν] = schneiden zusammengesetzt.
Die psychologische und soziale Problematik dualistischer Weltbilder wird deutlich, sobald man sich den sprachgeschichtlichen Ursprung des Begriffs Spaltung vor Augen führt. Spalten entstammt der indoeuropäischen Wurzel [s]p[h]el- = platzen, bersten, splittern. All das klingt treffenderweise so, als sei nach der Spaltung ein Zusammenhang zerstört, der Dinge verband, die eigentlich zusammengehören. Und so ist es auch.
Bei der Betrachtung der Wirklichkeit kann der Geist zweierlei: Er kann unterscheiden oder Gemeinsamkeiten sehen.
Man kann fragen: Was ist der Unterschied zwischen einem See und einem Fluss? Oder man fragt: Was haben See und Fluss gemeinsam? Je nachdem, welcher Frage man den Vorzug gibt, entsteht ein unterschiedliches Bild der Wirklichkeit.
Zur Orientierung im Diesseits, also der raumzeitlichen Wirklichkeit ist die Unterscheidung ihrer Elemente unverzichtbar. Wenn man Augentropfen nicht von Salpetersäure unterscheidet, kann das üble Folgen haben. Das eine vom anderen zu unterscheiden, schützt nicht nur das Augenlicht. Es bringt wissenschaftliche Erkenntnis und technologischen Fortschritt; ohne den auch heute noch drei von zehn Kindern an den Masern stürben. Wissenschaftliche Unterscheidung abzuwerten ist Narretei.
Wichtige Fragen des Menschen gehen jedoch über das Diesseits hinaus. Der Mensch ist in einer Welt getrennter Elemente ausgesetzt, deren Trennung seine Hinfälligkeit begründet. Er fragt, was jenseits des Hinfälligen wahr ist; was dem Wandel also zugrunde liegt und sich über ihn erhebt. Der Mensch will sich mit diesem Wahren verbinden, weil er das Hinfällige, Zufällige und Austauschbare nicht als endgültige Heimat anerkennt. Sich mit dem Ewigen jenseits des Wandels zu verbinden, ist Thema der Religion, dabei achtsam und gewissenhaft nach Erkenntnis zu trachten, ist deren wichtigste Methode.
Gemäß der Interpretation des Kirchenvaters Lactantius stammt der Begriff Religion von lateinisch religare = wiederanbinden. Gemäß Cicero geht er auf relegere = wieder lesen zurück. Der Religion wird eine so große Bedeutung zugeschrieben, dass die Spuren, die den Weg zu ihrem Ziel markieren, immer wieder achtsam auszulesen sind.
Das Grundprinzip der Religion liegt in der Frage nach dem gemeinsamen Nenner.
Das Aber in Aberglaube ist eine Komparativbildung zu indoeuropäisch apo- = weg. Aber heißt weiter weg. Das Wort Aberglaube verschweigt, dass auch der reine Glaube nur Vorstellung von Wahrheit, nicht aber bereits deren Wesen ist. Zwischen der Wahrheit und dem, was man über sie glaubt, bleibt ein Abstand, der zwar geringer als beim Aberglauben sein mag, aber trotzdem besteht. Reiner Glaube bleibt in der Nähe der Wahrheit, Aberglaube entfernt sich, um sich mit Bildern zu schmücken. Da auch reiner Glaube nur Vorstellung ist, ist seine Erhöhung zum Dogma falsch. Es gibt keine Glaubenspflicht. Kein Glaube ist heilig. Heilig ist im besten Fall das, worauf ein Glaube verweist.
Wer zwischen gläubig und ungläubig so unterscheidet, dass Ungläubige ausgeschlossen sind, ist im religiösen Sinne ungläubig. Jeder religiöse Dualismus ist bereits Aberglaube.
Religion fragt, was die Elemente der Wirklichkeit verbindet; nicht, was sie voneinander trennt.
Die Idee des Religiösen ist zu Ende gedacht, wenn man alles Getrennte als Ausdruck einer alles umfassenden Einheit betrachtet. Die eine Einheit ist zugleich die Definition des Heiligen. Von daher kann der Begriff reiner religiöser Glaube definiert werden. Es ist der, der den religiösen Denkansatz rein, also ohne austauschbare Zutat, benennt.
Dualistische Religionen betonen Gegensatzpaare. Sie verteidigen die Vorstellung eines Schöpfergottes, der eine gespaltene Wirklichkeit schuf, in der sich Gegensatzpaare unversöhnlich gegenüberstehen. Inhaltlich gesehen ist die Bezeichnung Religion für solche Lehren ungenau. Da Religion das Prinzip der Bindung ist, bleiben spaltende Glaubenslehren hinter ihrem Anspruch zurück, endgültige Religionen zu sein. Verbindlich könnten sie nur sein, wenn sie ihre spaltenden Ideen überwänden und das Prinzip der Verbindung allen Seins uneingeschränkt bestätigten. Dann gäbe es statt vieler Religionen nur noch eine: die, die jeder ohne Hürde zur eigenen machen kann.
Der abendländische Geist hat auf dem Gebiet der Naturwissenschaften Großes geleistet. Das verdankt er seiner Unterscheidungskraft. Eine Unterscheidung ist dem gleichen Geist aber nur ansatzweise gelungen: die zwischen der religiösen und der nicht-religiösen Betrachtungsweise.
Zwei Betrachtungsweisen
Nicht-religiöse Wissenschaft | Religion |
Erkennen der Vielfalt | Erkenntnis der Einheit |
Beschäftigt sich mit Diesseits | Beschreibung des Jenseits als gemeinsamen Nenner des Diesseits |
dualistisch-unterscheidend | monistisch-verbindend |
Gegensatzpaare | systemische Ergänzung |
entweder-oder | sowohl-als-auch |
Ich bin ich und nicht das. | Ich bin ich und auch das. Ich bin weder dies noch das. |
Das Diesseits ist ein Bezirk polarer Gegensätze. Bei der Untersuchung dieses Wirklichkeitsbereichs ist der dualistisch-unterscheidende Ansatz Mittel der Wahl. Er öffnet den Blick für die Unterschiede, die im Diesseits zu erkennen sind.
Religion ist jedoch das, was über die Welt der Gegensätze hinausblickt und nach dem Jenseits fragt; also dem Aspekt der Wirklichkeit, der ihrer Einheit entspricht. Deshalb kann echte Religion nicht dualistisch sein. Das, was das Ganze sucht, kann nicht bei der Spaltung stehenbleiben.
Da das Abendland das tatsächliche Wesen der Religion verkennt, hängt seine religiöse Tradition in dualistischen Sichtweisen fest. Ihr Blick nach der Einheit endet an Gegensatzpaaren, die sie selbst formuliert. In der Folge einigt sie nicht, sondern führt zur Zersplitterung der Gemeinschaft in sich wechselseitig ausgrenzende Konfessionen. Gleiches gilt für den gesamten abrahamitisch geprägten Kulturkreis. Nirgendwo sonst entspringt dem sogenannt religiösen Denken derart verbissene Zwietracht. Sie ist unmittelbare Folge der Spaltung.
Die Ursachen und Ursprünge der Fixierung des theologischen Denkens auf dualistische Bilder sind vielfältig. Vier wichtige Ursachen sind:
Die grundlegende Ursache dualistischer Weltanschauungen liegt darin, dass die geistige Entwicklung des Menschen zunächst auf die Erkenntnis von Unterschieden ausgerichtet ist. Um sich als Person in der Welt zurechtzufinden, muss man unterscheiden:
Im Laufe der Entwicklung vom Säugling zur eigenständigen Person, entwickelt der Mensch ein Weltbild, dessen Grundstruktur aus einem Netzwerk von Gegensatzpaaren aufgebaut ist.
Um die Gemeinsamkeiten zu sehen, die sich hinter den Gegensätzen verbergen, bedarf es einer geistigen Fortentwicklung. Ohne die Fähigkeit zu folgerichtig abstraktem Denken erkennt man nicht...
Das Gemeinsame im Getrennten erscheint erst, wenn man über Trennlinien hinausblicken kann. Ein mystisches Entsperrungserlebnis befähigt das Ich, sich in allem zu sehen und die Wirklichkeit aus der Perspektive ihrer selbst erkennen. Er selbst ist der Mensch nur, soweit er auch alles Übrige ist.
Zum dualistischen Weltbild gehört der Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich. Der Modus der normal-psychologischen Weltdeutung ist egozentrisch. Im egozentrischen Modus identifiziert sich das Ich mit der Person, deren Verhalten es auf der Bühne des Daseins steuert und deren Leid es erlebt. Als Ego setzt das Ich zwischen sich und dem Rest der Welt eine grundsätzliche Grenze.
Vorteil ist, dass Spaltung ein übersichtliches Weltbild begründet, das vermeintlich Klarheit schafft und zunächst die Orientierung erleichtert.
Die Gewohnheit sitzt so tief und die Vorteile sind so verlockend, dass spaltende Urteile auch in der Normalpsychologie weit verbreitet sind.
Da das Ich die Welt als gefährlichen Ort erlebt, in der es als Person stets Gefahren gewahr sein muss, die ihm vom Nicht-Ich drohen, ist es bemüht, die Grenze zwischen sich und dem Rest der Welt zu sichern.
Der Übergang zu einer monistischen Weltsicht macht die Grenze transparent. Dagegen leistet das Ego Widerstand. Hinter der gedachten Grenzlinie des Dualismus fühlt es sich vorläufig sicher. Der psychologische Widerstand gegen die Aufhebung der dualistischen Weltsicht ist Ursache dafür, dass der Weg zur mystischen Erkenntnis der Wirklichkeit meist verschlossen bleibt. Kaum jemand hat den Mut, ihn zu gehen; denn wer ihn gegangen ist, kann dem selektiven Vorteil seiner Person nicht mehr die Bedeutung beimessen, die aus egozentrischer Perspektive selbstverständlich erscheint.
Nicht selten werden mystische Erfahrungen als Verirrung abgetan und eilends hinter sich gelassen. Man flüchtet aus der Erkenntnis in die Unwissenheit.
Zum dualistischen Glauben gehört das Konzept eines entrückten Gottes, der willkürlich Geschöpfe erschafft, die er außerhalb seiner selbst in die Welt setzt. Dieses Konzept unterstellt, dass es zwischen dem postulierten Gott und dem Menschen keine unverbrüchliche Verbindung gibt. Bestenfalls könne der Mensch diesem Gott wie einem anderen Ego, also einem Gegensatz begegnen, dem man gehorchen muss, um seiner Wut zu entgehen und seine Gunst zu erlangen.
Vorteil ist, dass Projektion das angeschlagene Selbstwertgefühl prothetisch versorgt.
Die Leugnung der Wesensgleichheit von Gott und Mensch ist für politische Zwecke von Vorteil. Politik greift nach der Macht. Mächtige wollen über anderen stehen. Jeder Herrschaft liegt eine Entwertung der Beherrschten inne. Einem Glauben, der die Wesensgleichheit von Gott und Mensch verneint, fällt es leichter, dessen absoluten Wert zu übersehen. Das fördert die Unterdrückung des Einzelnen durch Machtstrukturen. Würde die Wesensgleichheit anerkannt, wäre die Unterdrückung des Menschen mit nichts zu rechtfertigen.
Machthaber haben von je her Glaubenssysteme gefördert, deren dualistische Aufspaltung des Weltbilds in Schöpfergott und Bloß-Geschöpf ihrer Machtposition dienlich war. Sie tun es bis heute.
Dualistische Sichtweisen sind keineswegs auf religiöse Fragen beschränkt. Auch in der Politik sind sie weit verbreitet. Überall gibt es verschiedene politische Lager. Der Kitt, der sie zusammenhält, ist zu großen Teilen aus Spaltung und Projektion zusammengemischt. Kein Lager könnte bestehen, wäre es nicht davon überzeugt, selektiv das Gute zu verkörpern und dem selektiv Falschen oder gar Bösen in Gestalt des politischen Gegners gegenüberzustehen.
In Zeiten der Unsicherheit wird die Polarisierung verstärkt, weil die Infragestellung von Positionen Unsicherheit und ihre Zementierung im Umkehrschluss gefühlte Sicherheit erzeugt. Das führt zu einer wechselseitigen Verstärkung diametraler Positionen, da jede Seite der Meinung ist, der Gegenseite mehr Gegengewicht entgegensetzen zu müssen. Wo zuvor noch Kompromisse möglich waren, kommt es zur Eskalation. Keine Seite versteht, dass sie selbst an der Polarisierung der Gegenseite beteiligt ist. Keine Seite gibt zu, dass sie selbst zum Übel beiträgt, das sie bekämpft. Dualistische Betrachtungsweisen hemmen systemisches Denken wie Dunkelheit die Fruchtzuckersynthese in Treibhaustomaten.
Der europäische Geist hat bei religiösen Belangen von je her dualistische Denkweisen bevorzugt. Schon im griechischen Pantheon tummelten sich persönliche Götter, deren Wesen irdischen Egos nachempfunden war. Heraklits Weitsicht, die es für weise hielt, zuzugestehen, dass alles eins ist, wurde nur von einer Minderheit geteilt.
Am Ende der Antike eroberte das Christentum Europa. Das Christentum ist eine Fortentwicklung der alttestamentarischen Theologie mit dem Ziel, den Glauben an den hebräischen Gott über die ethnischen Grenzen Israels hinweg auf die übrigen Völker zu übertragen.
Die alttestamentarische Theologie ist zeitgleich mit der Eroberung Kanaans durch die Israeliten entstanden. Ihr Kern befasst sich mit dem angeblichen Auftrag Gottes an ein auserwähltes Volk, das er zum Sieg über anderer Völker bestimmt haben soll.
Logisch stringent war mit den Kriegszielen der mosaischen Zeit ein radikal durchdachter Dualismus verbunden, der zwischen Gott und Mensch kategorisch unterscheidet. Dieser Dualismus wurde auf die Unterscheidung zwischen Laie und Priester sowie die zwischen "lebenswerten" und "lebensunwerten" Menschen und Völkern übertragen. Zugleich wurde die Treue zum Dogma der Spaltung durch die Behauptung des Glaubens, offenbart zu sein, zur unwiderrufbaren Glaubenspflicht erklärt. Unbeeindruckt vom Unheil, den dieser Glaube verursacht hat, folgen ihm Millionen. Sie leben in mythologischer Gefangenschaft.
Denkmuster
Dualistisch-gespalten | Monistisch-ungespalten |
Es gibt nur einen Gott. Es gibt keine anderen Götter neben ihm. Der Mensch hat sich Gott zu unterwerfen. | Es gibt nur Gott. Es gibt nichts neben ihm. Als Mensch verwirklicht Gott dessen Freiheit. |
Die psychologischen Folgen dualistischer Lehren sind weitreichend. Zwei Themen spielen eine besondere Rolle: Die scheiternde Entängstigung und die Festigung egozentrischer Positionen.
Das Ich erlebt sich von Vernichtung bedroht. Ursache seiner Furcht ist das Wissen um den leiblichen Tod und die faktische Gefahr, der das Leben ausgesetzt ist. Die egozentrische Identifikation des Ich mit der eigenen Person dämpft und schürt die Furcht zugleich.
Sie dämpft Furcht, indem sie dem Ego die Illusion erlaubt, innerhalb hermetischer Grenzen Herr seiner selbst zu sein.
Sie schürt Furcht, weil die Behauptung des Egos, abgetrennt zu sein, ihrerseits Verlustängste stimuliert. Wenn das Ich, wie es im egozentrischen Modus glaubt, nicht Ausdruck der Wirklichkeit, sondern ihr Insasse ist, unterliegt es ständiger Gefahr, den Kontakt zum Nicht-Ich jenseits seiner selbst zu verlieren. Das zentrale Symbol seiner Verlustangst ist der Tod. Der Tod erscheint als...
Die religiöse Suche des verängstigten Ich zielt auf die Gewissheit ab, dass es jenseits der Hinfälligkeit mit einer Kraft verbunden ist, die seinen Bestand, sein Recht und seinen Wert verbrieft. Diese Kraft nennt es Gott.
Dualistische Glaubenssysteme geben diese Gewissheit nicht. Statt dem Ich zu versichern, dass sein Wert bereits unverlierbar in ihm liegt, wertet ihr spaltendes Weltbild den Menschen durch die Leugnung seiner Wesensgleichheit mit dem Absoluten ab.
So bleibt die Angst bestehen, weil angeblich erst im Jenseits über Bestand oder Beseitigung entschieden wird; und das mit einem radikal spaltenden Alles-oder-Nichts. Dualistische Religion stellt Entängstigung in Aussicht; aber sie vergibt sie nicht. Das macht sie zur Politik, durch die man Menschen für Zwecke vereinnahmt.
Himmel und Hölle
Die Radikalität des christlichen und islamischen Dualismus wird durch deren Himmel-Hölle-Dichotomie zum Ausdruck gebracht. Zwischen Himmel und Hölle gibt es nichts, vor allem keine Tür durch die der Verdammte der Qual jemals entkommen könnte. So mag die Aussicht auf das Paradies Ängste dämpfen, durch die zeitgleiche Androhung der Hölle werden sie jedoch prompt wieder geschürt.
Die Vorstellung, dass ein entrückter Gott Milliarden isolierter Einzelseelen erschafft, deren Verbundenheit nicht in ihrem Wesen ruht, sondern im kommunikativen Funkverkehr durch Sprache, Mimik und Gestik, der bei der Gestaltung des innerweltlichen Rollenspiels anfällt, vermag es nicht, den Einzelnen aus seiner egozentrischen Sichtweise zu befreien. Der Einzelne bleibt in diesem Bild ein Gegensatz zum anderen; und als Gegensatz bleibt er einsam.
Tugend: verordnen oder entdecken
Altruistisches Verhalten kann Menschen von oben herab verordnet und durch sozialen Druck aufgedrängt werden. Das kann dazu beitragen, eine Gesellschaft ziviler zu gestalten. Verordnete Tugend wirkt aber nur soweit, wie sie egozentrischen Motiven dient. Dualistische Weltbilder beschwören stets den Vorteil, der als Lohn der Tugend in der Zukunft winkt.
Erst wenn das Ich entdeckt, dass Solidarität mit dem anderen nicht nur dem Wohl in einer zukünftigen Welt dient, sondern sein Wesen in der Gegenwart verwirklicht, steht und fällt Tugend nicht mehr mit der Erwartung dessen, was sie dem Ego einbringt.
Nur ein monistisches Bild, das das Selbst des einen auch als Selbst aller anderen auffasst, lässt die egozentrische Weltsicht hinter sich. Ohne die Preisgabe dieser Weltsicht bleiben altruistische Tugenden Rollenspiele, die das Wohl des Egos bezwecken. Deckungsgleich mit dem Wesen dessen, der sie auslebt, können diese Tugenden nur sein, wenn sie nicht den Zwecken eines zielbewussten Egos dienen, sondern dem Ausdruck eines Ich, das die Verbundenheit mit jedem Du als Merkmal seiner selbst betrachtet.
Ist die Aufteilung in dualistische und monistische Religionsformen sowie die anschließende asymmetrische Bewertung nicht ihrerseits ein Dualismus, dem eine unrechtmäßige Spaltung zwischen Richtig und Falsch vorzuwerfen ist? Versucht die Aufteilung denn nicht den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben?
Die Frage ist berechtigt und fordert Erläuterung.
Die dualistische Theologie ist kein Teufelswerk. Sie wirft zwar etwas durcheinander (was dem Wortsinn des Begriffs Teufel entspricht), zunächst aber keineswegs aus bösem Willen, sondern aus Unwissenheit. Der Schaden, den sie nach sich zieht, ist mit dem Schaden zu vergleichen, den ein Kind anrichtet, wenn es mit einer Vase spielt, deren Zerbrechlichkeit es nicht versteht.
Erst wenn das dualistische Gottesbild von politischen Absichten vereinnahmt wird, wie es im abrahamitischen Kulturkreis die Regel ist, kommt etwas Böses hinzu. Etymologisch gesehen ist es böse, sich aufzublähen. Der Anspruch, Macht über andere auszuüben, entspricht der übergriffigen Aufblähung über das persönliche Territorium dessen hinaus, der Macht auszuüben versucht. Das Böse, das der politische Anspruch betreibt, ist dabei direkt proportional zur Vehemenz, mit der er sich als das abgespalten Gute propagiert.
Dualistische Religion kann daher Wegbereiter sein. Sie kann als Vorläufer gelten, wenn sie den Übergang zur Mystik nicht stört; denn dem Wesen Gottes als dem All-Einen kommt das näher, was jede Spaltung hinter sich lässt. Ein Glaube, der kein Bekenntnis fordert, hat den Vorteil, dass er die Hürde des Dualismus nicht festigt.