Ehre


  1. Begriffe
    1. 1.1. Ehre
    2. 1.2. Würde
    3. 1.3. Selbstwertgefühl
  2. Ursachen und Grundlagen des Ehrverlusts
    1. 2.1. Abwertende Botschaften
    2. 2.2. Urteile des Gewissens
    3. 2.3. Psychologischer Grundkonflikt
    4. 2.4. Emotionale Abhängigkeit
  3. Psychologische Folgen
Wer mit sich übereinstimmt, ist gegen Kränkung gefeit. Den, der ihn kränken will, erkennt er als krank.

Wer seinen Wert erkennt, fordert keine Verehrung. Wert wird nicht von außen verliehen. Er ist in dem verankert, was wertvoll ist. Wer sein Selbstwertgefühl von der Ehre abhängig macht, die andere ihm erweisen, wird seinen Wert nicht finden. Er sucht ihn an der falschen Stelle.

1. Begriffe

Gewissheit oder Zweifel an der eigenen Ehre sind Faktoren, die über das Wohlbefinden grundlegend mitbestimmen. Seelische Gesundheit ist ohne das Gefühl, ehrenwert zu sein, nicht möglich. Ehre ist die Berechtigung als wertvoll anerkannt zu werden. Das Gefühl, der Ehre wert zu sein, geht oft in den Anspruch über, von anderen dem ent­sprechend behandelt zu werden.

Wert kann von außen oder von innen anerkannt sein. Je weniger man seinen Wert von innen heraus selbst anerkennt, desto größer ist das Bedürfnis nach Bestätigung von außen und desto empfindlicher reagiert man auf abwertende Botschaften des Umfelds.

Das Gefühl, ehrenwert zu sein, entspringt einer komplexen Dynamik. Drei Ebenen verweben sich zu einem Geflecht von Bedingungen und Kräften, die gemeinsam darüber entscheiden, ob sich das Individuum als ehrenwert erlebt oder nicht.

  1. Auf der sozialen Ebene geht es um Anerkennung und Wert­schätzung von außen. Ehre beschreibt die Qualität eines zwischen­menschlichen Verhältnisses. Es geht um die Frage, ob man von anderen respektiert wird oder nicht. Es geht um das Ansehen, das man genießt oder die Missachtung, die man zu erdulden hat.

  2. Die existenzielle Grundlage der Ehre bildet die Würde des Menschen an sich. Der Mensch ist der Ehre wert, wenn er sich der Würde des Menschen entsprechend verhält. Würde verweist auf die Verankerung des Wertseins in unverrückbarem Boden. Die Würde liegt dem Menschen inne. Sie kann ihm weder entzogen noch verliehen werden. Ehre kann erwiesen werden. Würde wird zum Ausdruck gebracht.
  3. Das Selbstwertgefühl ist ein persönliches Urteil über die eigene Ehre. Wer sich selbst für wertvoll hält, geht davon aus, dass sein Anspruch, respektiert zu werden, berechtigt ist. Maßstab des Selbstwertgefühls ist man selbst. An sich selbst vermisst man, was man von sich selbst zum Ausdruck bringt.

Eigenschaftswörter
  • Ehrlich ist, wer andere anerkennt indem er ihnen das Recht zuspricht, die Wahrheit zu erfahren. Der Ehrliche ehrt andere durch seine Ehrlichkeit.
  • Ehrlos ist, wer sich nicht darum bemüht, dem eigenen Wert zu entsprechen. Der Ehrlose verhält sich so, als habe er selbst und andere keinen Wert. Es mag sein, dass er Ehrerbie­tung erzwingt, da er den Wert anderer nicht anerkennt, ist es ihm jedoch egal, ob deren Geste echte Wertschätzung zum Ausdruck bringt oder nicht.
  • Ehrenwert ist, wer seinem Wert treu bleibt. Der Ehrenwerte ist der Ehre wert, die man ihm erweist.
  • Unehrenhaft ist, wodurch man seine Ehre zu Recht verwirkt.
1.1. Ehre

Ehre geht auf mittelhochdeutsch ēre bzw. althochdeutsch ēra = Ehrfurcht, Verehrung, Ruhm, Herrschaft, Scheu, Ansehen zurück. Ausgehend von der indoeuropä­ischen Wurzel ais = ehrfürchtig sein hat der Begriff Ver­wandte in verschiedenen Sprachen. Man findet altisländisch eir = Gnade, Milde, Hilfe und griechisch aidos (αιδως) = Scheu, Ehrfurcht.

Ehre ist ein soziales Phänomen. Fragen der Ehre ergeben sich aus der Qualität zwischenmenschlicher Interaktion. Dort, in den Beziehungen, in der Art des Umgangs miteinander, wird Ehre erwiesen, verdient oder aberkannt. Ehrerbietung ist Anerken­nung des einen durch andere. Nur wer gesehen wird, kann sich um sein Ansehen Sorgen machen. Für den, der mit niemandem in Beziehung steht, haben Fragen des Ansehens nur wenig Belang. Robinson Crusoe brauchte sich keine Gedanken darüber zu machen, ob seine Ziegen ihn für ehrenwert hielten oder nicht. Ehre hat nur Bedeutung, wenn man jemandem begegnet, der sie beurteilen kann.

Ehrenwert zu sein heißt, in Bezug zu anderen so zu sein, dass das Sosein deren Wertschätzung verdient; ungeachtet dessen, ob es tatsächlich wertgeschätzt wird oder nicht.

Ehre und Wahrheit
Eine besondere Bedeutung für die Ehre hat der Umgang mit der Wahrheit. Das zeigt der Begriff Ehrlichkeit. Unter Ehrlichkeit versteht man die Bereitschaft, sich selbst und anderen die Wahrheit einzugestehen. Wer zur Wahrheit steht, ist der Ehre wert. Er hat das Anrecht, anerkannt zu werden. Wer die Wahrheit vertuscht oder sie nicht wahrhaben will, dessen Ehrbarkeit sinkt. Wer der Wahrheit gegenüber untreu wird, verspielt sein Recht auf Anerkennung. Er schädigt sein Ansehen.

Die enge Verknüpfung des Anrechts auf Anerkennung mit der Treue zur Wahrheit zeigt an, dass Wahrheit als besonderes Gut zu betrachten ist. So ist es in der Regel keineswegs unehrenhaft anderen materielle Güter vorzuenthalten. Wer seinen Besitz für sich behält, mag als knauserig gelten, als der Ehre unwert gilt er damit nicht. Bei der Wahrheit ist das anders. Wahrheit ist mehr als ein Gut, das abgetrennt von dem existiert, der damit umgeht. Wahrheit ist zugleich Substanz des Subjekts an sich. Wer die Wahrheit missachtet, missachtet sich selbst und spricht sich damit das Anrecht ab, als ehrenvoll zu gelten. Weil die Verschleierung der Wahrheit einer Missachtung des eigenen Wertes entspricht, fühlt man sich unbehaglich, wenn man nicht die Wahrheit spricht. Oft wird das Unbehagen allerdings verdrängt.

Was ist Wahrheit? Es ist das, was die Wirklichkeit erkennbar zum Ausdruck bringt. Wer die Wahrheit zum Ausdruck bringt, damit jeder sie sehen kann, hat das Anrecht, Ansehen für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Er sagt: Ich bin es wert, angesehen zu werden.

Unter Ehrgefühl wird dreierlei verstanden:

  1. die Bereitschaft, nur das zu tun, was man selbst für ehrenwert hält, also die Bereitschaft, sich an ethischen Kriterien auszurichten.

  2. das Interesse an der Wertschätzung durch andere; allerdings nicht beliebiger anderer, sondern solcher, die man seinerseits für ehrenhaft hält.

  3. die Bewusstheit der eigenen Ehre

Unterschiede

Das Interesse an der Wertschätzung durch andere ist auch Thema des Narzissmus. Dem Narzissten geht es jedoch nicht um die Wertschätzung seines Selbst, sondern um die seiner Person.

Wer über Ehrgefühl verfügt, verhält sich so, dass er die Wertschätzung durch andere nicht mutwillig verspielt. Echtes Ehrgefühl gebietet jedoch zugleich, im Zweifelsfall auf Wertschätzung von außen zu verzichten. Da es den meisten wichtig ist, wertgeschätzt zu werden, will kaum jemand als Schurke gelten. Lieber gilt man als Ehrenmann und die Ehre der Frau gilt als Gut, das tunlichst vor Zweifeln zu bewahren ist.

Der Anspruch, der Ehre entsprechend behandelt zu werden, führte in früheren Zeiten zu sogenannten Ehrenhändeln. Sie wurden mit der Pistole ausgefochten. Als ehrenvoll galt der Beweis, dass man bereit war, für seine Ehre zu sterben. Auch wenn das Konzept der Ehre veraltet klingt und so mancher meint, es sei dumm, der Ehre zuliebe auf etwas zu verzichten, ist die psychosoziale Dynamik, die von Fragen der Ehre ausgehen kann, weiterhin machtvoll.

Die etymologisch nachweisbaren Bedeutungsfacetten des Begriffs Ehre belegen, dass das Interesse daran mit der Angst vor der Aggression anderer zusammenhängt. Ehre schützt vor anderen. Sie bringt andere dazu, respektvoll, nachsichtig und hilfsbereit zu sein. Wessen Ehre nicht anerkannt wird, dem droht, aus der Gemeinschaft verstoßen zu werden. Entehrt zu werden, heißt Aussatz zu sein.

Bedeutungsfacetten des Begriffs Ehre

Facetten der Ehre... und ...ihre nützlichen Folgen
Ehrfurcht Wer mich fürchtet, wird sich hüten, mir etwas anzutun.
Scheu Wenn ich als ehrenvoll gelte, scheut man davor zurück, mich zu bedrängen.
Ansehen Wer mich sieht, wird mich beachten... statt mich achtlos zu übergehen.
Milde
Gnade
Wenn ich als ehrenwert gelte, wird das Urteil anderer bei Verfehlungen milde sein.
Hilfe Wer als ehrenwert gilt, kann auf die Unterstützung durch andere rechnen.
Herrschaft Ehre berechtigt, über die Gemeinschaft zu bestimmen; oder zumindest mitzu­bestimmen. Bestimmen zu dürfen ist eine Ehre und ohne Ehre hat niemand das Recht, es zu tun.

1.2. Würde

Unentbehrliche Grundlage aller Fragen der Ehre ist die Würde des Menschen an sich. Würde gehört zur Wortgruppe um wert. Wert geht auf werden zurück. Würde ist ein Wertsein, das dem Potenzial eines Werdenkönnens entspringt.

Die besondere Würde des Menschen entspringt seiner Fähigkeit, bewusst über sich selbst zu bestimmen. Je mehr der Einzelne davon zum Ausdruck bringt, desto mehr wird er der Würde des Menschen gerecht.

Gegenstände sind wie sie sind. Es liegt ihnen kein eigenes Werdenkönnen inne; und damit auch kein Vermögen, ihr Sosein selbst zu bestimmen. Deshalb mögen sie für ihre Besitzer situativ wertvoll sein, sie haben aber keine Würde, die als unantastbar anerkannt werden kann. Der Wert des Objektes ist relativ. Er wird ihm vom Benutzer zugewiesen. Der Benutzer kann Wert zuweisen, weil er selbst ein Werdenkönnen ist.

Subjektivität beruht auf einem Werdenkönnen, das über sein Werden entscheidet, indem es sein Sosein beachtet.

Werdenkönnen im eigentlichen Sinn kommt ausschließlich dem Subjekt zu. Man sagt zwar: Aus der Wolle kann ein Pullover werden, der Pullover wird aber keineswegs, weil die Wolle irgendetwas kann. Aus der Wolle wird ein Pullover, weil der Weber sie dazu verwebt. Wolle ist vollständig fremden Kräften ausgeliefert. Fällt sie dem Weber in die Hände, entsteht ein Pullover, fällt sie ins Feuer, wird sie zu Rauch.

Der unantastbare Wert des Würdigseins fußt daher nicht auf der Objektivität des Gegenständlichen; z.B. im faktischen Sosein einer Person, er liegt darin, dass aus jeder ihrer selbst bewussten Person, etwas werden kann, was sie selbst bestimmt. Die Würde des Thronanwärters liegt nicht darin, dass ihm als Erbe Königswürde zufällt. Sie liegt darin, dass er aus eigenem Beschluss Bettler werden könnte; so wie es der Legende nach Buddha entschied.

Wert und Würde

relativer Wert Würde
Kommt Objekten zu. Entspringt dem Subjekt.
kontextabhängig nicht situationsgebunden
Hängt von äußerem Urteil ab. unabhängig von Bewertung
Einsetzbarkeit
Formbarkeit
Nutzbarkeit
eigenständiges Werdenkönnen
Selbstbestimmtheit

Würde ist in der Subjektivität verankert, die sich im Gegenständlichen mehr oder weniger erkennbar zum Ausdruck bringt.

Man sagt: Herr Blomenkamp ist ein wertvoller Mitarbeiter. Sein Ansehen als wertvoller Mitarbeiter kann verlorengehen, seine Würde nicht. Während sich für Crusoe Fragen der Ehre nicht stellen, kann er sich vor dem Schicksal als würdig erweisen. Erst wenn er seine Insel verlässt, wird seine Würde Gegenstand möglicher Ehrerbietung.

1.3. Selbstwertgefühl

Das Selbstwertgefühl ist ein Urteil des Individuums über den Wert seiner selbst. Selbstwertgefühl und Ehre gehen fließend ineinander über. Wenn ich das, wofür ich mich halte, als wertvoll erachte, habe ich ein gutes Selbstwertgefühl. Wenn ich mich dementsprechend fühle, gehe ich zugleich davon aus, dass mein Wert von anderen zu Recht anerkannt werden kann. Erweisen sie mir von sich aus die Ehre, es zu tun, sind eigenes und fremdes Urteil im Einklang. Tun sie es nicht, erlebe ich eine Dissonanz. Sofern ich weiß, dass meine Würde durch mangelnde Anerkennung von außen nicht vermindert werden kann, kann ich die Dissonanz akzeptieren. Glaube ich, meine Würde hänge von Urteil anderer ab, kann ich im Falle einer Dissonanz nicht mehr in mir ruhen.

Wer kein Ehrgefühl hat, den interessiert es nicht, ob andere ihn als ehrenwert er­achten. Wer sich nicht dafür interessiert, ob andere ihn als ehrenwert erachten, erachtet andere nicht der Ehre wert, als Zeugen seines Wertes aufzutreten. Fehlendes Ehrgefühl ist ein Indikator dafür, dass das Selbstwertgefühl ebenso eingeschränkt ist wie die Wertschätzung anderer.

Würde ist Wertsein von innen. Ehre ist Anerkennung der Würde von außen. Persönliche Urteile über die Bedeutung beider Faktoren für das eigene Wertsein entscheiden über das resultierende Selbstwertgefühl. Das erlebte Selbstwertgefühl ist Ergebnis individual­psychologischer Prozesse und eigener Bewertungen.

Tatsächlich wird das Selbstwertgefühl nicht von der Meinung anderer bestimmt, sondern von der Bedeutung, die man dem Ausmaß der Ehrerbietung durch andere zumisst. Das Ehrgefühl spiegelt eine zwischenmenschliche Dynamik wider. Hält Blomenkamp sein Ansehen als wertvoller Mitarbeiter für unverzichtbar, hängt er vom Urteil anderer ab.

Grundlegend für das Erleben des eigenen Werts ist aber nicht die Ehre, die zuteilwird, sondern das Selbstwertgefühl als zusammenfassendes Urteil. Das Selbstwertgefühl beurteilt nicht nur den Grad der Bestätigung durch andere. Es beurteilt auch die Übereinstimmung mit sich selbst. Es beurteilt, ob man seiner selbst und der Würde, die diesem Selbst von jeher inneliegt, gerecht wird. Das Selbstwertgefühl ist ein Integral aus empfangener Ehre und Bewusstheit der Würde.

Ehre und Übereinstimmung
Was als ehrenhaft gilt, hängt von Wertvorstellungen ab. Man kann es als ehren­haft ansehen...
Ich bin ehrenwert, auch wenn es niemand bestätigt.

Sieht man den höheren Wert im Einklang mit sich selbst, verankert man sein Ehrgefühl in der Würde des Menschen an sich; also in seinem eigenständigen Werdenkönnen und damit in seiner Freiheit, so oder anders zu sein. Man sagt: Die Treue des Subjekts zu dem, was es aus eigenem Urteil für richtig hält, ist der höhere Wert. Es entsteht ein eigenständiges Ehrgefühl. Ich will als das anerkannt sein, was mich selbst ausmacht. Ich erkenne meine Ehre darin, mir treu zu sein.

Ohne Bestätigung ist meine Ehre dahin.

Legt man den Schwerpunkt auf gemeinsame Wertvorstellungen, richtet sich das Ehrgefühl primär an den Urteilen des Umfelds aus. Man sagt: Ich bin ehrenwert, weil ich gemeinsamen Wertvorstellungen folge. Ich bin ehrenwert, weil ich dem Konsens entspreche und mich andere dafür in Ehren zu halten haben. Das Ehrgefühl wird an die Ehrerbietung durch andere gebunden. Ich will anerkannt sein, weil ich euren Erwartungen entspreche.

Die Wahl, was die Ehre des Einzelnen primär zum Ausdruck bringt, entscheidet auch über die Haltung gegenüber anderen mit. Wer den Einklang mit sich selbst wählt, dem gilt als ehrenwert, wer sich ungeachtet möglicher Unterschiede treu bleibt. Wählt man die Zustim­mung zur gemeinsamen Sichtweise, spricht man dem anderen die Ehre ab, wenn er abweicht.

2. Ursachen des Ehrverlusts

Kränkungen der Ehre, also Infragestellungen des Gefühls als ehrenwert betrachtet zu werden oder der Ehre wert zu sein, können schwerwiegende psychologische, soziale und politische Folgen haben. Kränkungen des Ehrgefühls kommen durch zwei Faktoren zustande:

  1. abwertende Botschaften von außen
  2. Gewissensurteile von innen
2.1. Abwertende Botschaften

Abwertende Botschaften sind ein verbreitetes Übel der psychosozialen Dynamik. Kein Mensch kann ihnen jemals vollständig entgehen. Abwertende Botschaften sind vor allem dann problematisch, wenn sie Menschen treffen, die nicht in der Lage sind, sie reflektiert zurückzuweisen. Das trifft vor allem auf Kinder zu. Viele machen im Elternhaus oder in der Schule Erfahrungen, die ihr Gefühl, der Ehre wert zu sein, dramatisch untergraben. Das kann zu einer Schwächung des Selbstwertgefühls führen, die ganze Biographien überlagert.

Auch jenseits der Kinderstube sind abwertende Botschaften gang und gäbe. Große Teile des gesellschaftlichen Raums sind davon durchsetzt. So kommt es, dass tiefgreifende Kränkungen der Ehre auch dann noch möglich sind, wenn in der Kindheit zunächst ein positives Selbstbild entstanden ist. Als häufige Auslöser sind zwei Ursachen hervorzuheben:

Früher wurde das Individuum durch eine übergriffige Moral entehrt, die sich ungefragt für jeden verbindlich machte. Heute wird die Würde des Individuums durch eine Gesellschaft missachtet, die es als optimierbare Funktion in ihre Wachstumsdynamik verwebt.

Ein Recht ist die Freiheit, über sich selbst zu bestimmen. Ein Anspruch ist die Befugnis, die Rechte anderer einzuschränken.

Einst war die Demokratie angetreten, Rechte zu verteidigen. Heute macht sie sich zum Werkzeug wachsender Ansprüche. Früher setzte sie frei. Heute versucht sie, das Leben des Einzelnen bis in Details zu bestimmen. Eine Freiheit nach der nächsten bleibt dabei auf der Strecke.

Abwertende Botschaften treffen den Einzelnen jedoch nicht nur vonseiten unmittel­barer Bezugspersonen. Sie entspringen auch dem kulturellen Klima als Ganzes. Je weniger ein Gesellschaftssystem bereit ist, die Würde des Einzelnen, die sein Selbstbe­stimmungsrecht begründet, konsequent zu achten und je mehr sie ihn zu einem Objekt gesellschaftlicher Prozesse macht, desto weniger hält sie seine Würde in Ehren. Das schürt eine unterschwellige Aggression, die ihrerseits in entwertende Botschaften umgesetzt zu werden droht. Viele sind sich der Problematik nicht bewusst.

Entwicklungen
Ausgerechnet die Generation, die in den 70-er Jahren um Selbstbestimmung stritt, baut, nach dem langen Weg durch die Instanzen, das Recht dazu in tausend kleinen Schritten wieder ab.

Ursache ist ihr Unvermögen, zwischen Recht und Anspruch klar zu unterscheiden, und ihre Bereitschaft, Selbstbestimmungs­rechte gegen Versorgungsansprüche einzutauschen. Damit die Verwalter des Staates alle Ansprüche erfüllen können, die sie aus taktischen Gründen oft selbst erst wecken, reglementieren sie zwecks Steigerung der Produktivität das Leben des Einzelnen immer mehr. Das hat psychologische Folgen.

Die Reglementierung stößt das Selbstbestimmungsbedürfnis des Einzelnen vor den Kopf. Der Einzelne wird nicht nur von einer gesellschaftlichen Maximierungsdynamik erfasst, die ihn energetisch ausbrennt, die Einschränkung seiner Selbstbestim­mungsrechte erzeugt darüber hinaus meist unbewusste Schamgefühle, die sein Selbstwertgefühl untergraben und oft nur durch wachsende Aggression und die Abwertung anderer abgewehrt werden können. Ein Staat, der Ansprüche höher bewertet als Freiheiten und Rechte, schafft Bedingungen, die Konflikte schüren. Diese Konflikte geben Anlass, die Freiheit weiter einzuschränken.

Der Staat im Schlafzimmer

In Ihrem Schlafzimmer hat ein Rauchmelder zu hängen; und wen interessiert es, ob Ihnen das gefällt oder nicht? Rauchmelder retten Leben. Sagt die Vernunft. Schwimmwesten aber auch. Wieso ist baden ohne Weste dann erlaubt? Das Recht des Einzelnen, sich frei zu entscheiden, wird dem Anspruch der Gesellschaft geopfert, sich zu optimieren. Zu fürchten ist, dass sich die Idee zur nächsten Optimierung in den Köpfen ehrgeiziger Entscheidungsträger bereits zusammenbraut.

2.2. Urteile des Gewissens

Wie schon beschrieben, ist der Glaube, ehrenwert zu sein, nicht bloß Resultat äußerer Botschaften. Zuletzt ist er ein Urteil des eigenen Gewissens. Daher kann die gefühlte Ehre des Einzelnen auch durch Urteile untergraben werden, die einem unrealis­tischen Selbstbild entspringen. Wer davon ausgeht, dass er immer nur das Klügste sagen darf und dass er stets moralisch einwandfrei zu handeln hat, kann bei Verfehlungen, die andere Leute mit einem Achselzucken quittieren, vernichtende Urteile über sich selbst formulieren... und sich in der Folge als jedes Ansehens unwert empfinden.

Da über das Selbstwertgefühl auf der psychologischen Ebene entschieden wird, macht es Sinn, die kognitiven und emotionalen Prozesse, die mit der Kränkbarkeit des Ehrgefühls zusammenhängen, zu betrachten.

2.3. Psychologischer Grundkonflikt

Ehre ist das Gegenteil von Schande. Um die Dynamik von Ehre und Selbstwertgefühl zu verstehen, lohnt ein Blick auf die Ursachen der Schande.

Wir schämen uns dafür...

Ebenso wie das Schuldgefühl verweisen die Auslöser des Schamgefühls auf den psychologischen Grundkonflikt. Während das Schuldgefühl anzeigt, dass wir gegen die Regeln der Zugehörigkeit verstoßen haben, meldet das Schamgefühl, dass wir unser Bedürfnis, über uns selbst zu bestimmen, nicht erfüllen oder nicht erfüllen können.

2.4. Emotionale Abhängigkeit

Unter emotionaler Abhängigkeit versteht man die überwertige Bindung des Selbstwert­gefühls an das Urteil anderer. Emotionale Unabhängigkeit ist ein wesentliches Kriterium der persönlichen Reife. An dem, was sie als ehrverletzend erlebt, erkennt man den Reifegrad der Person. Je reifer man ist, desto eher sieht man seine Ehre darin, selbstbestimmt zu sein. Je unreifer man ist, desto mehr hängt das Ehrgefühl von der Bestätigung durch andere ab.

Reifegrade
Der Reifegrad einer Persönlichkeit hängt von ihrer Fähigkeit ab...

Unreife Persönlichkeiten...

Je mehr man davon ausgeht, dass man mit sich selbst übereinstimmt, desto unempfindlicher wird man gegenüber Abwertungen von außen. Ein gesunder Erwachsener ist in der Lage, sein Selbstwertgefühl durch eigenes Urteil zu schützen.

Der Gesunde sieht seine Ehre darin, selbst­bestimmt zu sein. Der Kranke ahnt wie fremdbestimmt er ist. Er fühlt seine Ehre verletzt, wenn andere über sich bestimmen. Er glaubt, er könne seine verletzte Ehre heilen, indem er anderen die Fremdbestim­mung aufzwingt, die er selbst nicht abzuschütteln wagt.

Grundregel

Je mehr eine Weltanschauung Individualität missachtet, desto mehr hält sie das, was ihr nicht zustimmt, für ehrlos.

Tatsächlich ist nicht mangelnde Zustimmung ehrlos. Die mangelnde Eigenständigkeit dessen, der die Bestätigung seiner Ehre einfordert, zeigt vielmehr an, was er der eigenen Würde schuldig bleibt.


Gerade im Orient kommen Status und sozialer Rolle besondere Bedeutung zu. Die Angst, entwertet zu werden, die dieser Denkweise entspricht, erzeugt eine gesteigerte Empfindlichkeit für Fragen der Ehre; was sich in fordernder Abhängigkeit von ausdrücklicher Wertschätzung durch andere niederschlägt oder in deren aktiver Entsprechung: der betonten Ehrerbietung gegenüber sozial dominanten Personen.

Der gesunde Mensch...

Je weniger ein Erwachsener den Anspruch seiner Psyche auf Selbst­bestimmung verwirklicht, desto weniger kann er sich aus eigener Kraft wertschätzen. Er bleibt auf die Wertschätzung anderer angewiesen. Er reagiert empfindlich, wenn sein Wert von außen angezweifelt wird.

Der unreife Mensch...

Ehrenmord

Der sogenannte Ehrenmord beleuchtet die seelische Dynamik der krankhaften Ehrverletzung. Ehrenmorde werden in der Regel von Personen verübt, die sich mit Glaubensvorstel­lungen identifizieren, die den unbedingten Wert des Menschen missachten.

Je mehr sich der Gläubige dem Glauben beugt, desto uner­träglicher erscheint es ihm, wenn andere freie Entscheidungen treffen. Weil sich der Gläubige Selbstbestimmung schuldig bleibt, glaubt er, seine Ehre zu retten, indem er andere ebenfalls daran hindert, selbstbestimmt zu leben. Wenn auch der Andere nicht über sich bestimmen kann, wird die eigene Unterwerfung erträglich. Wo kein Unterschied erkennbar ist, kann man am Kontrast nicht leiden.

Die Schuld an der Ehrverletzung wird dabei ebenso wie die Schuld am Mord auf das Opfer projiziert. Der Mörder "musste" das Opfer töten, weil das Opfer schuldhaft gegen den Glauben verstieß. Tatsächlich hat aber nicht das Opfer den Täter entehrt, sondern der Täter entehrt sich durch seine Bereitschaft zu blindem Gehorsam.

3. Psychologische Folgen

Auch wenn Pistolenduelle als klassische Form des Ehrenhändels heute historisch sind und Ehrenmorde eine Seltenheit, liegt der Ehrverletzung generell die Gefahr inne, schwerwiegende biographische Fehlentwicklungen oder akute psychologische Entgleisungen auszulösen. Wachsen Kinder in einem Klima abwertender Erziehungsbotschaften auf, steigt die Gefahr, dass sich Persönlichkeitsstörungen entwickeln; denn vielen fehlt auch als Erwachsene die Kraft, sich aus dem Bann pathologisch prägender Erfahrungen zu lösen.

Auch akute Ehrverletzungen, zum Beispiel im Rahmen öffentlicher Demütigungen, können schwerwiegende pathologische Entwicklungen anstoßen. Dazu gehören...

Um Chronifizierungen vorzubeugen oder bereits chronifizierte Störungen aufzulösen, gilt es, Schamgefühle, die das emotionale Echo gekränkter Ehrgefühle sind, bewusst zu durchleben, ohne sich dauerhaft aus der Begegnung mit anderen zurückzuziehen. In vielen Fällen sind Schamgefühle nicht bewusst. Sie sind vielmehr in ein Vermeidungs­verhalten mit schizoiden oder sozialphobischen Zügen investiert, mit dem sich die Betroffenen derart identifizieren, dass sie es nicht als pathologische Konfliktlösung erkennen.