Wer selbst unwahrscheinliche Gefahren im Voraus bedenkt, läuft Gefahr, sich nur noch mit Gefahren zu befassen.
Bei den meisten Angststörungen werden die Symptome durch spezifische Reize ausgelöst, zum Beispiel bei: Platzangst, Klaustrophobie, Höhenangst, Sozialer Phobie, Hundephobie usw. Bei der Generalisierten Angststörung (GAS) (ICD-10: F41.1) ist das anders. Hier hängt das Angsterleben nicht von besonderen Situationen ab, vor denen sich der Kranke fürchtet. Er fürchtet sich vielmehr vor allem, was überhaupt gefährlich werden könnte. Und was könnte das nicht?
Man sagt: Die Angst bei der GAS ist frei flottierend. Gemeint ist: Je nach Lage der Dinge schwillt sie an und ab, ohne dass sich der generell Ängstliche jemals ganz aus ihrem Zugriff lösen könnte.
Dementsprechend zählt die ICD-10 neben der Angst eine Reihe begleitender Symptome auf, die als unterschwelliger Ausdruck anhaltend ängstlicher Besorgtheit zu erkennen sind.
Das Kernsymptom der GAS, das alle übrigen nach sich zieht, ist dabei...
In der Regel konzentrieren sich die Sorgen des Kranken auf das eigene Wohl oder das seiner Angehörigen. Was, wenn einer davon krank wird oder ihm ein Unglück widerfährt? Die Themenwahl der ängstlichen Besorgtheit kann aber den unmittelbar privaten Horizont übersteigen. Schließlich braucht man nur die Tagesschau einzuschalten, um über einen kompletten Satz potenziell bedrohlicher Entwicklungen des Weltgefüges informiert zu werden. Und letztlich könnten uns auch die Folgen eines Vulkanausbruchs auf Kuba schmerzlich treffen... Wenn die karibischen Kommunisten nämlich vor dem Vulkanausbruch in aller Herren Länder flüchten und dort die Weltrevolution anzetteln, ohne die Psychologie des Menschen auch nur im Ansatz zur Kenntnis zu nehmen. Gott bewahre uns vor Plattentektonik und Kontinentaldrift!
Es stimmt: Die Ängste der GAS bedürfen keines spezifischen Auslösers. Trotzdem schwellen sie in bestimmten Lebenslagen an: Wenn der Kranke oder einer seiner Liebsten...
Feind oder Beschützer
Meist hält der Angstpatient die Angst für seinen größten Feind. Dabei ist sie zugleich Beschützer. Sie schützt ihn davor, sich Gefahren auszusetzen, denen er nicht ins Auge blicken will. Um sich vom Beschützer abzulösen, hilft es nicht, ihn zu verfluchen. Es gilt, ihn dankbar aus den Diensten zu entlassen.
Eben hieß es: Die Ängste der GAS bedürfen keines spezifischen Auslösers. Genau genommen stimmt das nicht. Der gemeinsame Nenner der kritischen Situationen liegt nämlich im Erlebnis einer Unsicherheit. So kann man sagen: Der spezifische Auslöser der generellen Ängste ist das Gefühl der Ungewissheit, das dem Leben im Allgemeinen und bestimmten Situationen im Besonderen inneliegt. Der generell Ängstliche leidet an einer Ungewissheitsphobie.
Eine einheitliche Ursache der GAS ist nicht auszumachen. Meist entwickelt sie sich schleichend durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die ihre Entstehung begünstigen:
Obwohl biologische Faktoren und erst recht die Prägung durch das Umfeld wichtige Rollen spielen, ist der wesentliche Faktor, der die Entwicklung einer GAS vorantreibt, die Art und Weise, wie der Patient im konkreten Fall mit seinem Sicherheitsbedürfnis und den üblichen Gefahren des Daseins umgeht. Zum besseren Verständnis des Geschehens sind drei Themenkreise zu betrachten:
Was der Mensch dem Tier voraus hat, ist das abstrakte Denken. Mit Hilfe gedanklicher Vorstellungen kann er über das konkrete Hier-und-Jetzt hinausblicken. Er tut es...
Bevor ich einen Bus nach Bochum besteige, informiere ich mich über den Fahrpreis und nehme genügend Geld mit. So gehe ich der Gefahr aus dem Wege, wegen fehlenden Kapitals zu Fuß gehen zu müssen.
Eine Gefahrensimulation, die in Maßen nützlich ist, wird - sobald sie übertrieben ist - zu einer eigenen Gefahr: zur Gefahr, eine GAS zu entwickeln.
Denkprozesse
Wenn ein Hundephobiker und ein generell Ängstlicher einen gemeinsamen Spaziergang planen, macht sich jeder seine Gedanken.
Der Hundephobiker denkt... | Der generell Ängstliche denkt... |
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... könnte es vor dem Hundebiss zu einem Unwetter kommen, bei dem der Spazierweg unterspült wird, was dazu führt, dass die Spaziergänger in eine Grube stürzen, sich die Knochen brechen und es in der Klink dann heißt, dass der Tollwutimpfstoff bei Frakturpatienten wirkungslos ist.
Was einen generell Ängstlichen zu dem macht, worunter er leidet, ist sein Bemühen, jede Gefahr, die im Leben drohen könnte, im Vorfeld zu bedenken. Schließlich könnte man dann etwas tun, damit es nicht soweit kommt!
Fatal ist nur, dass die geistige Beschäftigung mit bedrohlichen Inhalten emotionale Reaktionen nach sich zieht. Um das zu überprüfen, genügt es, sich im Kino einen Horrorschocker anzusehen. Obwohl klar ist, dass die Leinwand nichts als Illusionen zeigt, spürt man das Entsetzen, sobald Leute, die von eingeschlepptem Genmaterial aus dem Weltraum zu Leviathanmonstern mutiert sind, ihre Kinder fressen.
Das führt dazu, dass der generell Ängstliche Angst durch versuchte Abwehr in die Höhe treibt. Je mehr er alle Gefahren bedenkt, desto mehr erlebt er sich in einer Welt voller Gefahren, in der es ratsam erscheint, Gefahren eingehend zu bedenken.
Für jede Gefahr gibt es eine Wahrscheinlichkeit, dass sie eintritt. Jede Gefahr, die man im Geiste bedenkt, schürt zugleich ein gewisses Maß an Unruhe. Aus beiden Tatsachen entsteht unter Umständen ein Teufelskreis.
Wahrscheinlichkeit und Beunruhigung - Ein Bilanzierungsversuch
Gefahr | Wahrscheinlichkeit | Beunruhigungspotenz |
1 = 100% | Punkte: Unwetter = 1 | |
Dass ein Unwetter kommt... | 0,1 | 1 |
Einem Hund zu begegnen, der auf einen zukommt... | 0,3 | 5 |
Dass der Hund beißt... | 0,0001 | 50 |
Dass der Hund Tollwut hat... | 0,00001 | 300 |
Dass dem Rettungswagen die Achse bricht... | 0,00001 | 20 |
Dass der Impfstoff abgelaufen ist... | 0,001 | 50 |
Dass die Ärztin vom Rettungswagen überfahren wird... | 0,0000001 | 10Aus Sicht der Ärztin wäre das natürlich beunruhigender. Aus der Sicht des potenziellen Bisspatienten, wäre es aber nicht so tragisch. Es gibt ja noch andere Ärzte. |
Dass der Spazierweg unterspült wird... | 0,000001 | 5 |
Dass man sich beim Sturz in die Grube die Knochen bricht... | 0,0000001 | 2000 |
Dass der Impfstoff bei Frakturen nicht hilft... | 0,000000001 | 5000 |
Selbst wenn die Übersicht die Denkkaskade des GAS-Patienten überzeichnet, macht sie eines klar: Der Patient befasst sich mit Gefahren, die ihn vermutlich nie betreffen, die aber beunruhigen, wenn man sie sich vor Augen führt. Dadurch schließt sich der Kreislauf der generalisierten Angstentstehung. Die Beschäftigung mit der Gefahrenabwehr führt zu einem Unsicherheitsgefühl, das nach der vorsorglichen Abwehr vermeintlicher Gefahren zu rufen scheint.
Das Leben stellt seinen Ausdrucksformen Energien zur Verfügung, damit sie mit deren Hilfe die Wirklichkeit durchqueren. Die Energie strömt ständig wie ein Fluss nach vorne. Sobald sie auf ein Hindernis stößt, staut sie sich auf. Hat sie genügend Kraft gesammelt, um das Hindernis zu überwinden, fließt der Strom über die Hürde hinweg. Der Druck findet zum normalen Maß zurück. Oder der Fluss findet einen Seitenweg, um das Hindernis zu umgehen.
Was aber, wenn der Fluss der Lebensenergie von einem übervorsichtigen Denkorgan an der Überwindung selbst niedriger Hürden gehindert wird? Was, wenn er ständig hört: Stopp, zu gefährlich, das geht nicht, halt an!
Dann staut sich die Energie und bewirkt einen Spannungszustand der psychovegetativen Steuerung des Organismus, der sich durch die oben aufgeführten Symptome zum Ausdruck bringt. In der Summe fühlt sich dieser Zustand beunruhigend an. Er besteht aus gestauter Energie, die nach Entladung drängt. Weil sie mit wachsender Kraft auf Aktionen zielt, die das übervorsichtige Denkorgan des Patienten als zu gefährlich einschätzt, droht die Entladung umso heftiger, je länger sie zurückgehalten wird.
Der als bedrohlich empfundene Aufstau aggressiver Lebensenergie ist schließlich der Grund dafür, dass der generell Ängstliche auch dann nicht zur Ruhe kommt, wenn er alle Gefahren vermeidet, die er sich vorstellen kann. Nichts zu riskieren, ist eine Falle, die keine Sicherheit bringt.
Beim gesunden Menschen pendelt die Aufmerksamkeit zwischen dem Hier-und-Jetzt und dem Dort-und-Dann. Der Ängstliche befasst sich vorwiegend mit Gefahren, die in der Zukunft auf ihn lauern könnten. Er wendet im Geiste den Blick auf eine hypothetische Ferne, deren Schreckgespenster er selbst entwirft.
Da sich die Wirklichkeit immer nur im Hier-und-Jetzt befindet, kann man nirgendwo anders feststellen, wie gefährlich sie tatsächlich ist. So kommt es, dass der Ängstliche gebannt in die Zukunft starrt und dabei übersieht, dass die Wirklichkeit, in der sein Leben vonstattengeht, weit weniger bedrohlich als das selbsterschaffene Szenarium ist.
Das wenige, was der Ängstliche von der Wirklichkeit wahrnimmt, ist durchsetzt vom unbestimmten Unbehagen seiner aufgestauten Energie. Um Gottes Willen, was wenn das bumpernde Herz, der zittrige Leib und das flaue Gefühl in der Magengrube Vorboten eines Herzstillstandes sind?
Laut ICD-10 kann die GAS von einer Vielzahl anderer Störungen unterschieden werden; und zwar so trennscharf, als stamme der eine Kranke von den Paarhufern ab und der andere von den Meeresschildkröten. Einerseits mag das stimmen. Andererseits stimmt es oft nicht.
Bei vielen Patienten vermischt sich die Neigung zur generellen Sorge, die als Symptomenkomplex der GAS beschrieben wird, mit anderen Bildern. Dazu gehören:
So ist in der Praxis oft schwer zu entscheiden, zu welcher Diagnose man sich entschließen mag.
Immerhin betont das amerikanische Diagnose-Manual (DSM-IV), dass eine GAS nur dann anzunehmen ist, wenn sich die Sorgen und Befürchtungen des Patienten nicht auf das spezifische Themengebiet einer anderen Angststörung beschränken; nämlich...
Glücklicherweise hat uns die Ordnungsliebe der WHO darüber hinaus die diagnostische Kategorie der Gemischten Angststörung (ICD-10: F41.3) zur Verfügung gestellt, unter der man Zweifelsfälle und Mischbilder klassifizieren kann.
Je nach Neigung des Patienten und Ausprägung der Symptome kommen bei der Behandlung der GAS Medikamente und/oder psychotherapeutische Methoden zum Einsatz.
Für eine Reihe von Medikamenten ist die Wirksamkeit bei der GAS nachgewiesen. Sie sind zu deren Behandlung zugelassen und entstammen verschiedenen Substanzgruppen. Bei anderen liegt zwar keine Zulassung vor, sie haben sich im klinischen Alltag aber als wirksam gegen Ängste gezeigt.
Medikamente zur Behandlung der Generalisierten Angststörung
Substanz | Dosis (mg) | Bemerkung |
Antidepressiva | Langzeittherapie | |
Paroxetin | 40 | |
Escitalopram | 10 | Off-label: Citalopram |
Venlafaxin | 75-225 | |
Duloxetin | 30-120 | |
Antikonvulsiva | ||
Pregabalin | 150-600 | wenig Wechselwirkungen, Ausscheidung über Niere |
Benzodiazepine | rascher Wirkungseintritt, Behandlung von Angstspitzen, hohe Suchtgefahr | |
Lorazepam | 0,5-5 | |
Alprazolam | 0,5-3 | |
Bromazepam | 3-6 | |
Diazepam | 20-40 | langwirksame Metabolite |
Nordazepam | 2-15 | Kumulationsgefahr |
Oxazepam | 5-20 | rasche Ausscheidung über Niere, auch für ältere Patienten geeignet |
Serotonin-Rezeptor-Agonist | ||
Buspiron | 15-60 | nicht sedierend, keine Suchtgefahr, wirkt erst nach 10-14 Tagen |
Trizykl. Piperazinderivat | ||
Opipramol | 50-300 | antihistaminerg, gering anticholinerg |
Antihistaminika | ||
Hydroxyzin | 25-75 | stark anticholinerg |
Einen umfassenden Überblick bieten die ⇗S3-Leitlinien zur Behandlung der Angststörungen (PDF).
Bei der psychotherapeutischen Behandlung der GAS kommt meist eine Kombination tiefenpsychologisch-kognitiver und verhaltenstherapeutischer Methoden zu Einsatz.
Der Angstpatient nimmt von der Wirklichkeit nur wenig wahr. Stattdessen denkt er viel. Ein wesentlicher Baustein zum Abbau der Ängste liegt daher in der Neuausrichtung der Aufmerksamkeit auf das, was tatsächlich wahrnehmbar ist.
Der Angstpatient neigt dazu, nicht sein zu wollen, wie er ist. Er geht davon aus, dass er sich immer sicher fühlen sollte. Folglich lehnt er Angst grundsätzlich ab. In seinen Augen ist sie eine Krankheit, die man beseitigen sollte oder gar ein Feind, der ihm von außen zusetzt, weil er ihm Böses will.
Tatsächlich ist Angst ein momentaner Wesensausdruck des Kranken selbst. Wenn er sie ablehnt, nimmt er einen Teil seiner selbst nicht an. Abgelehnt zu werden, ist andererseits ein Grund, sich vor der Welt zu fürchten. So wird die Haltung des Kranken der Angst gegenüber zu einer Ursache dafür, dass sie nicht verschwindet, sondern ihn erst recht bedrängt. Es gilt, an der Angst zu üben, sich so zu belassen, wie man ist.