Die Auslöser dissoziativer Störungen liegen oft in der frühen Kindheit, weil das Kleinkind dem traumatisierenden Umfeld so ausgeliefert ist, dass es eine selbstheilende seelische Reaktion nicht riskieren kann.
Der gesunde Mensch erlebt sich als Einheit der verschiedenen Bestandteile seiner Selbstwahrnehmung. Er deutet sein Ich als Verbund seiner Empfindungen und Wahrnehmungen, seiner Gedächtnisinhalte, Gedankengänge, Impulse, Entscheidungen und Willkürbewegungen. Er definiert seine Identität als ununterbrochene Abfolge zusammengehöriger Daseinsweisen, die in den Kontext der Umwelt eingebettet ist.
Dissoziiert (von lateinisch dissociare = trennen, spalten, auflösen) nennt man eine Selbstwahrnehmung, bei der dieser Zusammenhang verloren gegangen ist. Die integrative Funktion des Bewusstseins ist während solcher Zustände außer Kraft gesetzt, sodass der Kranke von einer oder mehreren Ebenen seiner persönlichen Identität nichts mehr weiß. Der dissoziierte Modus macht sich selbständig. Er führt ein Eigenleben.
Im Gegensatz zu den Ich-Störungen, die insbesondere für schizophrene Psychosen charakteristisch sind, wird die Funktion des betreffenden Modus aber nicht als von außen bewirkt bzw. beeinflusst erlebt.
Dissoziative Störungen gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO
Name | ICD | Abgespaltene Modi |
Dissoziative Amnesie | F44.0 | Gedächtnisinhalte |
Dissoziative Fugue | F44.1 | Gedächtnisinhalte, Handlungsentscheidungen, Kenntnis der persönlichen Position im Lebenskontext |
Dissoziativer Stupor | F44.2 | Willkürbewegungen |
Trance- und Besessenheitszustände | F44.3 | gesamtes psychomotorisches Verhalten |
Dissoziative Bewegungsstörungen | F44.4 | Willkürbewegungen, Handlungsentscheidungen |
Dissoziative Krampfanfälle | F44.5 | Willkürbewegungen, Handlungsentscheidungen |
Dissoziative Sensibilitätsstörungen | F44.6 | Leibliche Empfindungen, Sinneswahrnehmungen |
Multiple Persönlichkeitsstörung | F44.81 | Teilaspekte der Persönlichkeit |
Transitorische dissoziative Störungen in Kindheit und Jugend | F44.82 | verschiedene |
Transitorisch: Im Rahmen von Reifungskrisen in Kindheit und Jugend kommt es gehäuft zu vorübergehenden psychischen Turbulenzen, die sich nicht zu fortdauernden Erkrankungen verfestigen.
Bei der dissoziativen Amnesie kommt es zu ausgestanzten Erinnerungslücken, die sich meist auf peinliche, erschütternde oder traumatisierende Ereignisse beziehen. So kann sich der Betroffene nach Unfällen, nachdem er gedemütigt oder misshandelt wurde, nachdem er Opfer einer Straftat geworden ist oder selbst etwas Verbotenes tat, nicht mehr an Details der Ereignisse erinnern. Oder er vergisst das Ereignis überhaupt.
Fließende Übergänge bestehen zu Erinnerungsverfälschungen. Dabei besteht zwar eine Erinnerung an das Ereignis, die erinnerten Details erscheinen jedoch ebenso stark subjektiv verzerrt, wie die Deutung des Erlebten insgesamt. Untersuchungen zeigen, dass bereits die normale Gedächtnisfunktion Inhalte keineswegs objektiv abspeichert. Je länger Erlebtes zurückliegt, desto mehr verdichtet das Gedächtnis es zu einer individuellen Version, die stark von den Versionen anderer abweichen kann. Dabei scheint Verdrängung eine große Rolle zu spielen.
Der Betroffene einer dissoziativen Fugue bricht plötzlich aus einer alltäglichen Situation aus und macht sich auf den Weg nach sonst wohin. Er verlässt Wohnung oder Arbeitsplatz und wundert sich Stunden oder Tage später, wie er an die Stelle kam, an der er wieder "zu sich kommt". Dabei vollzieht der Kranke von außen betrachtet ganz normale Handlungsabfolgen. Während der Reise kann sowohl die Erinnerung an seine Vergangenheit als auch an seine aktuelle Lebenssituation abgespalten sein. Im Nachhinein besteht Amnesie für den Hergang der Fugue und die Motive, die zum Aufbruch führten.
Beim dissoziativen Stupor verfällt der Kranke in einen Zustand geistesabwesender Bewegungslosigkeit, an den er sich danach nur verschwommen erinnern kann. Während des Zustands reagiert er kaum auf äußere Reize.
Trance- und Besessenheitszustände kommen spontan vor oder sie werden im Rahmen meist archaischer religiöser Praktiken herbeigeführt bzw. simuliert. Nur ungewollt entstehende Zustände gelten als krankhaft. In der Trance erlebt der Betroffene einen Verlust seiner persönlichen Identität sowie eine eingeschränkte Wahrnehmung der Umgebung. Besonders im Rahmen religiöser Praktiken wird der Verlust des persönlichen Identitätsgefühls als Besessenheit durch einen fremden Geist gedeutet.
Bei den dissoziativen Bewegungsstörungen kommt es zu "Lähmungen" oder vermeintlich unwillkürlichen Bewegungen einzelner Körperglieder, die sich der Kranke nicht erklären kann.
Risiko
Sind bei einem Patienten dissoziative Störungen bekannt, entstehen spezifische Risiken. Der Patient riskiert im Falle einer aufkommenden neurologischen Erkrankung nicht ernst genommen zu werden. Der Arzt riskiert einen Kunstfehler, wenn er im Glauben, auch das sei psychogen, rettende Maßnahmen unterlässt.
Dissoziative Anfälle ahmen körperlich begründete, epileptische Anfälle nach. Allerdings kommt es kaum je zu den typischen Begleiterscheinungen echter Krampfanfälle, wie Zungenbiss, Einnässen oder Einkoten. Auch Verletzungen sind sehr selten.
Zu den dissoziativen Anfällen ist ebenfalls ein bestimmter Typus von Kollapsneigung zu rechnen, der heute selten geworden ist. In viktorianischen Zeiten fiel so manche Dame in Ohnmacht, wenn ein peinliches Thema aufkam, das mit seinerzeit stark tabuisierten Trieben in Verbindung stand. Der Verkauf von Riechfläschchen, der damals florierte, ist heute kein Geschäft mehr; und uns bleibt es erspart, zur Rettung kollabierender Damen mit dem Ruf nach einem Riechfläschchen das zungenbrechende Potenzial von drei verketteten Zischlauten zu erleiden.
Dissoziative Sensibilitätsstörungen treten als Taubheitsgefühl oder Kribbeln in unterschiedlichen Hautarealen auf oder sie betreffen die Funktion einzelner Sinnesorgane. Es kommt zu Seh- oder Hörverlust. Der Kranke kann plötzlich nichts mehr riechen oder schmecken.
Bei der multiplen Persönlichkeit lebt der Kranke zu verschiedenen Zeiten verschiedene Rollen aus, ohne dass er die Eigenschaften dieser Rollen einer einzigen - widersprüchlichen - Gesamtpersönlichkeit zuordnet. Während der gesunde Mensch weiß, dass er je nach Situation und innerem Werturteil lieb oder böse, pflichtbewusst oder gleichgültig, prüde oder sinnenfroh sein kann, geht das Bewusstsein der Widersprüchlichkeit bei der dissoziativen Identitätsstörung verloren. Die multiple Persönlichkeit deutet sich nicht als ein Sowohl-als-auch. Sie kennt sich nur als Entweder-oder.
Die verschiedenen Teilpersönlichkeiten ordnen sich meist Namen zu, so als gäbe es tatsächlich zwölf Seelen in einer Brust. Dann ist heute die pflichtbewusste Annegret am Werk, morgen die verruchte Chantal und übermorgen die boshafte Käthe. Was allerdings fehlt, ist eine konstante Persönlichkeitsinstanz, die Verantwortung für die Taten der Teilpersönlichkeiten übernimmt.
Parallelen zu den dissoziativen Störungen weisen zwei weitere Krankheitsbilder auf, die in der ICD-Klassifikation aber nicht dem gleichen Kapitel zugeordnet werden.
Störungen mit Bezug zur Dissoziation gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO
Name | ICD | Grundmuster |
Depersonalisation Derealisation |
F48.1 | Entfremdungserlebnisse |
Histrionische Persönlichkeitsstörung | F60.4 | Neigung zu dissoziativen Mustern im Rahmen einer Persönlichkeitsstörung |
Bei der Depersonalisation kommt es zu einem Gefühl der Entfremdung gegenüber dem eigenen Körper oder der seelischen Selbstwahrnehmung. Die Betroffenen empfinden sich als Ganzes unwirklich, wie distanziert von sich selbst, ohne dass sie einen Teilaspekt ihrer selbst als konkret verändert wahrnehmen. Eigentlich ist alles wie immer, nur dass es irgendwie merkwürdig ist. Solche Zustände können heftige Ängste hervorrufen, vor allem die Angst, verrückt zu werden; die sich ihrerseits bis zur Panik steigern kann.
Bei der Derealisation bezieht sich das Empfinden von Fremdheit und Distanz auf die Außenwelt. Unterwegs in der Stadt wirken die Dinge befremdlich, unwirklich, entrückt oder fassadär, ohne dass sich an den Details erkennbar etwas geändert hätte.
Was die histrionische Persönlichkeitsstörung in die Nähe der dissoziativen Störungen rückt, ist die Häufung dissoziativer Symptome, die bei hysterischen Persönlichkeiten zu beobachten ist. Dazu zählen die sogenannten Konversionssymptome, also pseudoneurologische Phänomene, die sich auf körperlicher Ebene manifestieren und auf den ersten Blick so aussehen als liege eine neurologische Ursache vor; zum Beispiel eine Nervenbahnschädigung, eine Epilepsie oder ein Schlaganfall. Tatsächlich sind es aber dissoziative Bewegungs-, Empfindungs- und Sensibilitätsstörungen oder dissoziative Anfälle.
Zwillingsstudien belegen, dass es eine angeborene Neigung gibt, mit dissoziativen Symptomen auf seelische Belastungen und ungelöste Konflikte zu reagieren. Diese genetische Anlage geht oft Hand in Hand mit Charaktermustern, die einer histrionischen Persönlichkeit zugeordnet werden können. Dazu gehören:
Neben einer dissoziativen Grundbereitschaft spielen als konkrete Auslöser emotionale Belastungen im Rahmen seelischer und zwischenmenschlicher Konflikte eine Rolle, vor allem wenn es der betroffenen Person nicht gelingt, im psychologischen Grundkonflikt einen tragfähigen Kompromiss zu finden. Da dissoziative Störungen oft durch zwischenmenschliche Konflikte ausgelöst werden, wirken sie zuweilen demonstrativ, appellativ oder manipulativ. Es hat dann den Anschein, als solle die Symptombildung im Interesse des Kranken etwas bewirken, was dieser nicht offen anzustreben wagt.
Eine besondere Rolle bei der Entstehung dissoziativer Störungen kommt unverarbeiteten Traumata zu. Unverarbeitet ist ein Trauma, wenn der Traumatisierte die Gefühle, mit denen er auf das traumatische Ereignis reagierte, nicht zu Ende erlebt hat. Ein solches Abbrechen des heilenden Erlebniszyklus kommt vor allem vor...
wenn der Betroffene zum Zeitpunkt der Traumatisierung entwicklungspsychologisch zu unreif war, um die entsprechenden Gefühle zu durchleben.
wenn die Abhängigkeit des Betroffenen vom Umfeld so groß war, dass ihn ein ungehindertes Erleben der Gefühle unzumutbaren Gefahren ausgesetzt hätte; zum Beispiel der unmittelbaren Aggression des Umfelds oder dem Entzug zwingend notwendiger Unterstützung.
Da beide Bedingungen vor allem für Säuglinge und Kleinkinder gelten, sind es vor allem frühkindliche Traumata, die als Ursprung dissoziativ-neurotischer Entwicklungen zu vermuten sind.
Bislang wenig erforscht ist der Zusammenhang vorgeburtlicher Einflüsse auf das ungeborene Kind und späteren psychiatrischen Erkrankungen. Das gilt auch für dissoziative Störungen, als deren mögliche Ursache verschiedentlich pränatale Traumata diskutiert wurden (Hochauf, Renate 2008).Zur Spezifik pränataler Traumatisierungen und deren Bearbeitung in der Therapie, Int. J. of Prenatal and Perinatal Psychology and Medicine Dabei ist zum Beispiel an Abtreibungsversuche, schwere Erkrankungen der Mutter oder andere Schwangerschaftskomplikationen zu denken.
Nach Ausschluss körperlicher Ursachen kommt die entscheidende Rolle bei der Behandlung dissoziativer Symptome der Psychotherapie zu. Häufig befürchtet der Kranke, an einer bedrohlichen körperlichen Erkrankung zu leiden oder verrückt zu werden. Zunächst gilt es daher, ihn über die grundsätzliche Ungefährlichkeit der Störung zu informieren. Das nennt man Psychoedukation.
Psychoedukation
Was Sie erleben, ist nicht wirklich gefährlich.
Psychotherapie
Bleiben Sie bei Ihren Gefühlen, bis sie von selbst verebben.
Selbsthilfe
Bleiben Sie im Jetzt. Dort gehört alles zu allem.
Heilung
Bei der eigentlichen Psychotherapie werden die Auslöser der konkreten Symptombildung untersucht und die zugehörigen innerseelischen Konflikte analysiert. Tauchen dabei unverarbeitete Traumatisierungen auf, zum Beispiel Gewalterfahrungen oder sexueller Missbrauch in der Kindheit, sind diese therapeutisch so lange zu bearbeiten, bis die abgespaltenen Scham- oder Schuldgefühle in ein bejahendes Selbstbild eingebunden sind.
Belege für eine Wirksamkeit von Psychopharmaka sind spärlich. Immerhin gibt es Hinweise, dass bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung Naltrexon helfen kann und Paroxetin bei Patienten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung wirkt.
Manche dissoziativen Störungen gehen mit starker Angst einher. Das gilt insbesondere für die Depersonalisation und die Derealisation. Dann sind Maßnahmen zur unmittelbaren Selbsthilfe nützlich.
Grundprinzip dieser Maßnahmen ist es, eine Verschmelzung des dissoziativ unterbrochenen Selbsterlebens herbeizuführen. Dazu geeignet sind Strategien, die die Aufmerksamkeit ins Hier-und-Jetzt bündeln; vor allem starke Reizung der verschiedenen Sinnesorgane.
Geeignet ist ein Schmerzreiz natürlich nur, wenn man sich dabei keinen objektiven Schaden zufügt. Die Selbstverletzungen durch Messer, Glasscherben oder brennende Zigaretten, die sich Patienten mit Borderline-Störung oder Psychosen zufügen, mögen ebenfalls eine Selbsthilfe sein, um quälende Gefühlszustände zu beenden, eine geeignete Selbsthilfe sind sie aber nicht, weil die Selbstverletzung und ihre langfristigen Spuren das Selbstwertgefühl untergraben.
Reizung und Verlockung
Nicht nur die intensive Reizung der Sinnesorgane kann helfen, sondern auch die Verlockung des Angenehmen an sich.
Ein anderes Wirkprinzip liegt im gezielten Arrangement wohltuender Erfahrungen, die der Betroffene ohne Abspaltungsbedürfnis an sich heranlassen kann. Beim einen mögen das Berührungen sein, beim anderen Musik, Entspannungsbäder mit duftenden Essenzen und beim nächsten der achtsame Konsum seiner Lieblingsspeisen.
Die Reizung der Sinnesorgane ist in der akuten Krise ein Mittel kurzfristiger Entlastung. Darüber hinaus sollten Betroffene generell eine intensive sinnliche Erfahrung ihrer Umgebung einüben. Je mehr Details man von der Welt erkundet, desto mehr erkennt man sie als ein zusammenhängendes Gewebe, aus dem nichts abzuspalten ist.