Das Herkunftswörterbuch des Duden-Verlags (Etymologie der deutschen Sprache) nennt den indoeuropäischen Begriff ṷer- zweimal als Ausgangspunkt weiterer Bedeutungsketten.
Das Wörterbuch verrät uns nicht, ob es vor dem hypothetischen Indogermanen, der beim Wort ṷer- einmal an Gunst und Freundlichkeit, ein anderes Mal an Schutz und Wehrhaftigkeit dachte, einen Prä-Indogermanen gab, in dessen Vorstellungswelt beide Bedeutungen in eine zusammenflossen. Die weitere Untersuchung der Begriffe verdeutlicht jedoch, dass der Prä-Indogermane damit nicht falsch gelegen hätte. Selbst wenn die Verbindung sprachgeschichtlich umstritten ist (siehe dazu: ⇗Heinrich Tischner und ⇗Fritz Mauthner), sind wahr und wahren logisch miteinander verwandt. Tätige Freundlichkeit ist Inobhutnahme. Sie bietet Schutz und wehrt Schaden ab.
Die Wurzel des Adjektivs wahr ist ṷer- im Sinne von Gunst, Freundlichkeit, eine Freundlichkeit erweisen. Zum gleichen Sinnstrang gehört die Wahrheit. Der Grundgedanke der freundlichen Gabe, die hinter der Wahrheit steht, wird in verwandten Begriffen deutlich: Wirt und gewähren. Beide sind mit dem Wahren etymologisch verschwistert.
Der Wirt gewährt seinen Gästen Gutes. Er nimmt sie in die Obhut seiner Gastfreundschaft und sorgt für ihr Wohl. Die Wirklichkeit ist ein Wirt, der seinen Gästen Wahrheit gewährt. In der Wahrheit gewährt uns die Wirklichkeit eine Gunst. Als wahr gibt sie zu erkennen, was uns wohlgesinnt durch die Gefahren des Daseins führt.
An der Quelle des Verbs wahren steht das zweite ṷer-; hier in der Bedeutung: mit einem Schutzwall umgeben, schützen, bedecken.
Aus derselben Quelle stammt das Verb wehren. Wird etwas bewahrt, wird es in schützende Obhut genommen. Angriffe gegen das Bewahrenswerte werden abgewehrt. Wertvolles wird sicher verwahrt. Sein Wert wird beachtet. Der Grundgedanke des Wahrens heißt: schützend beachten.
Das Wahr in Wahrnehmung gehört zur Bedeutungskette des Be- und sicher Verwahrens. Wahrnehmen heißt, etwas in Obhut nehmen, es behüten und zu warnen, wenn ihm Gefahr droht.
Die Beachtung der Wirklichkeit, die man bei der Wahrnehmung betreibt, entspricht einer Bewahrung von Werten. Wahrgenommen wird nicht irgendwas, sondern Wahres, dessen Kenntnis den Wahrnehmenden begünstigt. Zugleich entsteht aus der Wahrnehmung eine Obhutspflicht.
Der Anwalt nimmt die Interessen seines Mandanten wahr. Das heißt: Er nimmt die Interessen des Mandanten nicht nur zur Kenntnis. Vielmehr setzt er sich für deren Bewahrung ein.
Ich nehme wahr, wie die Wirklichkeit beschaffen ist. Das heißt: Ich nehme nicht nur zur Kenntnis, was ich erkennen und mit Begriffen kennzeichnen kann. Vielmehr setze ich mich für die wahre Beschaffenheit des Erkannten ein. Ich nehme das als wahr Wahrgenommene in die Obhut meines Wissens und bewahre die erkannte Wahrheit demgemäß vor Schaden.
Doch warum ist das ratsam? Weil Wahrheit eine freundliche Gabe der Wirklichkeit ist und es ihr zusteht, im aktiv bewahrenden Sinne der Wahrnehmung angenommen zu werden. Das Verhältnis zwischen objektiv Wahrnehmbarem und wahrnehmendem Subjekt ist ein Verhältnis von geben und nehmen. Die objektive Seite gibt Wahrheit damit die subjektive ihr Schutz gewährt.
Gewahrsein ist das in Eins versammelte, durch dessen Gegenwart das Wahrnehmbare wirklich wird.
Werfen wir zuletzt einen Blick auf das Verb nehmen. Es geht auf das indoeuropäische nem- = zuteilen zurück. Nehmen heißt: sich etwas zuteilen. Im Gegensatz zum Bekommen ist das Nehmen ein aktiver Prozess.
Wahrnehmung ist keine Wahrbekommung. Das Wahre, mit dem uns die Wirklichkeit bewirtet und das wir durch Wahrnehmung in unsere Obhut nehmen, wird uns nicht am Tisch serviert. Es befindet sich auf einem Büffet, auf das man aktiv zugehen muss und an dem es bewusst zu wählen gilt. Bei der Wahrnehmung von Wahrem besteht eine Wahl. Die Wahl kann zum Wesentlichen oder zu Missbrauch führen.
Wahrnehmbares kann auf zweierlei Art angenommen werden:
Distanz und mittelbare Wahrnehmung
Modus | Distanz |
sehen | schafft Distanz und Überblick |
hören | überwindet Distanz |
riechen | sucht oder vermeidet Nähe |
tasten | Berührung |
schmecken | Verschmelzung |
Zur mittelbaren Wahrnehmung gehört, was durch Vermittlung der Sinnesorgane, des peripheren Nervensystems, also aller zuführenden Nervenbahnen sowie der zugehörigen rezeptiven Regionen des Gehirns (z.B. visueller Kortex) erkennbar wird. Dazu zählt, was man sehen, hören, riechen, schmecken kann; außerdem was man über Berührungs-, Druck-, Wärme- und Schmerzrezeptoren der Haut und des Körperinneren spürt; einschließlich der Körperhaltung und der Stellung der Gelenke. Mittelbare Wahrnehmung informiert über Außenwelt und Körper.
Hauptfunktion der mittelbaren Wahrnehmung ist die Orientierung des Körpers in der physikalischen und biologischen Umwelt. Mit der Entwicklung von Sprache und Zivilisation ist dem Gehör eine besondere Bedeutung im sozialen Austausch zugefallen.
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Für die unmittelbare Wahrnehmung sind außer dem Gehirn keine organischen Strukturen notwendig; was natürlich nicht ganz stimmt, denn ohne sonstige organische Strukturen, gäbe es kein Gehirn. Unmittelbar nehmen wir Gefühle, Stimmungen, Impulse, Vorstellungen und das eigene Denken wahr; außerdem Trugwahrnehmungen, Trauminhalte sowie spezifische Empfindungen, die als begleitende Qualitäten Gefühlen, Impulsen und Gedanken zugeordnet sind.
Die unmittelbare Wahrnehmung richtet sich auf die Dynamik innerseelischer Prozesse aus, die im Bewusstsein als Gewebe wahrnehmbarer Phänomene erkennbar ist. Ihre Funktion liegt in der Selbsterkenntnis sowie der damit verbundenen Ausrichtung der Person auf das soziale Umfeld. Der Vollzug der bewussten Existenz ist ein komplexes System sich ergänzender Rückkopplungen, das auf innere und äußere Informationsquellen zugreift. Die Wahrnehmung des relativen Selbst entscheidet wesentlich mit, wie sich das Ich im Bezug zum sozialen Umfeld verhält.
Da sich der Schwerpunkt des menschlichen Lebensvollzugs weg von der Auseinandersetzung mit der physikalischen Realität und hin zur Dynamik der sozialen Wirklichkeit verschiebt, kommt der unmittelbaren Wahrnehmung des Inneren wachsende Bedeutung zu.
Störungen der Wahrnehmung beruhen auf körperlichen und/oder seelischen Ursachen. Sie werden durch vier Gruppen kausaler Faktoren bedingt:
Bezieht sich die Störung nicht auf einen äußeren Wahrnehmungsgegenstand, sondern auf einen inneren, ist von einer Störung der unmittelbaren Wahrnehmung auszugehen.
Schwieriger ist die Zuordnung zu Ursachen. Da das Individuum ein psychosomatischer Organismus ist, bei dem beide Ebenen ineinandergreifen, können Wahrnehmungsstörungen nicht immer eindeutig körperlichen oder seelischen Ursachen zugeordnet werden. Bei manchen Störungen greifen körperliche und seelische Ursachen ineinander, andere können mal durch körperliche, mal durch seelische Faktoren verursacht sein. Behält man das im Auge, ist eine orientierende Einteilung möglich.
Körperbedingte Störungen der mittelbaren Wahrnehmung spielen in der Psychiatrie eine untergeordnete Rolle. Sie können durch Funktionsstörungen der Sinnesorgane, der zuführenden Nervenbahnen oder jener Bereiche des Zentralnervensystems verursacht werden, die für die Verarbeitung und Bewusstwerdung äußerer Sinnesreize verantwortlich sind.
Störungen der Sinnesorgane sowie der Nervenbahnen führen zu Störungen der sinnlichen Wahrnehmung an sich.
Bei Agnosien wird zwar gesehen, gehört und geschmeckt, dem Kranken ist es aber nicht mehr möglich, die Sinneseindrücke erinnerbarem Wissen zuzuordnen. Der Kranke sieht, ohne verstehen zu können, was er sieht.
Störungen der sinnlichen Wahrnehmung
Modus | Störungen |
sehen | Blindheit, Amaurose, Myopie = Kurzsichtigkeit, Hyperopie = Weitsichtigkeit, Presbyopie = Alterssichtigkeit |
hören | Taubheit, Anakusis = Hörverlust, Hypakusis = vermindertes Hörvermögen |
riechen | Anosmie = Verlust des Riechvermögens, Hyposmie = vermindertes Riechvermögen |
tasten | Sensibilitätsstörungen, Anästhesie = Verlust des Tastempfindens, Hyästhesie = abgeschwächtes Tastempfinden, Analgesie = Verlust des Schmerzempfindens, Hypalgesie = vermindertes Schmerzempfinden, Thermanästhesie = Verlust des Temperaturempfindens |
schmecken | Ageusie = Verlust der Geschmackswahrnehmung, Dysgeusie = Fehlfunktion der Geschmackswahrnehmung |
Störungen des Erkennens / Agnosien
Modus | Störungen |
sehen | optische Agnosien, z.B.: Wiedererkennen von Gegenständen oder Personen (Prosopagnosie), der Raumstruktur, von Farben, Schriftzeichen (Alexie), Autotopagnosie (Unvermögen Körperteile zuzuordnen bzw. zu benennen), Rechts-Links-Agnosie |
hören | akustische Agnosie, sensorische Amusie, Sprachverständnisstörungen |
riechen | olfaktorische Agnosie |
tasten | taktile Agnosie (Unvermögen, Gegenstände durch Betasten zu erkennen) Stereoagnosie, Asterognosie |
schmecken | gustatorische Agnosie |
Zwar gelten Agnosien und Störungen der sinnlichen Wahrnehmung nicht als psychiatrische Probleme, sie können sekundär jedoch solche nach sich ziehen; vor allem depressive Entwicklungen bei Verengung des sozialen Handlungshorizonts durch Einschränkung des Kommunikationsvermögens.
Außerdem ist bekannt, dass Schwerhörigkeit zu einer Häufung paranoider Erlebnisweisen führt. Wer schlecht hört, bekommt wenig davon mit, was andere besprechen. Ist er misstrauisch oder hat er ein brüchiges Selbstwertempfinden, vermutet er gehäuft, dass etwas gegen ihn im Gange ist.
Psychologische Experimente mit Versuchspersonen in schallisolierten, abgedunkelten und mit lauwarmem Wasser gefüllten Containern haben gezeigt, dass eine extreme Abschirmung gegenüber sinnlich wahrnehmbaren Außenreizen (sensorische Deprivation) zu Halluzinationen führen kann. In seltenen Fällen gilt das auch bei sensorischer Überreizung, also bei Überflutung mit Sinnesreizen.
Toxisch bedingte Störungen der mittelbaren Wahrnehmung sind Folge von Alkoholkonsum oder Drogeneinnahme.
Zum einen kann es zu Bewusstseinstrübungen kommen, was die Wahrnehmung äußerer Sinnesreize vergröbert; vor allem unter dämpfenden Substanzen wie Alkohol, Opiaten, Barbituraten und Tranquilizern. Solche Störungen sind gewissermaßen quantitativ.
Zum anderen kommt es unter dem Einfluss halluzinogener Drogen (LSD, Meskalin, Psilocybin), seltener auch unter Cannabis, zu qualitativ veränderten Wahrnehmungen; zum Beispiel zur Steigerung der Wahrnehmungsintensität oder Veränderungen der Größen- und Gestaltwahrnehmung. Man spricht auch von sensorischen Störungen. Solche Erlebnisweisen sind nicht auf Drogenkonsum beschränkt. Sie können auch bei Hirnschädigungen, endogenen Psychosen oder Epilepsie auftreten.
Qualitative Veränderungen der Wahrnehmung / sensorische Störungen
Modalität | Störungen |
Farbe | lebhaftere Farbwahrnehmung |
Größe | Mikropsie (alles erscheint kleiner), Makropsie (alles erscheint größer), Heautometamorphopsie (veränderte Größen- oder Distanzwahrnehmung von Körperteilen) |
Gestalt | Heautoskopie (Wahrnehmung eines Doppelgängers in der eigenen Gestalt), Dysmorphopsie (verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers), Metamorphopsie, Dysmetropsie (verzerrte Wahrnehmung von Objekten) |
Distanz | Empfinden eines ungewöhnlichen Abstands zu den Objekten der Wahrnehmung (Nähe ≙ Peloposie oder Ferne ≙ Porropsie bzw. Teleopsie), auch Wahrnehmungsspaltung genannt |
Raum und Zeit | veränderte Wahrnehmung der geometrischen Raumstruktur veränderte Wahrnehmung des Ablauftempos der Zeit (Zeitlupe oder Zeitraffer) Haften optischer Eindrücke im Gesichtsfeld |
Klang | veränderte Wahrnehmung akustischer Reize (veränderter Klang von Stimmen, z.B. hohl, roboterartig, Micky-Maus-Effekt, Nachhall-Effekt) |
Störungen der unmittelbaren Wahrnehmung durch körperliche Ursachen spielen eine wichtige Rolle. Zahlreiche Erkrankungen, die die Struktur oder den Stoffwechsel des Gehirns betreffen, verursachen Psychosen. Zu den wichtigsten Symptomen der Psychosen zählen Trugwahrnehmungen, also Halluzinationen. Außerdem kann es zu Ich-Störungen kommen.
Beide Symptomgruppen bezeichnet man als produktiv. Der Begriff verweist darauf, dass es sich bei Trugwahrnehmungen nicht um die verzerrte Wahrnehmung tatsächlicher Sinnesreize handelt, die mittelbar von außen kommen, sondern um eigenständige Produkte des Gehirns.
Ähnliches gilt für die besondere Wahrnehmungsqualität, die sich zu sogenannten Ich-Störungen verdichtet. Dabei glaubt der Kranke zu spüren, wie ihm fremde Gedanken und Gefühle von außen, also von anderen Personen eingeflößt werden. Die Gedanken fühlen sich nicht inhaltlich, sondern qualitativ verändert an; nämlich nicht dem Ich zugehörig. Man spricht auch von einer Störung der Meinhaftigkeit. Dabei ist zu unterscheiden, ob es sich tatsächlich um eine veränderte Wahrnehmung oder bloß um eine wahnhafte Überzeugung handelt.
Alkohol und Drogen verursachen nicht nur Veränderungen der mittelbaren, sondern auch der unmittelbaren Wahrnehmung. Seelische Phänomene werden im Rausch anders empfunden oder neu entdeckt. Halluzinogene Drogen gelten auch als psychedelisch. Das heißt: Sie decken Qualitäten auf, die ohne Drogenwirkung nicht wahrnehmbar sind.
Zu den seelisch bedingten Störungen der mittelbaren Wahrnehmung, also Störungen der Wahrnehmung und Zuordnung äußerer Sinnesreize zählen Fehlwahrnehmungen (z.B.: Illusionen oder Pareidolien), die posttraumatisch bei schweren seelischen Erschütterungen vorkommen oder bei extremen Spannungszuständen von Menschen mit ausgeprägten emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ.
Pareidolien gibt es auch bei psychisch Gesunden, zum Beispiel im Rahmen physiologischer Ängste in bedrohlich empfundenen Situationen (Betreten des Kellers). Die Ergänzung schwer deutbarer Sinnesreize zu Gestalten wird als Phänomen der Gestaltwahrnehmung erklärbar. Auch das Heraussehen von Figuren aus amorphen Tintenklecksen (Rorschach-Test) oder das Deuten der Zukunft aus dem Kaffeesatz ist strukturell mit der Pareidolie verwandt.
Der psychogene Schwindel, also das Gefühl, der Boden auf dem man geht, sei schwammig und unsicher, kann als seelisch bedingte Störung der Wahrnehmung gleichgewichtsregulierender Sinnesreize gedeutet werden. Als seelisch bedingt gelten auch die dissoziativen Störungen der mittelbaren Wahrnehmung.
Seelisch (mit)-bedingte Veränderungen der mittelbaren Wahrnehmung
Typ | Beschreibung |
Illusion Fehlwahrnehmung |
Illusionäre Verkennung tatsächlich gesehener Objekte, zum Beispiel Gesichter und Personen |
Pareidolie | Herauslesen oder Heraushören vermeintlich komplexer optischer oder akustischer Strukturen aus einfachen Sinneseindrücken (Stimmen aus Wasserrauschen, Gestalt aus Schatten im dämmerigen Wald) |
dissoziative Wahrnehmungsstörungen | dissoziative (veraltet hysterische) Blindheit, dissoziative Sensibilitätsstörungen, psychogene Schwerhörigkeit, psychogene Ageusie, psychogene Anosmie |
Gleichgewichtsstörung | Gefühl von Gangunsicherheit und Schwindel als sogenanntes Angstäquivalent (somatisierter Ausdruck eines Angsterlebens) |
Entfremdungserlebnis |
Derealisation = diffus veränderte Wahrnehmungsqualität der Realität an sich (entrückt, wie durch Schleier, befremdlich, unvertraut) Depersonalisation = gleiche Erfahrung des eigenen Körpers bzw. eigener seelischer Inhalte (Dann handelt es sich eigentlich um eine Störung der unmittelbaren Wahrnehmung.) |
Viele der genannten Wahrnehmungsphänomene treten gehäuft bei psychiatrischen Erkrankungen auf, die nachweislich oder vermutlich körperliche Ursachen haben:
Illusionäre Verkennungen sind ein häufiges Begleitsymptom bei demenziellen Entwicklungen (der Kranke verwechselt eine Fremde mit seiner Tochter)
Depersonalisationen treten gehäuft bei endogenen Psychosen wie der Schizophrenie auf. Dabei ist unklar, ob es sich dabei um eine Folge des endogenen, also letztlich somatischen Basisprozesses handelt oder um eine seelisch bedingte Abwehr gegen angsterregende Symptome der Psychose.
Seelisch bedingte Wahrnehmungsstörungen sind als neurotisch aufzufassen. Sie betreffen in der Regel unmittelbar Wahrnehmbares, vor allem Gefühle und Impulse. Man spricht auch von einer Alexithymie, also vom Unvermögen, die eigenen Gefühle auszulesen. Mehr oder weniger starke Störungen der Gefühlswahrnehmung sind sehr verbreitet. Sie reichen so tief in die Normalpsychologie hinein, dass der "normale Mensch" gelegentlich als Normopath bezeichnet wurde.
Zwei wichtige Ursachen für Störungen der Gefühlswahrnehmung sind hervorzuheben:
Um sich unliebsame Gefühle und Impulse vom Halse zu halten, setzt man psychische Werkzeuge ein: sogenannte Abwehrmechanismen. Verbreitete Mechanismen sind:
Verdrängung und Verleugnung
Wer verdrängt, lenkt die Aufmerksamkeit beim Auftreten unerwünschter seelischer Erscheinungen so auf andere Themen, dass er das Unerwünschte aus seinem Bewusstsein beseitigt. Oder es wird schlichtweg verleugnet, was nicht wahr sein soll.
Rationalisierung
Beim Rationalisieren werden Gefühle zwar wahrgenommen, ihre Wirkung wird aber entkräftet, indem sie beurteilt und ihnen vorschnell Kausalzusammenhänge und Vernunftgründe zugeordnet werden. Wer rationalisiert, bleibt zu seinen Gefühlen auf Distanz. Die Intensität der Wahrnehmung wird abgeschwächt, die Wirkung der Gefühle im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung ausgebremst.
Reaktionsbildung
Bei der Reaktionsbildung wird ein Verhalten ausgeführt, das dem eigentlichen Impuls diametral entgegengesetzt ist.
Spaltung
Spaltung kann als neurotisch motivierte Variante der selektiven Wahrnehmung aufgefasst werden. Dabei wird entweder nur die gute oder nur die böse Seite des eigenen Charakters wahrgenommen. Wer spaltet, ignoriert zum Beispiel, dass er anderen gegenüber missgünstig oder gleichgültig ist. Das abgespaltene Eigene wird oft auf Gegner projiziert.
Unter Umständen kann man auch die selektive Wahrnehmung als seelisch bedingte Wahrnehmungsstörung auffassen.
Die selektive Wahrnehmung filtert die Wirklichkeit je nach Bedürfnis gemäß bestimmter Suchregeln. Im Umkehrschluss heißt das: Sie blendet aus. Was nicht zum Bedürfnis passt, nimmt sie nicht wahr. Allerdings ist das in der Regel nicht krankhaft. Es gehört zum normalen Realitätsbezug.
Drängt ein ehrgeiziger Vater seine Tochter jedoch ständig zum Leistungssport, ohne zu erkennen, dass das Kind ihm mit zusammengebissenen Zähnen folgt, um seine Liebe zu gewinnen, könnte man durchaus von einer seelisch bedingten Wahrnehmungsstörung mit pathologischer Bedeutung sprechen.
Als Gegenteil der selektiven Wahrnehmung ist die Fokussierungsstörung zu erkennen. Dem Kranken gelingt es nicht, aus dem Spektrum des Wahrnehmbaren das herauszufiltern, was zu einem momentanen Vorhaben gehört. Stattdessen wird die Aufmerksamkeit ständig abgelenkt:
Dem Kranken gelingt es nicht, sich auf Relevantes zu konzentrieren. Das klassische Beispiel einer Fokussierungsstörung ist die ADHS. Auch bei der ADHS ist es vermutlich so, dass sich seelische und somatische Ursachen ergänzen.
Von den bisher benannten Wahrnehmungsphänomenen sind seelische Erlebnisweisen abzugrenzen, die entweder...
Bei der Wahnwahrnehmung werden äußere Objekte korrekt wahrgenommen, es wird ihnen aber eine Bedeutung zugesprochen, die ihnen objektiv kaum zukommen kann.
Am Südeingang der City-Arkaden kam mir ein Mann mit Hut entgegen. Da wusste ich, dass ich mich vor dem Betreten der Arkaden hüten sollte.
Tatsächlich ist die Wahnwahrnehmung keine Wahrnehmungsanomalie. Sie ist eine wahnhafte Interpretation korrekt wahrgenommener Objekte.
Beim vermeintlichen Wiederkennen von Personen oder Situationen [Déjà vu (französisch: bereits gesehen) bzw. Déjà vécu (bereits erlebt)] handelt es sich ebenfalls um keine Wahrnehmungsstörung. Das Faktische wird gestaltgetreu wahrgenommen, wie es ist. Durch eine Erinnerungsfälschung, hat der Betroffene aber das Gefühl, die entsprechende Person bereits zu kennen oder das aktuelle Erlebnis bereits erlebt zu haben.
Erinnerungsfälschungen können als bloße Irrtümer auf bloßer Ähnlichkeit beruhen. Als eindeutig pathologische Phänomene kommen sie bei Temporallappenepilepsie vor. Das deutet darauf hin, dass die Identifikation eines aktuellen Wahrnehmungsobjekts mit einem erinnerten ein eigenständiger neuropsychologischer Mechanismus ist.
Bei der leibhaftigen Bewusstheit handelt es sich um eine Präsenzhalluzination. Im Gegensatz zu den eigentlichen Halluzinationen fehlt aber ein erkennbares Wahrnehmungsobjekt.
Obwohl ich niemanden sehen kann, bin ich mir sicher, dass da jemand ist.
Eidetische Bilder abrufen zu können ist eine Sonderbegabung. Sie kommt gehäuft bei autistisch veranlagten Personen vor. Dabei können gelesene Texte oder vordem wahrgenommene Objekte so deutlich aus der Erinnerung vorgestellt werden, dass es dem Eidetiker möglich ist, Details des erinnerten Materials so korrekt wiederzugeben, dass der Nicht-Eidetiker vor Neid erblasst. So manchem eidetisch Begabten ist seine Erinnerungsfülle aber eine irritierende Last, sodass er die Begabung als Plage empfindet.
Unter einer Synästhesie (griechisch synaisthanomai [συναισ-θανομαι] = mitempfinden) versteht man ein Mitschwingen sinnlicher Erfahrungsfelder, die durch den tatsächlichen Sinnesreiz primär nicht angesprochen sind. So kann es zum Hören von Farben kommen oder umgekehrt: Töne werden zeitgleich zum Klang auch visuell-farblich wahrgenommen; in der Regel nicht als eine Überlagerung des optischen Wahrnehmungsfelds, sondern parallel dazu vor einem inneren Auge. Auch andere Synästhesien werden berichtet:
Während eine Minderheit synästhetische Wahrnehmungen als spontane Begabung erlebt, kommen sie bei der Mehrzahl bestenfalls unter dem Einfluss psychedelischer Drogen vor. Bestenfalls heißt aber nicht, dass es anzuraten wäre, aus Neugier bedenkenlos solche Drogen einzunehmen. Das könnte statt netter Effekte üble Folgen haben. Es ist davon auszugehen, dass eine spontane Begabung zur Synästhesie durch Übung fortentwickelt werden kann.
Viel war von Wahrnehmungsstörungen die Rede. Da könnte man meinen, der Wahrnehmung sei nicht zu trauen. Das Gegenteil ist der Fall; trotz ihrer Anfälligkeit für Irrtümer und Unvollständigkeit. Worauf sonst sollte man vertrauen, als auf die eigene Fähigkeit, als wahr Erkanntes auf- und anzunehmen?
Vorläufiges Wissen
Nachdem ich etwas wahrgenommen habe, nehme ich an, dass wahr ist, worauf mich das Angenommene verweist.Ich nehme an, dass... Das heißt: Ich vermute. Es heißt nicht: Ich habe Gewissheit.
Es könnte sein, dass der Baum halluziniert war. Es könnte sein, dass sich der Widerwille nicht gegen das vordergründige Objekt richtet, an dem er sich entzündet, sondern gegen die Lust, auf das Objekt zuzugreifen. Dann wäre er eine Reaktionsbildung gegen einen Impuls, den ich fürchte.
Die Erkenntnis des Wahren ist für zweierlei notwendig:
Stellen Sie sich vor, im Marzipanrezept wäre als Zutat Bauchfleisch angegeben. Pfui!
Kurzum: Das Wahre führt und heilt.
Nicht dass sich die Wirklichkeit, deren Wahrsein wir wahrnehmen könnten, vor uns verbirgt, die Wahrnehmung des Wahren wird vielmehr durch Faktoren eingeschränkt, die uns selbst anhaften:
unserer kindlichen Neigung, tatsächlich und vermeintlich Wahres auf Grundlage bloßen Hörensagens aufzunehmen.
Sie waren gewiss nicht so naiv, zu glauben, Zenon habe sich bei seinen Grübeleien über die Paradoxien des Denkens tatsächlich mit Marzipan befasst. Überall kann man aber auf Informationen stoßen, die weit weniger deutlich daran erinnern, dass Käpt'n Blaubär sie frei erfunden oder Absicht sie verfärbt hat.
Gesunde Skepsis
Nicht nur bei den kleinen Gaunern, die uns beim Zähneputzen treuherzig aus dem Badezimmerspiegel in die Augen schauen, ist in Sachen Vertrauenswürdigkeit gesunde Skepsis angebracht, sondern auch bei Medien. Von Medien wird so manches als Wahrheit angeboten, was nur eine Maske des tatsächlich Wahren ist oder völlig daran vorbeigeht.Wer sich das Wahre als Fertigware liefern lässt, statt sich darum zu bemühen, nimmt oft etwas zu sich, dem wahrer Nährwert fehlt.
Wahrnehmung ist trotz der Offensichtlichkeit des Wahrnehmbaren keine Wahrbekommung. Wer sich das Wahre nehmen will, kann nicht darauf vertrauen, dass das, was er umsonst bekommt, bereits das Wahre ist. Wer sich das Wahre nehmen will, muss sich darum bemühen. Das Wahre im Wahrnehmbaren ist eine Braut, die umworben werden will.
Zudem gilt: Der Zyklus vollständiger Wahrnehmung ist nicht abgeschlossen, indem man einen Sachverhalt kognitiv erkennt. Zur Wahrnehmung gehört auch, das als wahr Erkannte anzunehmen. Geschieht das nicht, beobachtet man das Wahrgenommene aus der Ferne. Die heilende und wohlmeinend führende Wirkung, die vom Wahren ausgeht, kann bei dem, der auf Distanz bleibt, nicht wirken.
Das als wahr Erkannte anzunehmen, erfordert eine Stellungnahme. Erst, wenn man sich dem Wahren zuwendet und sich seiner Wirkung überlässt, fließt seine Kraft ungehindert in die seelische Entwicklung ein.
Ein vollständiger Wahrnehmungszyklus besteht aus zwei Schritten:
Zuerst werden Sachverhalte mittelbar oder unmittelbar erkannt. Dabei gilt es, sie von Vermutungen und Urteilen zu unterscheiden.
Praktische Konsequenzen:
Verurteilen sie keines Ihrer Gefühle als böse, falsch oder schlecht. Wenden Sie sich auch unangenehmen Gefühlen unbefangen zu. Spüren Sie, wie diese Gefühle auf Sie einwirken. Handeln Sie dabei nicht.
Halten Sie sich beim Be- und Verurteilen äußerer Fakten zurück. Erspüren Sie zunächst, was Sie in Anbetracht der Fakten empfinden. Ermitteln Sie, ob ein Impuls zum Handeln entsteht.