Charakter


  1. Begriffsbestimmung
  2. Bestimmende Variablen des Charakters
  3. Grundmuster der Selbststeuerung
    1. 3.1. Egozentrische Muster
      1. 3.1.1. Vermeidende Variante
      2. 3.1.2. Strebsame Variante
    2. 3.2. Unparteiisches Muster
    3. 3.3. Mischungen und Reifungsprozesse
  4. Ausrichtung des persönlichen Interesses
    1. 4.1. Außenwendung
    2. 4.2. Normales Rollenspiel
    3. 4.3. Pflege des Selbstbilds
    4. 4.4. Intellektualität
    5. 4.5. Selbsterkenntnis
    6. 4.6. Überschreitung
  5. Charakter und Persönlichkeit
    1. 5.1. Persönlichkeitsstörung und Charakter
Der Mensch ist ein vielschichtiges Phänomen. Man muss nicht glauben, dass man die Vielfalt erfasst, bloß weil man ein paar Skizzen entwirft. Je näher man den Einzelnen kennenlernt, desto mehr erkennt man, dass er in keine Schublade passt. Zuletzt ist jeder immer nur er selbst.

Man kann das Unangenehme vermeiden, das Angenehme anstreben oder das Richtige tun. Die Wahl des Mischungsverhältnisses entscheidet über das ganze Leben.

1. Begriffsbestimmung

Charakter geht auf das griechische Verb charassein [χαρασσειν] = einritzen zurück. Eigentlich heißt Charakter Gravur. Gemeint ist damit ein wiedererkennbares Gefüge grundsätzlicher Eigenschaften und Merkmale der Persönlichkeit, das in der Regel über lange Zeiträume oder das ganze Leben hinweg gleich bleibt.

2. Bestimmende Variablen des Charakters

Der Charakter wird von vielen Faktoren beeinflusst. Zum Teil sind Charaktermerkmale angeboren, zu einem anderen Teil werden sie im Laufe des Lebens erworben. Erworben werden Charaktermerkmale entweder durch reaktive Anpassung an Umweltbedingungen oder durch willentliche Anstrengung.

Charaktermerkmale sind nicht voneinander unabhängig. Stets sind sie vielfältig ineinander verzahnt.

Typische Merkmale sind...

Aus dem Feld der genannten Variablen können zwei herausgehoben werden, die als grundsätzliche Weichensteller beschreibbar sind:

  1. das Grundmuster der Selbststeuerung
  2. die Ausrichtung des persönlichen Interesses (Introversion / Extraversion)

3. Grundmuster der Selbststeuerung

Die Verwechselung von richtig und angenehm ist eine wesentliche Ursache zukünftigen Leids.

Erlebnisse können angenehm oder unangenehm sein. Der Charakter eines Menschen hängt davon ab, welches Grundmuster er bei Entscheidungen wählt, die entweder das eine oder das andere nach sich ziehen. Dabei sind zwei egozentrische und ein holozentrisches Muster auszumachen. Als holozentrisch gilt ein Muster, wenn es den Vorteil der eigenen Person nicht zum vorrangigen Maßstab aller Entscheidungen macht.

Grundmuster

egozentrisch holozentrisch
vermeidend strebsam unparteiisch
Ich gehe dem Unangenehmen aus dem Weg. Ich versuche, Angenehmes zu erreichen. Ich mache das Richtige.

Mit richtig ist dabei das gemeint, was man nach redlicher Prüfung für richtig hält. Selbstverständlich kann das Richtige angenehm sein. Richtig und angenehm schließen einander nicht aus. Oft gehen sie Hand in Hand. Die Kategorien sind aber nicht deckungsgleich. Vielen fällt es schwer, im konkreten Fall zu unterscheiden.

Madrascurry
Wie kaum eine andere hat sich die indische Kultur mit dem Wesen des Menschen und seiner Stellung im Kosmos beschäftigt. Zur Fülle ihrer Erkennt­nisse gehört eine griffige Einteilung, deren Parallelen zu den Grundmustern der Selbst­steuerung augenscheinlich ist.

Die indische Philosophie unterscheidet drei Qualitäten: die Gunas (गुण)...

Tamas entspricht dabei dem egozentrisch-vermeidenden, rajas dem egozentrisch-strebsamen und sattva dem unparteiischen Muster.

3.1. Egozentrische Muster

Das Leben wird überwiegend von egozentrischen Mustern bestimmt. Dem kann man sich nur schwer entziehen. Die Herausbildung eines Ego ist entwicklungspsychologisch quasi unvermeidbar. Sie bleibt wohl nur bei schwerem Intelligenz­mangel aus. Die Entwicklung beginnt, sobald die kindliche Psyche zwischen sich und anderen unterscheidet. Aufgabe des Egos ist es, selektiv für das Wohl der eigenen Person zu sorgen.

Im ursprünglichen Zustand wird das Wohl der Person am Verhältnis angenehmer und unangenehmer Gefühle und Erlebnisweisen abgelesen. Daraus ergeben sich die beiden egozentrischen Grundmuster:

  1. Unangenehmes vermeiden
  2. Angenehmes erstreben

Das Verhältnis beider Erlebnisqualitäten zueinander ist ein einfaches Messinstrument. Wir haben es von unseren animalischen Vorfahren geerbt. Vom Pantoffeltierchen bis zum Menschenaffen hat es gute Dienste geleistet. Bei der Aufgabe, komplexe Entwicklungen zu steuern, versagt es jedoch.

Fallstrick der Strebsamkeit
In der Hoffnung, das Schicksal belohne jede Bereitschaft, etwas Unangenehmes zu ertragen, durch spätere Freuden und Vorteile, geht der Strebsame zuweilen in die Irre: Er nimmt Unangenehmes voreilig in Kauf... und ärgert sich dann, dass das Leben seine Rechenkunst nicht honoriert. Das Leben denkt Zukunft zwar mit, es hat aber kein Interesse daran, dass man die Gegenwart blindlings an sie verkauft.

Da Angenehmes und Unangenehmes in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis stehen, verwundert es nicht, dass fast jeder beide Muster miteinander kombiniert. Die Mehrzahl bevorzugt jedoch das eine oder das andere Muster, sodass sich zwei charakteristische Verhaltensvarianten ergeben.

Paidakia
Schon das griechische Altertum hat sich bemüht, Charak­tere zu unterscheiden. Im Glauben, sie würden durch Körpersäfte bestimmt, legte man sich auf vier Varianten fest:

Die Zuordnung der griechischen Charaktere zu den hier aufgezeigten Grundmustern gelingt nur teilweise:

3.1.1. Vermeidende Variante

Der vermeidende Mensch geht allem aus dem Weg, was sich mühsam, langweilig, beängstigend oder beunruhigend anfühlen könnte. Er...

Es liegt auf der Hand: Die vermeidende Strategie führt sozial ins Hintertreffen.

3.1.2. Strebsame Variante

Der strebsame Mensch bemüht sich um alles, was sich aufregend, bereichernd oder labend anfühlen könnte. Auf dem Weg zum Angenehmen nimmt er Unangenehmes in Kauf. Er...

Es liegt auf der Hand: Die strebsame Strategie führt sozial auf die Ränge weiter oben... oder zum Herzinfarkt.

3.2. Unparteiisches Muster

Die meisten Menschen stellen früher oder später fest, dass die Kraft egozentrischer Muster, das persönliche Wohl sicherzustellen, begrenzt ist.

Solche Enttäuschungen können zu dreierlei führen:

  1. zu einer Verstärkung des bisherigen Musters...

    • Klaus hat ziemlich oft krankgefeiert. Jetzt ist seine Stelle weg. Nun meint er erst recht, dass sich die ganze Mühe nicht lohnt. Er versäumt den Termin beim Arbeitsamt.

    • Andreas ist zunehmend erschöpft. Er träumt davon, mit 62 in Rente zu gehen. Damit er sich später den vorzeitigen Ausstieg leisten kann, klotzt er von jetzt ab so richtig ran.
  2. zu einem Wechsel ins gegenläufige Muster...

    • Davon überzeugt, dass das Leben sie zu beschenken hat, ging Raffaela dem Unbequemen zwanzig Jahre aus dem Weg. Seit sie nicht mehr glauben kann, dass die große Schenkung noch erfolgt, versucht sie mit aller Kraft, Versäumtes nachzuholen.

    • Kirsten hat damit gerechnet, dass die Firma ihren jahrelangen Einsatz bei der Stellenplanung honoriert. Jetzt hat Britta die Abteilungsleitung übernommen. Seitdem kommt Kirsten morgens kaum noch aus dem Bett.
  3. zur Bereitschaft, sich nicht nur am unmittelbaren Wohl der Person zu orientieren, sondern an dem, was man für richtig hält...

    • Ich bleibe mir treu. Was das Leben mir dafür geben wird, entscheidet es selbst. Das Angenehme nehme ich dankbar an, das Unangenehme weise.

Es liegt auf der Hand: Wer unparteiisch wird, befreit sich vom Zwang, ständig für das eigene Wohl zu sorgen. Statt Dienstbote seines Vorteils zu sein, qualifiziert er sich für Wesentliches.

Zuordnungen

Die Person Das Selbst
tamas rajas sattva
Sosein Wachsein

Die Person vermeidet oder begehrt. Sie will so sein und nicht anders. Das Selbst ist. Die Person will Reichtum, das Selbst Freiheit.


Im unparteiischen Muster, lässt der Mensch die Enge seiner Person hinter sich. Weil Enge unbehaglich ist, kann er annehmen, was über das persönlich Angenehme hinausgeht.
3.3. Mischungen und Reifungsprozesse

Kaum ein Mensch praktiziert nur einen Pol. Kaum jemand heißt ohne Abstrich Tamas, Rajas oder Sattva; wenn wir uns einmal erlauben, die charakte­ristischen Pole als drei Inder zu personifizieren. Wie zehn Millionen Farben Mischungen aus rot, gelb und blau sind, bestehen zehn Millionen Charaktere aus tamas, rajas und sattva. Je nach Lage der Dinge entscheidet man sich entweder dafür, etwas Unangenehmes zu vermeiden, es in Kauf zu nehmen, um etwas Angenehmes zu erreichen oder ungeachtet dessen das zu tun, was man für richtig hält.

Muster und persönliche Reife...

vermei­dend +
strebsam ++
unpar­teiisch +++

... oder wie groß die Chance ist, aus eigener Kraft glücklich zu werden.

Ob der eine charakteristische Pol wertvoller als der andere ist, sei dahingestellt. Eins ist aber ziemlich sicher:

Wenn man die Verwirklichung einer selbstbestimmten Persönlichkeit als Wert auffasst, können den Mustern unterschiedliche Reifegrade zugeordnet werden.

4. Ausrichtung des persönlichen Interesses

Der Charakter einer Person wird davon mitbestimmt, welche Ebene ihres möglichen Erfahrungsfeldes sie vorwiegend ins Auge fasst. Das Erfahrungsfeld lässt sich in mehr oder weniger tiefe Schichten aufteilen. Manche Personen richten ihr Interesse auf oberflächliche Regionen, andere beachten tiefere Schichten des Erlebens. Die einen kann man als introvertiert bezeichnen, die anderen als extravertiert.

Schichtenmodell der Wirklichkeitserfahrung

Pol Ebene The­men­kreis Bei­spiel
Ober­fläche

Tiefe

1 Ereig­nisse, denen das Ich nur mittel­bar begeg­net Das Welt­gesche­hen, von dem das Ich erfährt und über das es sprechen oder sich Gedanken machen kann Jennifer interes­siert sich für Neuig­keiten aus der Welt der Promis. Marko erzählt Werner, wie Lewan­dowski den Ball über Hölzen­beins Schul­ter hinweg ins Tor ge­schlenzt hat.
2 Ereig­nisse, an denen das Ich un­mittel­bar teil­hat Das, womit sich die Person beim Voll­zug ihrer Lebens­führung beschäf­tigt Martin kauft bei REWE Tief­kühl­pizza. Paula sammelt Back­rezepte. Seit Jahren erforscht Roland die Bio­chemie der Propyl­gallate.
3 Person
sozi­ale Rollen
Kontakt­fläche zwischen der Person und ihrem Umfeld Werner fragt Jennifer, ob sie mit ins Stadion kommt.
4 Begriffliche Ebene des relativen Selbst Gedan­ken, bildhafte Vorstel­lungen, Mei­nungen und Urteile, die im Bewusst­sein auf­tauchen und ver­gehen Beim Ein­kaufen denkt Martin darüber nach, was Mathilde wohl zur Pizza sagen wird. Roland denkt wie immer über die Gallate nach.
5 Impulshaft-affektive Ebene des relativen Selbst Gefühle und Impulse unterhalb der begriff­lichen Ebene Mathilde ist über­rascht, als Martin mit der Pizza heim­kommt. Das hat er noch nie gemacht.
6 Absolutes Selbst
Subjekt
Wahr­neh­mende Instanz, die durch die Schichten der Wirk­lichkeit bis zu deren Ober­fläche blickt Theresa betrachtet ihre Person als Aus­drucks­form der Wirk­lichkeit, der keine größere Bedeu­tung zukommt als anderen Aus­drucks­formen auch.

Die Auswirkungen der Wahl dessen, wofür man sich interessiert, sind für die charak­teristische Färbung des Verhaltens beträchtlich. Es macht Sinn, sechs prägende Ausrichtungen zu beschreiben.

  1. oberflächlich / extravertiert / außengewendet
  2. pragmatisch / rollenkonform
  3. narzisstisch
  4. intellektuell
  5. introspektiv / introvertiert
  6. mystisch / transzendierend / überschreitend

Intro und extra

In Analogie zu introspektiv könnte man auch von extraspektiv sprechen. Intro­spektiv heißt hineinblickend. Extraspektiv wäre dann mit Ausschau haltend passend übersetzt. Letztlich hält aber auch der introspektive Mensch Ausschau: nach dem, was in ihm vorgeht. Für den Verstand sind innen und außen nicht eindeutig zu trennen.

Begriffe
Wenn von oberflächlichen Ebenen des Erfahrungsfeldes die Rede ist, kann das missverstanden werden. Oberflächlich meint keine Abwertung derer, die sich für diese Erfahrungsebene interessieren.

Der Begriff beschreibt vielmehr die Struktur der entsprechenden Ebene. Auf ihr begegnen uns die zehntausend Dinge der äußeren Wirklichkeit, die man jeweils voneinander unterscheiden kann; und jedes Ding wird durch eine Fläche definiert, die es von anderen Dingen abgrenzt.

Bleibt eine Betrachtungsweise rein oberflächlich, konzentriert sie sich auf die Unterscheidbarkeit voneinander abgegrenzter Dinge, nicht auf deren gemeinsamen Nenner oder gar auf den Zusammenhang zwischen dem betrachteten Ding und dem Betrachter selbst. Sie dringt nicht durch die Oberflächen der Erscheinungs­welt in die Tiefe innerer Verbindungen vor.

4.1. Außenwendung

Menschen, die sich einseitig den oberflächlichen Strukturen der Wirklich­keit zuwenden, haben oft Angst vor sich selbst und ihrer Tiefe; oder sie wissen gar nicht, dass sie eine Tiefe haben. So wie das Elektron in einem Kabel von Atom zu Atom wandert, ohne je den Kern der Dinge zu berühren, springt ihr Interesse von einem Thema zum nächsten. Da die Welt der zehntausend Dinge aus einer endlosen Kette flüchtiger Ereignisse besteht, ist für Abwechslung gesorgt.

Bei einseitiger Außenwendung fehlen dem Bewusstsein innere Inhalte. Der fehlende innere Inhalt wird durch geborgte Inhalte von außen ersetzt.

Der auf die Oberfläche Ausgerichtete....

Nützliche Extraversion

Außenwendung kann ausgesprochen nützlich sein. Selbst wenn Roland seine innerseelische Dynamik völlig ignoriert, kann die Erforschung der Propylgallate zu Erkenntnissen führen, die der Menschheit dienen. Bei seiner Hinwendung zur Außenwelt redet Roland aber nicht nur über die Gallate. Er begegnet ihnen unmittelbar.

Erst wenn die Außenwendung der Abwehr von Ängsten und Selbst­wertzweifel dient und sich einseitig mit Dingen befasst, die nicht zum persönlichen Erleben gehören, führt sie zur Verarmung.

4.2. Normales Rollenspiel

Die häufigste Ausrichtung ist das pragmatische Rollenspiel. Auch sie ist weitgehend oberflächlich. Wir fokussieren unsere Person, die Rollen, die wir als solche spielen, deren unmittelbare Erlebnisse und die Gedanken, die uns dazu durch den Kopf gehen.

Psychologisch gesehen wendet sich der normale Rollenspieler ziemlich weit nach außen. Von der besorgten Mutter über den redlichen Kaufmann bis zum Erfinder der Dampfmaschine, verdanken wir dieser Ausrichtung die Hälfte des Fortschritts, der Ordnung, der Zivilisation und der Kultur.

Während wir uns bei oberflächlichster Ausrichtung mit dem befassen, was uns nicht unmittelbar betrifft, konzentriert sich der pragmatische Rollenspieler auf das, was ihm auf der Bühne des Lebens tatsächlich begegnet: seine beruflichen und familiären Aufgaben, seine persönlichen Interessen sowie die Verrichtungen des Alltags. So mag sein Blick zwar enger sein als der des Oberflächlichen, dafür reicht er aber tiefer in die eigene Existenz.

Der pragmatische Rollenspieler...

4.3. Pflege des Selbstbilds

Die Frage, was die Person zu ihrem Wohl zu besorgen hat, beschäftigt den pragmatischen Rollenspieler. Steht stattdessen die Frage im Vordergrund, welchen Rang man innehat, wie viel man gilt und was andere von einem denken, wird die Ausrichtung narzisstisch. Die Person fokussiert nicht ihre Angelegenheiten, sondern ihre Außenwirkung.

Der narzisstisch ausgerichtete Mensch...

Innen und Außen
Das Schichtenmodell nennt sechs Ebenen. Aus der Perspektive der Person liegen zwei davon außen und drei innen. Dazwischen liegt ein Zwitter: die Person selbst.

Aus der Sicht des absoluten Selbst fängt das Außerhalb bei den Impulsen der Person an und reicht von dort bis an den Außenrand des Universums. Da das absolute Selbst aber nicht dualistisch ist, ist die soeben getroffene Aussage im Grunde falsch. Dem absoluten Selbst ist alles innen und alles außen.

Wortwahl

Benutzt man das Begriffspaar innen-außen im Bezug zum absoluten Selbst, verweist es nicht auf eine topographische Unterteilung. Hilfreich ist es, zwischen wesentlich und unwesentlich zu unterscheiden. Wesentlich ist das Unentbehrliche, also das, ohne das das absolute Selbst nicht wäre. Unwesentlich ist, worauf es verzichten kann ohne in seinem Wesen geschmälert zu sein. Dazu gehört der physikalische Raum und sein Inhalt an flüchtigen Ereignissen. Raum und Inhalt sind Ausdruck, aber nicht Wesen.

4.4. Intellektualität

Gewiss: Jeder benützt das Denken. Aber nicht jeder weist der Frage, was man richtigerweise von den Dingen denken sollte, vorrangige Bedeutung zu. Allein: Man kann es tun. Dann ist man ein Intellektueller.

Der Intellektuelle...

4.5. Selbsterkenntnis

Unterhalb des begrifflichen Denkens liegt die Schicht des affektiv-impulshaften Erlebens. Es ist das Kerngebiet der (tiefenpsychologischen) Psychologie, ohne dessen Betrachtung Selbsterkenntnis blutleer bleibt. Durch Introspektion erhält der, der sich für sein tieferes Wesen interessiert, Einblick in das, woraus sein relatives Selbst besteht.

Der Introspektive...

4.6. Überschreitung

Wir können unsere Gefühle und Impulse wahrnehmen. Sie sind als virtuelle Objekte im Bewusstseinsraum betrachtbar. Jenseits des Betrachtbaren liegt der Betrachter selbst: das Subjekt bzw. das absolute Selbst. Um sich mit dem Betrachter zu verbinden, muss man alles überschreiten, was betrachtbar ist, also auch das relative Selbst, das zum Inventar des Individuums gehört. Wer über seine persönliche Individualität hinauswill, versucht, die Wirklichkeit mystisch zu betrachten.

Der Mystiker...

Typen der Wahrnehmungsausrichtung

Schicht Fokus
1 2 3 4 5 6
ex­tra­ver­tiert xxx xx xx x Was um ihn herum ge­schieht
rol­len­kon­form x xxx xx xx x Persön­liche Belange und Inter­essen
nar­zis­stisch xx xxx xx x Rang und Rolle der ei­genen Person
in­tel­lek­tuell x x xxx x Welt­bild, gedank­liche Vorstel­lungen
in­tro­spek­tiv x x xx xxx Eige­nes Er­leben, inner­see­lische Vor­gänge
mys­tisch x x x xx xxx Bezug zur abso­luten Wirk­lich­keit
  1. Ereig­nisse, denen das Ich nur mittel­bar begeg­net
  2. Ereig­nisse, an denen das Ich unmit­telbar teil­hat
  3. Eigene Person und deren soziale Rollen
  4. Begriff­liche Ebene des rela­tiven Selbst
  5. Impulshaft-affektive Ebene des relativen Selbst
  6. Absolutes Selbst, Subjekt

Menschen, deren charakterlicher Schwerpunkt im mystischen Pol verankert ist, sind eine Rarität.

5. Charakter und Persönlichkeit

Charakter und Persönlichkeit haben viel gemeinsam; aber sie sind nicht deckungsgleich. Der Begriff Person, geht auf das etruskische phersu = Maske zurück. Von daher wird es sprachgeschichtlich auch mit dem lateinischen personare = hindurchtönen in Verbin­dung gebracht. Die Römer dachten dabei an die Stimme des Schauspielers, die durch seine Bühnenmaske hindurchtönt.

Die Person ist dementsprechend der Repräsentant aller Rollen, die das Ich anderen Personen gegenüber spielt. Im Begriff der Persönlichkeit ist die Bezogenheit zu einer anderen Person also mitgedacht.

Nicht so beim Charakter. Robinson hatte auf seiner Insel keine Gelegenheit, als Person aufzutreten, aber er behielt auch dort seinen Charakter. Die Persönlichkeit ist folglich eine Teilmenge des Charakters.

5.1. Persönlichkeitsstörung und Charakter

Seelische Probleme erscheinen meist nicht in beliebiger Mischung. Sie treten in typischen Mustern auf. Viele solcher Muster werden als Persönlichkeitsstörungen klassifiziert. Ein näherer Blick zeigt die Bedeutung charakterlicher Varianten bei der Entstehung der entsprechenden Persönlichkeitsstörungen. Dabei fällt auf....

  1. dass einige Persönlichkeitsstörungen eng mit der egozentrisch-vermeidenden Variante verbunden sind:

  2. dass andere Störungen eher den egozentrisch-strebsamen Typus zum Ausdruck bringen:

  3. dass alle Persönlichkeitsstörungen mit der Neigung verknüpft sind, eher äußerliche Wahrnehmungsebenen zu fokussieren und der affektiv-impulshaften Ebene des relativen Selbst wenig Beachtung zu schenken.

Persönlichkeitsvariante und Blickrichtung

Variante Blickt auf...
abhängig den Anderen, an dem er sich orientiert.
ängstlich-vermeidend die Gefahren der Außenwelt.
depressiv das Wohl des Anderen, für das er sorgen will.
dissozial den Anderen als Beute.
emotional-instabil den Anderen als bedingungslos Verbündeten oder empörenden Feind.
histrionisch den Anderen als bestätigendes Publikum.
narzisstisch die eigene Person als glänzendes Objekt.
paranoid die Außenwelt als Quelle des Bösen.
schizoid die Außenwelt als das störende Fremde.
zwanghaft die Außenwelt als zu beherrschendes Chaos.

Alle Persönlichkeitsstörungen schwächen sich ab, wenn der Betroffene sein charakteristisches Grundmuster von tamas und rajas nach sattva verschiebt.