Der Geist ist mit sich im Reinen, wenn er sich wachsen sieht oder erlebt, dass er etwas bewirken kann.
Zu erleben, dass man durch eigenes Handeln Erstrebenswertes bewirkt, ist eine wichtige Quelle des Selbstwertgefühls. Zu erleben, dass man sozial nutzlos ist, schürt Unbehagen.
Das Bore-out-Syndrom (kurz: Boreout) ist gemäß englisch to bore = jemanden langweilen benannt. Die Wortschöpfung erfolgte analog zum Begriff Burnout. Der Begriff entstand zur Beschreibung gesundheitlicher Folgeschäden durch Unterforderung am Arbeitsplatz. Das Syndrom beschränkt sich jedoch nicht auf die Arbeitswelt. Es kann jeden treffen, der durch Umstände unterfordert wird und dem es schwerfällt, ohne soziale Aufgaben seinem Leben aus eigener Interessenfülle heraus Inhalte zu geben.
Das Bore-out-Syndrom zeigt sich als dysthymer (griechisch dys [δυς] = miss-, gestört und thymos [θυμος] = Gemüt, Lebenskraft) Zustand, der vorwiegend mentale Funktionen beeinträchtigt. Typische Symptome sind:
Bei ausgeprägter Symptomatik und entsprechender persönlicher Veranlagung können körpernahe Begleitsymptome im Zuge einer Somatisierung alle Organsysteme betreffen:
Im Begriff Boreout wird der unmittelbare Auslöser der Symptome genannt: Langeweile.>
Wer kennt so etwas nicht?
Ein verregnetes Wochenende, die Geschäfte zu, die Straßen wie ausgestorben, keine Pläne gemacht, nichts zu erledigen, niemand erreichbar, mit dem man sich verabreden könnte... und dann auch noch das: Windows meldet, dass keine Verbindung zum Netzwerk besteht.Wer es wirklich nicht kennt, kann sich acht Stunden tatenlos in einen Raum setzen... ohne zu daddeln, Musik zu hören oder fernzusehen. Dann weiß er, dass nicht nur Überforderung überfordern kann, sondern auch schieres Nichtstun.
Haftbedingungen
Wussten Sie, dass der Schrecken des Freiheitsentzugs allein auf dem Entzug der Freiheit beruhen kann, sich der Langeweile zu entziehen. Würde man dazu verurteilt, ein Jahr lang auf einer winzigen Insel zu bleiben, die mit einem breiten Angebot bestückt wäre, die zu verbüßende Zeit angenehm und sinnvoll zu nutzen, wen würde eine solche Buße noch schrecken? Nur wenige dürsten nach Freiheit, wenn die Gefangenschaft kurzweilig ist.
Brot und Spiele
Interessanterweise enthält der Begriff Amüsement das vulgärlateinische musus = Schnauze, Maul. Er verweist darauf, dass dem Amüsierten bei der Betrachtung des Spektakels vor Erstaunen der Mund offen steht. Der geöffnete Mund dient allerdings nicht dem Ruf nach Freiheit. Daher gab es im alten Rom neben Brot ausdrücklich Spiele; denn: Amüsierte Menschen begehren nicht auf. Fast jede Macht nutzt für ihre Zwecke die Mittel der Unterhaltungsindustrie.
Der Begriff Boreout wurde zur Benennung pathogener Folgen chronischer Unterforderung in der Arbeitswelt entworfen; und wird im täglichen Sprachgebrauch fast ausschließlich dafür verwendet. Dabei ist kaum zu übersehen, dass das Problem der Unterforderung gerade jenseits der Arbeitswelt Millionen betrifft: mehrheitlich jene, denen der Zugang zur Arbeitswelt verschlossen bleibt oder Ältere, deren Alltag durch gesellschaftliche Entwicklungen verarmt.
In der Arbeitswelt ist Unterforderung...
Einem unliebsamen Mitarbeiter qualifizierte Aufgaben zu entziehen und ihn per Zuweisung von Handlangerdiensten zu zermürben, kränkt über die Langeweile hinaus sein Selbstwertgefühl. So mancher wirft schließlich das Handtuch, was der Firma die Zahlung einer Abfindung erspart.
Millionen handlungswilliger Menschen sind von der Arbeitswelt ausgeschlossen. Nicht alle erleiden das als Unterforderung, die Mehrheit aber schon. Gewiss: Im Unterschied zum Unterforderten am Arbeitsplatz ist der Arbeitslose nicht an einen bestimmten Platz gebunden. Im Prinzip kann er auf der ganzen Welt nach Sinn und Inhalt suchen. Um das Tagaus-Tagein der Dauerfreizeit bei stabiler Stimmung zu durchleben, muss man jedoch entweder von innen heraus sehr kreativ sein oder mit den bescheidenen Inhalten zufrieden, die Medien als Ersatz für echtes Leben bieten.
Eine weitere Möglichkeit liegt im Einsatz großer Summen, um sich Erlebnisse zu verschaffen. Die Beispiele jener, denen Reichtum auf Dauer nichts nützt, um den Folgen des Verlusts äußerer Notwendigkeiten zu entfliehen, belegt jedoch, dass ein Enkelkind zu hüten seelischer Zufriedenheit mehr nutzen kann als eine erneute Kreuzfahrt durch die Karibik.
Maßnahmen
Sogenannte Maßnahmen der Arbeitslosenverwaltung haben verschiedene Wirkungen.
Für manche sind sie eine echte Hilfe, um den Weg in die Arbeitswelt zu finden oder ein Mindestmaß an Tagesstruktur aufrechtzuerhalten.
Egal was Maßnahmen dem Einzelnen auch bringen mögen, dem Staat bringen sie doppelten Gewinn:
Wer an der Maßnahme teilnimmt, wird nicht als arbeitslos gerechnet, obwohl er darin vielleicht nichts anderes übt, als sich um Arbeit zu bewerben. Die Subtraktion von 1,5 Millionen Teilnehmern an Maßnahmen lässt die Arbeitslosenstatistik gefälliger und die Leistungen der Politik respektabler erscheinen. Immerhin!
Zwei Entwicklungen führen dazu, dass Unterforderung und Langeweile das seelische Gleichgewicht vieler Menschen jenseits der Altersgrenze bedrohen:
Beides führt dazu, dass Menschen jenseits der Altersgrenze einen Verlust an Inhalt und Aufgabe erleben. Eine vielschichtige Familienstruktur bietet ein breites Angebot sozialer Interaktion und persönlich bedeutsamer Ereignisse. Als die Übermacht des Wirtschaftens noch Grenzen kannte, erlebten alte Leute Enkelkinder. Kinder hatten Geschwister, Cousins, Cousinen, Onkel und Tanten. In der Aufgabe, den eigenen Kindern bei der Aufzucht der Enkel Stütze zu sein, fand so manche Großmutter satten Lebenssinn. Heute ist ein Alter im Schoß einer vielschichtigen Familie nur wenigen vergönnt.
Eine wesentliche Ursache dieser Entwicklung liegt im Irrglauben, das Wohl eines Volkes sei deckungsgleich mit der Kaufkraft, die dem Einzelnen zur Verfügung gestellt wird. Das führt dazu, dass nicht die Wirtschaft den Bedürfnissen des Volkes, sondern das Volk den Bedürfnissen der Wirtschaft angepasst wird.
Es gibt zwar einen engen Zusammenhang zwischen dem Wohl der Menschen und dem der Wirtschaft, Glück ist aber nicht auf Produktivität und Konsum zu reduzieren. Daher steigern Turboabitur, Bologna-Prozess, Sonntagsarbeit, Contischichten, Rufbereitschaft, Überstunden, Just-in-time-Produktion, flexible Arbeitszeitkonten, Leiharbeit, unbezahlte Praktika, Qualitätssicherungs-Verordnungen, Dokumentations-Verpflichtungen, befristete Arbeitsverträge, die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten, Gigaliner-LKW und die Hebung der Effektivitätsreserven zwar das Bruttosozialprodukt, das Glück, dem all die Mühen dienen, entrückt dabei aber in die Ferne.
Es ist kein Zufall, dass die Begriffe Burnout und Boreout Kinder der gleichen Epoche sind. Obwohl es beide Phänomene auch früher gab, ist ihr Auftreten erst heute so verbreitet, dass die Sprache entsprechende Begriffe erfand. Zu einem großen Teil liegt das an der dominierenden Gesellschaftspolitik.
Lag die Macht früher in der Hand von 100-200 Adelsfamilien, liegt sie heute in der von ebenso vielen Konzernen. Diese globalisieren wirtschaftliche Prozesse, was weitreichende Folgen hat.
Den komplex Leistungsfähigen wird immer mehr Leistung abverlangt; nicht nur um den Erfolg der Wirtschaft zu steigern, sondern auch um den Lebensunterhalt jener zu erwirtschaften, die beim Tempo nicht mithalten. Den Leistungsfähigen bleibt oft nur die Wahl zwischen Burn-out und Drop-out.
Das Individuum ist nicht sein Körper. Wäre es so, könnte es wie eine Eidechse ruhen, sobald die körperlichen Bedürfnisse befriedigt sind. Vielmehr als Körper ist das Individuum seelischer Prozess. Als solcher ist es auf Ereignisse angewiesen, an denen es teilnimmt und auf eine Teilnahme, die es ihm ermöglicht, die beiden Vermögen seiner selbst zu verwirklichen:
Verhindern Lebensumstände, die beiden seelischen Vermögen anzuwenden, entsteht ein unangenehmes Gefühl: Langeweile. Sie ist der Impuls, nach Inhalt, Aufgabe und Erlebnis zu suchen. Wer ihm nicht folgen kann, hat ein Problem, an dem er seelisch erkrankt. Beim Bore-out-Syndrom spielt vor allem der Verlust des Eingreifen- und des Bewirkenkönnens eine Rolle.
Ein Beitrag zu einer stabilen gesellschaftlichen Entwicklung, die der seelischen Gesundheit aller gerecht zu werden versucht, liegt darin, weniger Qualifizierten nicht jede echte Aufgabe zu entziehen, die unter Ausnutzung transkontinentaler Lohngefälle anderswo billiger zu erfüllen ist.