Bore-out-Syndrom


  1. Begriffsbestimmung
  2. Symptome
  3. Auslöser
  4. Rahmenbedingungen
  5. Psychologischer Hintergrund

Der Geist ist mit sich im Reinen, wenn er sich wachsen sieht oder erlebt, dass er etwas bewirken kann.

1. Begriffsbestimmung

Das Bore-out-Syndrom (kurz: Boreout) ist gemäß englisch to bore = je­manden langweilen benannt. Die Wortschöpfung erfolgte analog zum Begriff Burnout. Der Begriff entstand zur Beschreibung gesundheitlicher Folgeschäden durch Unterforderung am Arbeitsplatz. Das Syndrom beschränkt sich jedoch nicht auf die Arbeitswelt. Es kann jeden treffen, der durch Umstände unterfordert wird und dem es schwerfällt, ohne soziale Aufgaben seinem Leben aus eigener Interessenfülle heraus Inhalte zu geben.

Diagnostische Einordnung
Will man als Arzt das Boreout-Syndrom diagnostisch verschlüsseln, sucht man in den gängigen Diagnose-Manualen (ICD-10 bzw. DSM-IV) vergeblich. Da die Symptomatik größtenteils dem Bild einer depressiven Störung entspricht, kann man von einer Anpassungs­störung mit vorwiegend depressiver Symptomatik (ICD-10: F43.2) sprechen.

2. Symptome

Das Bore-out-Syndrom zeigt sich als dysthymer (griechisch dys [δυς] = miss-, gestört und thymos [θυμος] = Gemüt, Lebenskraft) Zustand, der vorwiegend mentale Funktionen beeinträchtigt. Typische Symptome sind:

Bei ausgeprägter Symptomatik und entsprechender persönlicher Veranlagung können körpernahe Begleitsymptome im Zuge einer Somatisierung alle Organ­systeme betreffen:

3. Auslöser

Im Begriff Boreout wird der unmittelbare Auslöser der Symptome genannt: Langeweile.

Wer kennt so etwas nicht?

Ein verregnetes Wochenende, die Geschäfte zu, die Straßen wie ausgestorben, keine Pläne gemacht, nichts zu erledigen, niemand erreichbar, mit dem man sich verabreden könnte... und dann auch noch das: Windows meldet, dass keine Verbindung zum Netzwerk besteht.

Wer es wirklich nicht kennt, kann sich acht Stunden tatenlos in einen Raum setzen... ohne zu daddeln, Musik zu hören oder fernzusehen. Dann weiß er, dass nicht nur Überforderung überfordern kann, sondern auch schieres Nichtstun.

Haftbedingungen

Wussten Sie, dass der Schrecken des Freiheitsentzugs allein auf dem Entzug der Freiheit beruhen kann, sich der Langeweile zu entziehen. Würde man dazu verurteilt, ein Jahr lang auf einer winzigen Insel zu bleiben, die mit einem breiten Angebot bestückt wäre, die zu verbüßende Zeit angenehm und sinnvoll zu nutzen, wen würde eine solche Buße noch schrecken? Nur wenige dürsten nach Freiheit, wenn die Gefangenschaft kurzweilig ist.

Brot und Spiele

Interessanterweise enthält der Begriff Amüsement das vulgärlateinische musus = Schnauze, Maul. Er verweist darauf, dass dem Amüsierten bei der Betrachtung des Spektakels vor Erstaunen der Mund offen steht. Der geöffnete Mund dient allerdings nicht dem Ruf nach Freiheit. Daher gab es im alten Rom neben Brot ausdrück­lich Spiele; denn: Amüsierte Menschen begehren nicht auf. Fast jede Macht nutzt für ihre Zwecke die Mittel der Unterhaltungs­industrie.

4. Rahmenbedingungen

Der Begriff Boreout wurde zur Benennung pathogener Folgen chronischer Unter­forderung in der Arbeitswelt entworfen; und wird im täglichen Sprachgebrauch fast ausschließlich dafür verwendet. Dabei ist kaum zu übersehen, dass das Problem der Unterforderung gerade jenseits der Arbeitswelt Millionen betrifft: mehrheitlich jene, denen der Zugang zur Arbeitswelt verschlossen bleibt oder Ältere, deren Alltag durch gesellschaftliche Entwicklungen verarmt.

4.1. Arbeitsplatz

In der Arbeitswelt ist Unterforderung...

Einem unliebsamen Mitarbeiter qualifizierte Aufgaben zu entziehen und ihn per Zuweisung von Handlangerdiensten zu zermürben, kränkt über die Langeweile hinaus sein Selbstwertgefühl. So mancher wirft schließlich das Handtuch, was der Firma die Zahlung einer Abfindung erspart.

4.2. Arbeitslosigkeit

Millionen handlungswilliger Menschen sind von der Arbeitswelt ausge­schlossen. Nicht alle erleiden das als Unterforderung, die Mehrheit aber schon. Gewiss: Im Unterschied zum Unterforderten am Arbeitsplatz ist der Arbeitslose nicht an einen bestimmten Platz gebunden. Im Prinzip kann er auf der ganzen Welt nach Sinn und Inhalt suchen. Um das Tagaus-Tagein der Dauerfreizeit bei stabiler Stimmung zu durchleben, muss man jedoch entweder von innen heraus sehr kreativ sein oder mit den bescheidenen Inhalten zufrieden, die Medien als Ersatz für echtes Leben bieten.

Eine weitere Möglichkeit liegt im Einsatz großer Summen, um sich Erlebnisse zu verschaffen. Die Beispiele jener, denen Reichtum auf Dauer nichts nützt, um den Folgen des Verlusts äußerer Notwendigkeiten zu entfliehen, belegt jedoch, dass ein Enkelkind zu hüten seelischer Zufriedenheit mehr nutzen kann als eine erneute Kreuzfahrt durch die Karibik.

Maßnahmen

Sogenannte Maßnahmen der Arbeitslosenverwaltung haben verschiedene Wirkungen.

  1. Für manche sind sie eine echte Hilfe, um den Weg in die Arbeitswelt zu finden oder ein Mindestmaß an Tagesstruktur aufrechtzuerhalten.

  2. Für andere sind sie eine Zumutung, weil die Inhalte der Maßnahme ihrerseits unterfordernd und sinnlos sind und sie die Zeit aus eigener Kraft besser nutzen könnten.

Egal was Maßnahmen dem Einzelnen auch bringen mögen, dem Staat bringen sie doppelten Gewinn:

  1. Wer an der Maßnahme teilnimmt, wird nicht als arbeitslos gerechnet, obwohl er darin vielleicht nichts anderes übt, als sich um Arbeit zu bewerben. Die Subtraktion von 1,5 Millionen Teilnehmern an Maßnahmen lässt die Arbeitslosenstatistik gefälliger und die Leistungen der Politik respektabler erscheinen. Immerhin!

  2. Wer die Maßnahme als unterfordernde Zeitverschwendung erlebt, wird motiviert, intensiver nach echter Arbeit zu suchen, um nicht zur Maßnahme verdonnert zu werden.
4.3. Aufgabenverlust im Alter

Zwei Entwicklungen führen dazu, dass Unterforderung und Langeweile das seelische Gleichgewicht vieler Menschen jenseits der Altersgrenze bedrohen:

  1. Die demografische Entwicklung macht Kleinfamilien zur Regel.
  2. Die wirtschaftliche Entwicklung reißt Familien auseinander und vereinnahmt berufstätige Menschen so umfassend, dass eine Familiengründung als untragbare Zusatzbelastung zurückgestellt wird.

Beides führt dazu, dass Menschen jenseits der Altersgrenze einen Verlust an Inhalt und Aufgabe erleben. Eine vielschichtige Familienstruktur bietet ein breites Angebot sozialer Interaktion und persönlich bedeutsamer Ereignisse. Als die Übermacht des Wirtschaf­tens noch Grenzen kannte, erlebten alte Leute Enkelkinder. Kinder hatten Geschwister, Cousins, Cousinen, Onkel und Tanten. In der Aufgabe, den eigenen Kindern bei der Aufzucht der Enkel Stütze zu sein, fand so manche Großmutter satten Lebenssinn. Heute ist ein Alter im Schoß einer vielschichtigen Familie nur wenigen vergönnt.

Eine wesentliche Ursache dieser Entwicklung liegt im Irrglauben, das Wohl eines Volkes sei deckungsgleich mit der Kaufkraft, die dem Einzelnen zur Verfügung gestellt wird. Das führt dazu, dass nicht die Wirtschaft den Bedürfnissen des Volkes, sondern das Volk den Bedürfnissen der Wirtschaft angepasst wird.

Es gibt zwar einen engen Zusammenhang zwischen dem Wohl der Menschen und dem der Wirtschaft, Glück ist aber nicht auf Produktivität und Konsum zu reduzieren. Daher steigern Turboabitur, Bologna-Prozess, Sonntagsarbeit, Contischichten, Rufbereitschaft, Überstunden, Just-in-time-Produktion, flexible Arbeitszeitkonten, Leiharbeit, unbezahlte Praktika, Qualitätssicherungs-Verordnungen, Dokumentations-Verpflichtungen, befristete Arbeitsverträge, die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten, Gigaliner-LKW und die Hebung der Effektivitätsreserven zwar das Bruttosozialprodukt, das Glück, dem all die Mühen dienen, entrückt dabei aber in die Ferne.

4.4. Gesellschaftliche Entwicklungen

Es ist kein Zufall, dass die Begriffe Burnout und Boreout Kinder der gleichen Epoche sind. Obwohl es beide Phänomene auch früher gab, ist ihr Auftreten erst heute so verbreitet, dass die Sprache entsprechende Begriffe erfand. Zu einem großen Teil liegt das an der dominierenden Gesellschaftspolitik.

Lag die Macht früher in der Hand von 100-200 Adelsfamilien, liegt sie heute in der von ebenso vielen Konzernen. Diese globalisieren wirtschaftliche Prozesse, was weitreichende Folgen hat.

Progression
Die Globalisierung ist sinnvoll und unaufhaltsam. Sie droht aber immer mehr Menschen ins Abseits zu drängen. Wäre der Einfluss der Wirtschaft auf die Entwicklung geringer, könnte die Umsatzsteuer nach Höhe des Umsatzes gestaffelt werden; genauso wie die Einkommenssteuer mit der Höhe des Einkommens progressiv steigt. Dann hätte auch der Buchladen an der Ecke eine Chance und es wäre Platz für einen Mittelstand, der Luft bekommt. Offensichtlich ist die Macht der Wirtschaft jedoch so groß, dass in der Politik sogar der Wille fehlt, grenzüberschreitend erzielte Gewinne zu besteuern.

5. Psychologischer Hintergrund

Das Individuum ist nicht sein Körper. Wäre es so, könnte es wie eine Eidechse ruhen, sobald die körperlichen Bedürfnisse befriedigt sind. Vielmehr als Körper ist das Indivi­duum seelischer Prozess. Als solcher ist es auf Ereignisse angewiesen, an denen es teil­nimmt und auf eine Teilnahme, die es ihm ermöglicht, die beiden Vermögen seiner selbst zu verwirklichen:

  1. das Vermögen, wahrzunehmen
  2. das Vermögen, einzugreifen

Verhindern Lebensumstände, die beiden seelischen Vermögen anzuwenden, entsteht ein unangenehmes Gefühl: Langeweile. Sie ist der Impuls, nach Inhalt, Aufgabe und Erlebnis zu suchen. Wer ihm nicht folgen kann, hat ein Problem, an dem er seelisch erkrankt. Beim Bore-out-Syndrom spielt vor allem der Verlust des Eingreifen- und des Bewirkenkönnens eine Rolle.

Ein Beitrag zu einer stabilen gesellschaftlichen Entwicklung, die der seelischen Gesundheit aller gerecht zu werden versucht, liegt darin, weniger Qualifizierten nicht jede echte Aufgabe zu entziehen, die unter Ausnutzung transkontinentaler Lohngefälle anderswo billiger zu erfüllen ist.