Jedes Dasein wird auch erlitten, weil jedes Dasein begrenzt ist, das Wesen des Seins aber darin liegt, unbegrenzt sein zu können.
Trauer ist mit dem gotischen Verb driusan = fallen und dem altenglischen Verb drusian = sinken, kraftlos werden verwandt. Der Begriff leitet sich vermutlich von den typischen Gebärden und Haltungen eines Trauernden ab. Der Trauernde lässt den Kopf sinken, schlägt die Augen nieder und fällt vor der Übermacht des Schicksals kapitulierend zu Boden.
Vieles spricht dafür, dass die Begriffe triefen, Träne, Tropfen und Traufe nicht nur thematisch mit der Trauer verwandt sind, sondern auch sprachgeschichtlich in der indoeuropäischen Wurzel drakru einen gemeinsamen Vorfahren mit ihr haben. In der Fallbewegung der Träne, die sich der Schwerkraft überlässt und im Boden versickert, spiegelt sich das seelische Phänomen der Trauer wider. Der Tropfen verliert seinen Halt und findet gerade deshalb zurück.
Wir setzen der Wirklichkeit Ansprüche, Erwartungen und Hoffnungen entgegen. Wir bemühen uns, die Dinge so zu beeinflussen, dass unsere Erwartungen in Erfüllung gehen. Wir glauben, dass etwas uns gehört. Da unser Verstand aber ebenso begrenzt ist wie unser Einfluss auf den Lauf der Dinge, werden unsere Hoffnungen oft enttäuscht.
Im Kampf ums Dasein ist es durchaus sinnvoll, dass man sich auf einmal gefasste Positionen versteift und zuweilen das, was man besitzt, um keinen Preis wieder hergeben will. Eigensinn und Willensstärke führen oft zum Erfolg. Das Ego sagt: Ich will! ... und überwindet gerade wegen seines blinden Wollens so manches Hindernis.
Da unser Verstand aber begrenzt ist, entsprechen die Positionen, auf die wir uns versteifen, nur selten der Weisheit letztem Spruch. Wenn der Fluss des Lebens weiterfließt, muss deshalb der Turm, den unser Eigensinn errichtet hat, in den Fluten untergehen.
Beim Fall kleiner Türme zucken wir getrost mit den Schultern. Beim Fall der großen trifft uns Trauer. In der Trauer lässt das Ego seine Waffen sinken. Man akzeptiert, dass die Wirklichkeit anders entschieden hat, als man selbst es für richtig hielt. In der tiefsten Trauer gibt man sich auf. Dadurch erfährt das Selbstbild eine Korrektur. Tränen waschen den Blick auf Tatsachen frei. Man sagt: So sei es. Versteift man sich auf das alte Selbstbild und verweigert Trauer, bleibt man nach einem Verlust in der Wut darüber gefangen, dass man von der Welt überwältigt wird. Man verweigert sich dem Leben und verschanzt sich in Bitterkeit.
Der Kern der Trauerarbeit besteht in einer Korrektur des Selbstbilds. Vor dem Verlust ist das Selbstbild eng mit dem verwoben, was verlorengeht. Man klammert sich an Bildern fest, mit denen man sich gleichsetzt.
Je mehr das Selbstwertgefühl von der Beziehung zu einer Person oder einem Besitzstand abhängt, desto mehr wird man durch den Verlust erschüttert. Wenn die Liebe der schönen Hannah oder das Geld, das man besaß, alles war, was das Gefühl verlieh, etwas wert zu sein, kann Trauerarbeit sehr mühsam werden.
Wird Trauer bis zu ihrem Ende durchlitten, entsteht ein neues Selbstbild. Dabei wird das Selbstwertgefühl tiefer im tatsächlichen Selbst verankert. Es kommt zu einer Phase posttraumatischen Wachstums, das als Befreiung, Glück und neue Zuversicht erlebt wird.
Bei der Trauer handelt es sich um eine seelische Belastungsreaktion. Die Internationale Klassifikation der Krankheiten hat sich entschieden, sie den Anpassungsstörungen (ICD-10: F43.2) zuzuordnen. Obwohl Trauer keine Krankheit ist, ist es berechtigt, sie als Anpassungsstörung zu bezeichnen; denn in der Tat: Solange die Trauerreaktion abläuft, ist die Anpassung zwischen Individuum und äußerer Wirklichkeit gestört.
Typische Phasen
nicht wahrhaben wollenWenn Trauer mit den Notwendigkeiten gesunder seelischer Verarbeitungsprozesse übereinstimmt, bezieht sich der Begriff Störung jedoch nicht auf das Verhältnis zwischen dem Individuum und sich selbst.
Der Verlauf von Trauerreaktionen auf schwere Verluste ist in hohem Grade uneinheitlich.
Trauer gehört zu den Gefühlen, die man lieber gar nicht hätte. Sie ist unangenehm, weil sie uns an unsere Hinfälligkeit erinnert. Lieber wären wir ständig froh. Lieber könnten wir glauben, das Leben sei eine Quelle unerschöpflicher Triumphe für Siegernaturen wie wir welche sein wollen. Trauer dagegen signalisiert einen Verlust. Sie zu durchleben ist harte Arbeit, bei der das Ego der Wirklichkeit ins Auge schaut. Deshalb neigen wir dazu, der Trauer aus dem Weg zu gehen. Wir überspielen sie, wir verleugnen sie, wir stürzen uns in Aktivitäten oder wir erklären sie zu einem krankhaften Störfall, den man am besten durch Medikamente beendet.
Eine moderne Strategie, sich der Trauerarbeit zu entziehen, besteht darin, Trauer als Krankheit zu bezeichnen. Heute neigt man dazu, die schmerzhafte Seite des Daseins als pathologisch abzutun. Wir bilden uns ein, dass seelische Gesundheit und nie getrübtes Glück das Gleiche sind. Wo man früher traurig, niedergeschlagen, schwermütig oder unglücklich war, ist man heute depressiv.
Pauschal kann man sagen:
Bei der Trauer ist der Sinnzusammenhang zwischen Gefühl und Erlebnis bewusst.
Dieses Pathologisieren der Trauer ist eine Spielart der Rationalisierung. Wird Trauer durch einen Verlust herbeigeführt, dessen Bedeutung leicht einzusehen ist, zum Beispiel einen Todesfall oder eine Trennung, ist die Gefahr einer Pathologisierung zunächst gering.
Trauer wird aber nicht nur durch wuchtige Verlusterlebnisse ausgelöst. Sie kann sich auch langsam entwickeln; etwa wenn sich eine verborgene Hoffnung im Laufe der Zeit als irrig erweist oder wenn man im Leben mehr und mehr hinter gesteckten Zielen zurückbleibt. In einem solchen Fall befällt die Schwermut ihr Opfer schleichend oder sie bricht sich plötzlich die Bahn sobald ein Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt.
Oft erkennt der Schwermütige den Grund seiner Trauer dann nicht. So ein winziger Tropfen kann doch nicht Ursache für so viel Schwermut sein!
Tanja kann überhaupt nicht verstehen, warum sie neuerdings bei jeder Kleinigkeit losheult.
Haben sich Gründe zur Trauer aufsummiert, ohne die Deiche zu durchbrechen, kann ein Quäntchen mehr Anlass zum Umschwung sein. In solchen Fällen wird schnell von einer Depression gesprochen, weil man die getrübte Stimmungslage für unangemessen hält.
Wie geht's? Millionenfach wird diese Frage jeden Tag gestellt. Gut! So heißt die Antwort ebenfalls millionenfach. Oft mag sie stimmen. Oft stimmt sie nicht. Wie schon gesagt: Trauer signalisiert Verlust. Verlust kommt von verlieren. Wer steht gerne als Verlierer da? Was liegt also näher, als Traurigkeit vor anderen zu verleugnen.
Chiara hat Tom verlassen. Das ist nicht nur ein Verlust für ihn, sondern auch eine Kränkung für seinen Stolz. Statt Trauer zu empfinden, macht Tom sich vor, Chiara habe ihm sowieso nicht mehr bedeutet, als der Spaß, den er mit ihr im Bett erleben konnte.
Das Problem ist nur: Wer Traurigkeit beharrlich vor den Augen anderer versteckt, verliert sie leicht selbst aus dem Blick. Dann schlummert sie als Gewicht in der Tiefe. Sie wird nicht bis zu ihrer Auflösung durchlebt. Stattdessen verbraucht die Psyche Energie um die Verdrängung beizubehalten.
Zu den Abwehrstrategien gegen Trauer zählt auch Hyperaktivität. Gewiss: Es gehört zur Gesundung, die Lähmung nach einem schweren Verlust durch Zielsetzung und Tatendrang zu überwinden. Im Einzelfall ist aber zu fragen, wie viel Zusammenbruch durchlebt werden muss, bis der Neubeginn keine Flucht mehr ist.
Lange genug zu trauern fällt heutzutage schwer, weil der Zeitgeist Trauer als unproduktiv ansieht und ihr daher kaum Spielraum zugesteht. Hat man einen Angehörigen verloren, und will man nach der Beerdigung nicht gleich weitermachen, wie bisher, bleibt nur der Gang zu einem Arzt, der die Trauer zur Krankheit erklärt und einen gelben Schein ausstellt; es sei denn der Todesfall findet statt, solange man noch tariflichen Urlaubsanspruch hat. Was das Gesetz als Sonderurlaub für schwerste Verluste einplant, geht an seelischen Notwendigkeiten vorbei.
Im Umgang mit Trauer wird nicht nur der Fehler gemacht, sie zu verdrängen. Trauer wird auch missbraucht, um sich vor Ängsten zu schützen. Wer die Gefahren des Lebens mehr fürchtet als eine unterschwellige Traurigkeit, kann sich mit Hilfe schwach dosierter Trauer jene Angst vom Halse halten, die bei einer mutigen Vertretung eigener Interessen zu durchleben wäre.
Solche Phänomene kann man bei Menschen mit depressiven oder ängstlich-vermeidenden Verhaltensmustern erkennen. Die ständige Traurigkeit, die einem Lebensstil folgt, der im Leben niemals richtig zugreift, legt genau jene expansiven Impulse lahm, die zum Zugriff drängen. Hier düngen sich Trauer und Angst gegenseitig das Feld.
Synonyme
pathologische Trauer
persistierende komplexe Trauerreaktion
Als pathologische Form der Trauer wird auch die Anhaltende Trauerstörung aufgefasst. Nicht jeder Trauerprozess durchläuft die Etappen, die oben erwähnt sind. Nicht jeder Trauernde schafft es bis zur Akzeptanz des Verlusts und bis zum Gewinn neuer Freiheit.
Obwohl es keine verbindliche Regel gibt, wie lange ein Trauerprozess anzuhalten hat, um nicht als Sackgasse zu gelten, in der der Trauernde stecken geblieben ist, entsteht ab einer gewissen Dauer der Verdacht, dass der Prozess pathologisch ins Stocken geraten ist. Symptome des Stillstands können sein:
Ob ein Trauerprozess ausheilt oder chronifiziert hängt von verschiedenen Faktoren ab (Znoj, 2017):
Der erfolgreiche Abschluss eines Trauerprozesses entspricht der Akzeptanz des Verlusts. Der Verlust kann akzeptiert werden, sobald der Trauernde erkennt, dass er ohne das Verlorene ein erfülltes Leben führen kann.