Je mehr man sich mit Gefühlen identifiziert ohne zu verstehen, dass sie Erscheinungen sind, man selbst aber bleibt, desto mehr ist man ihren Schwankungen ausgeliefert.
Zugehörige Begriffe
Die Bipolare (lateinisch bis = zwei) Störung zeichnet sich durch Stimmungsschwankungen zwischen dem depressiven und dem maniformen Pol aus. Da die Schwankungen das Gefühl betreffen, wird auch von Bipolarer affektiver Störung gesprochen. Affekt ist von lateinisch afficere = hinzutun abgeleitet. Der Begriff verweist darauf, dass die pathologische Qualität der Stimmung als etwas Gemachtes (facere = machen) erscheint, das dazukommt ohne dazuzugehören.
Auch die Stimmung Gesunder schwankt. Daher hängt die Abgrenzung zwischen gesund und krank von den individuellen Bewertungen sowohl des Untersuchers als auch des Betroffenen ab. Schwankungen, die der eine als Ausdruck lebendiger Reaktivität empfindet, bezeichnet ein Anderer als krank.
Bewertungen
Treten im Rahmen der Bipolaren Störung psychotische Symptome auf, wird auch von Bipolarer Psychose gesprochen.
Bipolare affektive Störungen werden in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) nach drei Kriterien aufgeteilt:
Bipolare Störungen gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO
Bipolare Störung... | ICD | Merkmale |
Maniform | ||
Hypomanische Episode | F31.0 | Gehobene oder gereizte Stimmung, Verhalten kontrolliert, sozial angepasst |
Manische Episode ohne psychotische Symptome | F31.1 | Verhalten ungesteuert, sozial nicht mehr angepasst |
Manische Episode mit psychotischen Symptomen | F31.2 | Flüchtige wahnhafte Verkennungen, z.B. Größenwahn |
Depressiv | ||
Depressive Episode (leicht-mittelschwer) | F31.3 | Vollzug alltagspraktischer Besorgungen erschwert, aber möglich |
Depressive Episode (schwer / ohne psychotische Symptome) | F31.4 | Vollzug alltagspraktischer Besorgungen nicht mehr möglich |
Depressive Episode (schwer / mit psychotischen Symptomen) | F31.5 | Zusätzlich Wahn oder Halluzinationen |
Gemischt | ||
Gemischte Episode | F31.6 | Gleichzeitig maniforme (z.B. Antriebssteigerung) und depressive Symptome (z.B. Stimmungstief) oder rascher Wechsel zwischen beiden Polen |
Symptomfrei | ||
Bipolare Störung, remittiert | F31.7 | Symptomfreier Zustand bei bekannter Bipolarer Störung |
Den gemischten Episoden kann auch die agitierte Depression zugeordnet werden. Die agitierte Depression zeichnet sich durch innere Unruhe und Getriebenheit aus. Sie ist von der gehemmten Depression zu unterscheiden. Bei der gehemmten Depression ist der Antrieb vermindert.
Seelische Erlebnisweisen sind individuell. Deshalb sind sich Psychiater oft uneins, welcher diagnostischen Kategorie ein Zustandsbild zugeordnet werden sollte. Das betrifft auch die Bipolare Störung. Sie wird sowohl gegenüber anderen Diagnosen abgegrenzt als auch intern unterschieden.
Heute werden Bipolare Störungen in zwei Typen unterteilt:
Der Unterschied liegt in der Ausprägung maniformer Symptome. Kommen echte Manien vor, spricht man von Bipolar I. Finden sich lediglich hypomane Zustände, spricht man von Bipolar II.
Hypoman enthält das griechische hypo [υπο] = unterhalb. Hypomanien sind Stimmungsvarianten, die echten Manien qualitativ ähneln, aber weniger ausgeprägt sind; und meistens keine schädlichen Folgen haben. Ihr Intensitätsniveau liegt unterhalb des Grades echter Manien.
Die Häufigkeit der Bipolar-I-Störung wird mit circa 1% angegeben. Für die Bipolar-II-Störung werden teils deutlich höhere Zahlen genannt.
Hypomane Nachschwankung oder eigenes Krankheitsbild
Die Unterteilung in Bipolar I und II ist eine neue Entwicklung. Hypomane Phasen wurden bis dahin nur wenig beachtet oder man ging man vom Konzept der hypomanen Nachschwankung aus. Nach schweren Depressionen erleben viele Patienten kurze hypomane Phasen. Diese Phasen kann man entweder als psychologisch nachvollziehbare Reaktion auffassen - im Sinne einer euphorischen Aufbruchsstimmung nach überwundenem Leid - oder man deutet sie als bloße Stoffwechselanomalie und damit als Symptom eines sinnlosen Krankseins.
Da es keine Messmethoden gibt, um zwischen gut gelaunt, euphorisch und maniform exakt zu unterscheiden, ist verstehbar, warum über die Häufigkeit besonders der Bipolar-II-Störung keine Einigkeit besteht.
Im Grundsatz können alle seelischen Störungen mit lebhafter affektiver Komponente Ausdruck einer Bipolaren Störung sein... oder mit ihr verwechselt werden. Deshalb ist im konkreten Fall oft schwer zu entscheiden, welcher Kategorie man die Symptome zuordnet. Manchmal ist die Abgrenzung gegenüber folgenden Krankheitsbildern besonders schwierig:
Depressionen sind häufiger als maniforme Zustände. Meist beginnt eine Bipolare Störung mit einer oder mehreren depressiven Phasen. Erst wenn im weiteren Verlauf auch ein maniformer Zustand auftritt, erkennt man die Bipolarität der Erkrankung.
Selten kommt es zuerst zur akuten Manie. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass später auch Depressionen auftreten. Tritt eine Manie als Erstsymptom auf, geht man heute von einer Bipolaren Störung aus.
Die Zyklothymie (ICD-10: F34.0) wird als Persönlichkeitsvariante (Zyklothyme bzw. Zykloide Persönlichkeit) aufgefasst, die von Stimmungsschwankungen geprägt ist, welche zwar über das Normalmaß hinausgehen, aber nicht das Ausmaß einer Bipolaren Störung erreichen.
Angst und Depression gehen oft Hand in Hand. Oder es kommen Zeiten vor, in denen ein Patient eher unter Ängstlichkeit leidet und solche, in denen er sich schwermütig erlebt.
Auch die Borderline-Störung ist durch emotionale Instabilität gekennzeichnet. Die beiden Pole, die sich bei der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung zeigen, kommen jedoch deutlicher in den kognitiven Mustern zum Ausdruck, mit denen der Kranke sich und die Welt deutet. Als Auslöser der Gefühlsschwankungen sind dabei regelhaft Spaltungsmechanismen zu erkennen; also Abwehrmechanismen, mit denen der Patient sein Selbst- und Weltbild in ein Schwarz-Weiß-Raster unterteilt.
Bei der Schizoaffektiven Störung mischen sich unter die affektiven auch schizophreniforme Symptome. Man spricht dann von schizodepressiv oder schizomanisch.
Zu den Ursachen der Bipolaren Störungen zählen die gleichen, die für Depressionen und Manien zu nennen sind.
Welche Ursachen als wesentlich anzunehmen sind, ist in der Psychiatrie umstritten. Dabei sind die Sichtweisen der beiden großen psychiatrischen Lager zu unterscheiden.
Die biologische Psychiatrie geht von einem materialistischen Weltbild aus. Sie deutet psychische Prozesse als Folge stofflicher und organischer Veränderungen. Die Leitidee der biologischen Psychiatrie beruht auf dem Konzept der Transmitterstörung. Sie erklärt Depressionen, Manien und Bipolare Erkrankungen als Störungen des Stoffwechsels, die die Psyche schicksalhaft von außen treffen. Einen bedeutsamen Zusammenhang mit der Persönlichkeit sieht die biologische Psychiatrie nur insoweit, als dass der Kranke lernen muss, mit seinem Kranksein umzugehen. Einem ursächlichen Zusammenhang zwischen Krankheit und Individualität weist sie keine oder nur eine nachrangige Bedeutung zu.
Auslöser
Das Fehlen eines erkennbaren Auslösers für depressive oder maniforme Phasen wird meist als Hinweis darauf gedeutet, dass es sich um ein reines Stoffwechselgeschehen handelt und psychologische Faktoren zu vernachlässigen sind. Oft ist das zu kurz gedacht. Fühlt man sich in die Individualität des Patienten ein, lassen sich Erlebnisketten entdecken, die die vermeintlich unerklärbare Gefühlsschwankung verständlich machen.Je weniger jemand von sich selbst erkennt, desto größer ist die Gefahr, dass er psychisch krank wird. Deshalb fehlt es schwer Kranken oft an jenem heilsamen Selbstverständnis, das ihnen ihr Kranksein erklären könnte; und ihnen damit den Weg aus dem Kranksein weist.
Die psychodynamische Psychiatrie erkennt die biologische Komponente der Krankheitsentstehung an. Darüber hinaus interessiert sie sich aber für den Sinnzusammenhang zwischen Krankheit, Persönlichkeit, Weltbild und individueller Entscheidung. Dementsprechend sind ihre Erklärungsmodelle komplexer und das therapeutische Vorgehen setzt mehr auf persönliche Lösungsstrategien.
Die Berücksichtigung des individuellen Sinnzusammenhangs hat bei der Behandlung der Bipolaren Störung Vorteile:
Der Bedarf an korrigierender Medikation wird vermindert - oder gar überflüssig. Damit sinkt das Risiko gefährlicher Nebenwirkungen.
Langfristig wird die Kompetenz des Patienten zur selbständigen Problembewältigung verbessert. Das kommt der psychosozialen Integration zugute; was sowohl die Symptomatik als auch deren biographische Auswirkungen im weiteren Verlauf entschärft.
Kausale Faktoren bei der Bipolaren Störung
Die innerseelischen Prozesse der Bipolaren Störung können analog zu denen der Depressionen und Manien beschrieben werden. Besonders zu beachten ist dabei der Einfluss persönlicher Entscheidungen, die eine Dynamik schüren können, die zum Aufschaukeln der Bipolaren Störung beitragen kann.
Ein besonderes Risiko affektiver Ausnahmezustände ergibt sich bei der Bipolaren Störung durch psychologische Wechselwirkungen zwischen gegenläufigen Phasen. Hier drohen sich depressive und maniforme Phasen gegenseitig aufzuschaukeln.
In der Manie stößt der Kranke wichtige Bezugspersonen oft gedankenlos vor den Kopf. Er trennt sich vom Partner, beleidigt Kollegen, kündigt die Stelle, um selbst eine Firma zu gründen; oder er nimmt Kredite auf, kauft, was er sich nicht leisten kann, fährt sein Auto zu Schrott und verreist planlos mit unrealistischem Ziel: Ich fahre mal nach Rom, um dem Papst zu sagen, dass er zum Protestantismus konvertieren soll.
Hat der Kranke nach der Ernüchterung als Folge kopfloser Taten Schuld- und Schamgefühle, entmutigt das seine Impulse zur autonomen Selbstbestimmung erneut. Das Risiko, in die nächste Depression zu fallen, steigt, das Risiko, von dort aus nach erlittener Qual in die nächste Manie zu flüchten, ebenfalls. Ein sogenanntes Rapid Cycling kann entstehen: Die Stimmung schwankt rasch von einem Extrem ins andere.
Der jüngst der Kindheit Entwachsene lässt regelhaft einschränkende soziale Bedingungen hinter sich. Stand er bis dahin unter der Vormundschaft von Erziehungsberechtigten, die seine Entscheidungsfreiheit begrenzten, kann er mit Eintritt der Volljährigkeit machen, was er will. Zugleich ist der Erfahrungsschatz, der den Menschen meist zur Vorsicht mahnt, beim Adoleszenten ebenso klein wie sein Irrglaube groß, dass die Vorsicht der Älteren als Ausgeburt eines Spießertums einzuschätzen ist, das man bloß abzustreifen braucht, um adlergleich davonzufliegen. Der Adoleszente bildet sich ein: In Wirklichkeit ist alles easy. Es wundert also nicht, dass beim erstmaligen Öffnen der Sprudelflasche auf einen Schlag so viel Energie in die Freiheit entweicht, dass eine Menge davon nutzlos verlorengeht oder Kollateralschäden hinterlässt.
Wird der kurzzeitige Überflieger aus der Anstalt entlassen, ist sein Selbstvertrauen ramponiert und die Scham über die verfehlte Anmaßung gigantisch. Wie steht er jetzt vor den anderen da? Es kann sein, dass ihn das dermaßen entmutigt, dass er als nächstes depressiv reagiert.
Der Mensch treibt auf dem Wellengang der Stimmungen nicht dahin wie eine Kokosnuss zwischen Atollen. Er reagiert auf seine Emotionen:
Ging es einem schlecht und man bemerkt, dass die Stimmung steigt, kommt Zuversicht auf. Man glaubt, dass es weiter bergauf gehen wird. Die Zuversicht sorgt dafür, dass es so kommt. Geht es einem gut und man glaubt, es werde so bleiben, ist die Enttäuschung groß, wenn die Stimmung kippt. Die Enttäuschung sorgt dafür, dass es erst recht bergab geht. Stimmungen unterliegen einer selbstverstärkenden Rückkopplung.
Stimmungen verändern die Bewertung von Sachverhalten. Ein missgelaunter Mensch wird eine Wolke am Himmel als Beweis bewerten, dass die Welt im Argen liegt. Für den heiteren ist sie ein willkommener Schutz vor Sonnenbrand. Die Qualität der Bewertung von Sachverhalten wirkt ihrerseits auf die Stimmung zurück.
Trübe Stimmungen verleiten dazu, lieber nichts zu unternehmen. Es könnte ja schiefgehen und außerdem ist alles so mühsam. So mancher Depressive hört daher auf, im eigenen Interesse zu handeln. Er vernachlässigt alltägliche Aufgaben und wartet auf Rettung von irgendwoher. Die Nachteile, die das nach sich zieht, verstärken seine Schwermut.
Ist man euphorisch, meint man, alles, was man beginnt, werde gelingen. Der resultierende Tatendrang führt zum Erfolg... oder man begeht Dummheiten, die man sich besser erspart hätte.
Risikofaktor
Ein wesentlicher Risikofaktor dafür, dass abnorm gehobene Stimmungen in maniformen Tatendrang entgleisen ist die Gier der Betroffenen. Wem die gute Stimmung nicht Geschenk genug ist, der versucht, mit ihrer Kraft die Welt zu erobern. Er meint: Endlich habe ich die Mittel in der Hand, mir all das anzueignen, was mich über alle anderen stellt. Nicht die Stimmung, sondern der Vorsatz, sie zu missbrauchen, führt ihn in die Irre. Wer nichts erobern will, der stimmt in der Befreiung mit sich selbst überein und ist sich darin selbst genug.
Vor allem die Entscheidungen, die man in Gegenwart abnormer Stimmungen trifft, spielen eine ausschlaggebende Rolle beim Fortgang Bipolarer Störungen. Wer eine maniforme Stimmung als solche genießen kann, ohne mit ihr etwas zu machen, dem wird sie nicht schaden. Wer das Gefühl der befreiten Kraft aber prompt dazu nutzen will, sich unerhörte Erfolge zu sichern, der verwandelt sich solange in den großen Zampano bis ihn die Tatsachen darüber belehren, dass er allenfalls Max Mustermann ist.
Die Lösungsansätze, die bei der Bipolaren Störung zur Anwendung kommen, entsprechen weitgehend denen, die bei Manien bzw. Depressionen anwendbar sind. Auch bei der Bipolaren Störung sind aktive und passive Ansätze zu unterscheiden.
Eine einfache aber nützliche Maßnahme zur Bewältigung Bipolarer Störungen ist das Stimmungstagebuch. Dabei bewertet man die tägliche Stimmung nach einem Notensystem und vermerkt Zusammenhänge zwischen Stimmungsschwankungen und auslösenden Ereignissen sowie Änderungen der Medikation. Das Stimmungstagebuch...
Bei der Pharmakotherapie der Bipolaren Störung ist zu beachten, dass Pharmaka das Risiko gewisser Komplikationen erhöhen.
Bei der Behandlung von Depressionen im Rahmen einer Bipolaren Störung mit einem Trizyklischen Antidepressivum (TZA) besteht eine erhöhte Gefahr, dass es zu einem Übergang in eine Manie kommt (Switch). Deshalb werden heute Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) oder Bupropion verordnet; obwohl auch für diese Substanzen ein Risiko nicht ausgeschlossen ist.
TZA können auch die Phasenfrequenz erhöhen und somit ein Rapid cycling anstoßen. Um das zu vermeiden gelten SSRI und Bupropion ebenfalls als Antidepressiva der ersten Wahl.
Medikamente zur Behandlung Bipolarer Störungen
Akutbehandlung | Rezidivprophylaxe Langzeittherapie |
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Stimmungsstabilisatoren | ||
Lithium | Manie und Depression, meist in Kombination mit Neuroleptikum oder Antidepressivum | Mittel der ersten Wahl |
Valproat | Manie | Phasenprophylaxe |
Carbamazepin | Phasenprophylaxe wenn Lithium nicht anwendbar | |
Lamotrigin | Vorbeugung depressiver Phasen vor allem bei Rapid cycling | |
Antidepressiva | ||
Citalopram | Depression | Wenn schwere oder anhaltende depressive Symptome im Vordergrund stehen |
Paroxetin | ||
Sertralin | ||
Fluoxetin | ||
Bupropion | ||
Neuroleptika | ||
Quetiapin | Manische und depressive Phasen | Vorbeugung manischer und depressiver Phasen |
Risperidon | Manie | |
Ziprasidon | Manische oder gemischte Phasen | |
Haloperidol | Manie | |
Aripiprazol | Manie | Vorbeugung maniformer Phasen |
Olanzapin | Manie | Phasenprophylaxe |
Im einzelnen Fall können aber auch TZA verordnet werden, wenn sich beim konkreten Patienten andere Strategien als untauglich erwiesen haben.