Denken


  1. Begriffe
  2. Wirklichkeit und Vorstellung
  3. Zwecke des Denkens
  4. Freiheit und Verirrung
  5. Weltbild, Denken und Symptom
  6. Kognitive Störungen
  7. Entkräftung pathogener Gedanken
Wahrgenommen wird das Hier-und-Jetzt. Gedacht wird meist ans Dort-und-Dann oder an das Damals.

Meist wird beim Denken etwas vergessen: die Frage, wem der Gedanke wirklich guttut. Viele Denkinhalte sind Versuche der Person, das Selbst für persönliche Zwecke zu missbrauchen. Sie führen insofern in die Irre, als sie am Glück vorbeigehen. Das Glück liegt im Selbst, der Gewinn im Blickfeld der Person. Wer den Gewinn über das Glück stellt, hat es verloren.

Der Gedanke liegt zwar in der Wirklichkeit, sein Inhalt bildet aber eine virtuelle Welt; die, der gedanklichen Vorstellung. Wer sein Denken wahrnimmt, statt sich mit ihm gleichzusetzen, findet auf den Boden der Tatsachen zurück.

Indem es Vorstellungen entwirft, geht das Denken an der Wirklichkeit vorbei. Das ist seine Aufgabe, seine Chance, sein Risiko und sein Irrweg.

1. Begriffe

1.1. Denken und dünken

Was uns bereits zu denken gibt, ist die Verwandtschaft zwischen denken und dünken. Beide gehen auf die indoeuropäische Wurzel teng- = denken, empfinden zurück. Dass das Denken mit der Empfindung verbunden ist, bringt neue Erkenntnis. Das Verb empfinden setzt sich aus ent- und finden zusammen. Ent- ist mit dem germanischen and[a] = entgegen, von etwas weg verwandt.

Wenn man der Wirklichkeit entgegentritt oder sie aus der Distanz betrachtet, findet man durch Empfindungen heraus, wie man sie erlebt. Danach weiß man, was man von der Welt zu halten und wie man über sie zu denken hat; zumindest, wenn das Herausgefundene Erkenntnisse bringt, die der Wirklichkeit entsprechen.

Da es oft misslingt, Empfundenes eins zu eins in Gedanken umzumünzen, schleichen sich ins Gedachte Fehler ein, sodass das Denken über die Wirklichkeit oft ein Dünken ist, also ein Meinen ohne Gewähr.

Fluch und Segen

Was uns vom Tier unterscheidet, ist die Fähigkeit zum komplexen Denken. Komplexes Denken kann Segen oder Fluch sein. Es ist Segen, weil es hilft, das Leben zu gestalten.

Komplexes Denken ist Fluch, wenn es krank macht. Es macht krank, wenn es dazu missbraucht wird, dem Erleben der Wirklichkeit auszuweichen.


Die sprachgeschichtliche Verwandtschaft von Denken und Empfindung belegt zugleich, dass Gedanke und Gefühl miteinander verzahnt sind.

Kopplung
Einerseits unterscheiden sich Gedanke und Gefühl. Der Erste ist symbolisch, das Zweite analog. Tatsächlich hängen beide jedoch zusammen. Empfindungen, Stimmungen und Gefühle haben einen Einfluss auf das Denken. Sie verändern dessen Themenwahl und die Qualität gefällter Urteile. Umgekehrt gilt ähnliches: Was man über die Dinge denkt, entscheidet darüber mit, wie man sich dabei fühlt.

Dieser Mechanismus ist ein wesentliches Einfallstor für den Missbrauch des Denkens für fragwürdige Zwecke. Vor allem bei der Formulierung weltanschaulicher Positionen werden Denk- und Verstandestätigkeiten missbraucht. Da werden die Dinge nicht so beurteilt, wie es ihnen objektiv zukommt, sondern so, wie es dem Urteilenden gefällt. Kaum je ist uns bewusst, wie sehr die Verknüpfung von Wohlgefühl und Urteil unser Denken und Meinen bestimmt.

Ebenso wenig ist uns bewusst, wie sehr unser Unbehagen durch Denkinhalte verursacht wird, die uns in die Irre führen. Das Wohlgefühl, das so mancher Gedanke oberflächlich verursachen mag, täuscht oft darüber hinweg, dass er in der Tiefe schadet.

1.2. Überlegen

Ein Synonym des Denkens ist das Überlegen. Sprachlich verwandt mit der Überlegung ist die Überlegenheit. Es ist zwar nicht so, dass der eine Begriff unmittelbar aus dem anderen hervorgegangen ist, die Sprache hat beide aber aus denselben Bausteinen - über und legen - zusammengesetzt. Das ist kein Zufall.

Ziel des Denkens ist Überlegenheit. Der Mensch denkt nach, weil er den Kräften der Wirklichkeit nicht wehrlos unterliegen will.

Grübelzwänge
Eine der häufigsten psychiatrischen Symptome sind Grübelzwänge. Millionen kommen nächtelang nicht zur Ruhe, weil sie nicht aufhören können, Überlegungen anzustellen. Meist tritt derartiges auf, wenn sich der ruhelose Denker der Gefahr ausgesetzt sieht, misslichen Umständen oder den Machenschaften unliebsamer Zeitgenossen zu unterliegen. Das ständige Denken im Kreise ist der verzweifelte Versuch, das gefürchtete Erleben von Unterlegenheit und Niederlage durch Überlegungen abzuwehren, die Überlegenheit verschaffen.

2. Wirklichkeit und Vorstellung

Das Bewusstsein kann verschiedene Inhalte haben: Wahrnehmungen und Vorstel­lungen. Das Wahrgenommene ist unmittelbar mit dem Hier-und-Jetzt verbunden. Es entspricht der Wirklichkeit, zumindest so weit es die Sinnesorgane erlauben, Strukturen des Wahrnehmbaren ins Bewusstsein zu übertragen und so weit das Bewusstsein in der Lage ist, Wirklichkeit als solche zu erleben.

Der Begriff Hier-und-Jetzt meint kein exakt physikalisches, sondern das Hier-und-Jetzt des Betrachters. Das Licht ferner Galaxien, das der Betrachter sieht, erreicht ihn physikalisch gesehen verzögert. Existenziell erlebt er es im Jetzt.

Wahrnehmungen erreichen das Bewusstsein simultan. Simultan geht auf Lateinisch simul = gleichzeitig zurück. Sobald man Wahrnehmbares beachtet, richtet man die Aufmerksam­keit auf die Ereigniskette, die in der absoluten Gegenwart abläuft.

Das Denken ersetzt die Wirklichkeit durch abstrakte Symbole. Verstrickt in die Welt der Symbole, vergisst man, dass sie erfunden ist.

Die absolute Gegenwart ist das Jetzt. Der Begriff Gegenwart wird auch im Sinne von zeitnah verwendet. Genau betrachtet ist ein begrenztes Zeitfenster um das Jetzt herum aber keine physikalische Gegenwart, sondern ein persönlich definierter Zeitraum, der einem Feld egozentrischer Themen entspricht. Was in dieser relativen Gegenwart geschieht, bezieht sich auf den Betrachter.

Das Bewusstsein kann Wirklichkeit aber nicht nur wahr­nehmen. Es kann sie auch simulieren. Simulieren entstammt dem lateinischen similis = ähnlich. Die Bedeutungen des Verbs simulare verweisen auf wesentliche Eigenschaften jener Vorstellungen, die das Bewusstsein als Denkinhalte erzeugt. Simulare heißt:

Simulation und Symbolisierung
Zur Simulation potenzieller Wirklichkeiten benutzt das Bewusstsein eine Symbolisierungsfunktion: das begriffliche Denken. Begriffe sind Bausteine, die symbolisch für Wirkliches stehen, ohne das Wirkliche zu sein. Mit Hilfe der Bausteine werden Vorstellungen entworfen, die der Wirklichkeit mehr oder weniger ähneln.

Selbsttäuschung

Denkinhalte sind oft Simulanten. Sie täuschen eine Wirklichkeit vor, die nicht gegeben ist. Falsch! Denk­inhalte sind keine Simulanten. Sie sind Entwürfe. Ein Simulant muss die Wahrheit kennen, damit er sie im nächsten Schritt vertuschen kann. Der Denk­inhalt selbst weiß aber gar nichts. Richtig ist, dass der Denkende dazu neigt, gedanklichen Entwürfen vorschnell eine Gewissheit zuzuschreiben, die nicht gegeben ist. Nicht der Gedanke täuscht den Denker, sondern der Denker täuscht sich über die Verlässlichkeit der Gedanken. Er tut es, weil er Ungewissheit fürchtet und sich durch blindes Ver­trauen ins bloß Simulierte in Sicherheit wiegen will.

Denken besteht aus szenischen Vorstellungen und logischen Verknüpfungen vordefinierter Begriffe, durch die das Bewusstsein Wirklichkeitsverläufe simuliert bzw. Strukturen der Wirklichkeit untersucht und bewertet. Dabei werden...

Sowohl das Wachrufen von Erinnerungen als auch die Vorwegnahme zukünftiger Abläufe und der Ersatz wahrnehmbarer Wirklichkeit durch phantasierte Bilder ist zweckgerichtet; ebenso die Analyse und Bewertung erkannter Strukturen. Verschiedene Zwecke sind auszumachen.

Zwecke des Denkens

Funktion Zweck

Wachrufen

  • Untersuchung vergangener Erlebnisse auf verwertbare Regeln für zukünftige Entscheidungen
  • Ersatz gegenwärtigen Erlebens durch schöne Erinnerungen
  • Erzeugung von Affekten zur Selbstmanipulation
  • Umdeutung von Erinnerungen zur Veränderung des Selbstbilds

Vorwegnahme

  • Probeläufe zukünftiger Herausforderungen
  • Ersatz gegenwärtigen Erlebens durch angenehme Phantasien
  • Erzeugung von Affekten zur Selbstmanipulation
  • Erzeugung virtueller Ersatzhandlungen zur Pflege des Selbstbilds

Analyse

  • Vertieftes Verständnis der Wirklichkeit durch Untersuchung ihrer inneren Zusammenhänge

Bewertung

  • Einordnung erkannter Strukturen in systematische Modellvorstellungen
    • Bosonen haben dem Spin-Statistik-Theorem zufolge einen Eigendrehimpuls.
  • Einschätzung von Nutzbarkeit und möglichem Gefahrenpotenzial
    • Zum Wechseln der Zündkerzen beim Opel Omega dürfte ein 16er Schlüssel passen. Sind die Kerzen festgebacken und versuche ich sie mit Dynamit freizusprengen, könnte die obenliegende Nockenwelle aus der Verankerung springen.
  • Abschirmung des Egos vor gefürchteten Erlebnissen durch rationalisierende, intellektualisierende und abwertende Urteile.
    • Die Trauben sind sowieso zu sauer.

3. Zwecke des Denkens

Denkprozesse können vier Grundfunktionen zugeordnet werden:

  1. Wachrufen von Erinnerungen
  2. Vorwegnahme möglicher Ereignisse
  3. Untersuchung / Analyse
  4. Urteil / Bewertung

Die Zwecke, die die eine oder die andere Funktion hat, sind teils identisch, teils unterscheiden sie sich. In der Regel laufen Grundfunktionen nicht isoliert voneinander ab. Sie ergänzen sich. Je mehr sie sich voneinander unterscheiden, desto sinnvoller scheinen sie zu sein. Je mehr sie sich ähneln, desto fragwürdiger werden sie.

Der dümmste Bauer...

findet die dicksten Kartoffeln. Der dumme Bauer legt die Saatkartoffel in den Boden. Er vertraut auf Sonne, Regen und Erde. Die werden es schon richten. Der schlaue Bauer will mehr als eine Durchschnittsernte. Er denkt solange darüber nach, ob der Ertrag von Paprika nicht höher als der von Kartoffeln sein könnte, bis er die beste Zeit zur Aussaat beider verpasst.
3.1. Wachrufen von Erinnerungen
Sinnvolle Zwecke

Ursprüngliches Ziel des Wachrufens von Erinnerungen ist die Analyse vergangener Ereignisse. Erfahrungen sind Voraussetzung für ein erfolgreiches Leben. Erfahrungen sind aber nur dann nützlich, wenn ihnen eine Lehre entspringt. Die Lehre, die man Erfahrungen entnimmt, liegt in regelhaften Kausalverbindungen, die die Struktur von Ereignisketten bestimmen. Untersucht man vergangene Erlebnisse, hält man Ausschau nach Zusammenhängen zwischen Ursache und Wirkung. Ursachen lassen sich zwei Gruppen zuteilen:

  1. Ursachen, auf die man keinen Einfluss hat, die aber Folgen nach sich ziehen.

    Falls man zum Spaziergang aufbricht, wenn sich Wolken türmen, ist die Gefahr groß, dass man nass wird.

  2. Ereignisse, die man selbst verursacht.

    Heute war die Safran-Sahne-Soße lecker. Wie habe ich das noch mal gemacht?

    Nachdem ich dem Patienten Doxepin verschrieben habe, wurde seine Stimmung besser.

Der Nutzen dieser Denkfunktion ist offensichtlich: Je besser man die Regeln der Wirklichkeit als Auszug von Erfahrungen erkennt, desto bessere Entscheidungen kann man künftig treffen.

Fragwürdige Zwecke

Ruft man Erinnerungen als Ersatz, zum Zwecke der Umdeutung oder zur Erzeugung manipulativer Affekte wach, wird der Nutzen vom Schaden überlagert, der derartige Zwecke begleitet.

Schlaflose Nächte
Der Versuch, Schuld oder Scham zu verleugnen, ist einer der Hauptverdächtigen, wenn Grübelneigung Schlaf verhindert. Da wird ein Erlebnis immer wieder neu erinnert und gedanklich durchgekaut. Irgendwie muss es doch möglich sein, das Gewesene so umzudeuten, dass man sich für seinen Ablauf weder schämt noch Schuld empfindet. Da auch Schuld und Scham Unterlegenheit bedeuten, wird überlegt, wie der Unterlegenheit zu entkommen ist. Dauert ein solches Grübeln länger als eine halbe Stunde, ist das Eingeständnis der Unterlegenheit Mittel der Wahl.
Sich Unterlegenheit einzugestehen heißt: im Gefühl der Unterlegenheit stehen zu bleiben, ohne Versuch, ihm zu entfliehen.
Werkzeuge des Denkens

Das Denken benutzt zwei Werkzeuge:

  1. Bilder
    • Erinnerungsbilder sind Lichtpausen dessen, was geschehen ist.

      • Ich erinnere mich, wie ich mit Roshanak auf dem Jahrmarkt in Brüssel Kettenkarussell fuhr.

      Vorstellungsbilder sind Modelle dessen, was ist oder werden könnte.

      • Unsere Liebe ist ein Reigen um die Achse der Welt... und ein Flug über den Abgrund, in den sie stets zu stürzen droht.

      Gedankliche Bilder sind nicht die Wirklichkeit selbst. Sie sind Darstellungen dessen, wofür man die Wirklichkeit hält.

  2. Begriffe
    • Begriffe sind Symbole, die für Elemente der Wirklichkeit stehen. In der Regel vereinfachen sie stark. Tisch ist ein Wort für tausend verschiedene Dinge, groß ein Begriff, der zugleich Flöhe und Galaxien beschreibt.

      • Mit stechendem Blick wandte sich der Floh dem Bakterienbaby zu und verschlang es mit grässlichem Schmatzen.
      • Im Vergleich zum Virgo-Galaxienhaufen ist die Große Magellan'sche Wolke ein Mückenschiss.

Beim Denken werden Bilder, die die Wirklichkeit nur modellhaft beschreiben, mit Begriffen kommentiert, deren jeweilige Unschärfe sich in der Kombination zu gedachten Sätzen multipliziert.

3.2. Vorwegnahme möglicher Ereignisse
Sinnvolle Zwecke

Eine wichtige Funktion des Denkens ist die Vorbereitung zukünftiger Handlungen. Dazu können geplante Abläufe simuliert, durch die Simulation auf Anwendbarkeit hin überprüft und einstudiert werden. Durch die gedankliche Vorwegnahme eines erfreulichen Ausgangs wird zudem der Antrieb bereitgestellt, sich den Gefahren zu stellen, die jede Tat zu gewärtigen hat.

Eine weitere Funktion vorwegnehmenden Denkens ist die Analyse komplexer Probleme. Man kann zur Behebung eines Problems irgendetwas ausprobieren. Das trifft oft daneben und man braucht weitere Versuche. Schneller geht es, wenn man die Struktur des Problems begreift und gedanklich eine Lösung sucht.

Fragwürdige Zwecke

Vorwegnehmendes Denken geht nicht immer Wege, die gezieltes Handeln vorbereiten. Auch die Vorwegnahme kann als Ersatz dienen, zu Zwecken der Selbstmanipulation oder als Maßnahme zum Kitten eines irrigen Selbstbilds.

3.3. Untersuchung / Analyse

Neben der Wahrnehmung ist die analytische Untersuchung der wahrgenommenen Inhalte auf Zusammenhänge und Widersprüche ein zweiter Grundpfeiler der Erkenntnis.

Eine solche Anwendung des analytischen Denkens wird man als sinnvoll deuten. Wenn ich aber vor dem entscheidenden Schritt, der Träume verwirklichen kann, zu lange Ravissas Gewohnheiten analysiere, darüber nachdenke, welches der günstigste Moment zum begehrlichen Bekenntnis und die allerklügsten Worte dafür wären, kann es sein, dass ich den tatsächlich günstigen Augenblick verpasse... und dieser dreimal verfluchte Sausack von Michelangelo mit Ravissa von dannen zieht.

Mein Psychotherapeut würde dann denken: Zu den typischen Abwehrmechanismen des Patienten gehören Rationalisierung und Intellektualisierung hinter denen vermutlich ängstlich-vermeidende oder schizoide Persönlichkeitsanteile wirksam sind.

3.4. Bewertung / Urteil

Viele Denkprozesse enden mit einem Urteil. Zum einen ist das ein wesentliches Ziel, zum anderen ein Risiko. Zum einen ist das Urteil eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit der Wirklichkeit. Es steht am Übergang von der Analyse zum konkreten Handeln.

Zum anderen sperrt das Urteil Denkprozesse in einen Käfig. Falls das Urteil die Wirklichkeit verfehlt, kann es ins Desaster führen.

4. Freiheit und Verirrung

Die Gedanken sind frei. Das ist ihr Potenzial. Im Potenzial liegt zugleich das Risiko, dass man mit den Gedanken in die Irre geht.

Chancen der Freiheit

  • Straflose Experimente
  • "Zeitreisen" in Zukunft und Vergangenheit
  • Sorgloses Spiel

Die Freiheit des Denkens hat aus Affen Menschen gemacht. Nicht, dass Affen nicht ebenfalls dächten. Sie tun es. Aber nicht so viel, als dass aus ihnen bereits Menschen geworden sind.

Dank des Denkens kann der Mensch das Hier-und-Jetzt verlassen. Dazu schafft er sich eine virtuelle Eigenwelt, die aus Bildern und Begriffen besteht. In dieser Eigenwelt kombiniert er das Inventar zu immer neuen Varianten und berechnet die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Tat erfolgreich sein wird. Wir wissen, dass uns das Denken unfassbare Erfolge ermöglicht hat.

Während sich auf der einen Seite Erfolge türmen, herrscht auf der anderen Verwirrung. Der Genuss der Erfolge wird zum Teil durch Nebenwirkungen zunichtegemacht. Wahrscheinlich sind die meisten Menschen heute unglücklicher als früher die Affen im Wald.

Ursachen der Verwirrung

  • Flucht vor den Regeln der Wirklichkeit in die Narrenfreiheit des Denkens
  • Keine Korrektur durch reale Konsequenzen
  • Umhertreiben im Strudel der freien Assoziation
  • Beschränkung auf persönlichen Erfahrungshorizont
  • Verlust der seelischen Freiheit durch pathogene Ideen

Auch die Verwirrung ist eine Folge des Denkens. Neben dem Missbrauch des Denkens zu fragwürdigen Zwecken, hat sie vier weitere Ursachen:

Das Gespinst des Denkens und Meinens bildet einen Kokon gegen die Unendlichkeit; und es macht aus seinen Insassen Sklaven.

5. Weltbild, Denken und Symptom

Fast alle psychiatrischen Symptome gehen mit gedanklichen Verirrungen einher. Mehr noch: Sie werden durch Fehlanwendungen des Denkens verursacht oder verstärkt. Krankmachende Gedanken treten selten einzeln auf. Sie verzahnen sich zu komplexen Vorstellungen: zu Welt- und Selbstbildern.

Vom Nutzen des Weltbilds
Neugeborene sind einer Flut von Sinneseindrücken ausgeliefert. Deren Zusammen­hang entdecken sie erst schrittweise. Mit der Entdeckung der ersten Regel ist der Grundstein zum eigenen Weltbild gelegt. Je mehr Erfahrungen dazukommen, desto komplexer wird das Bild. Manche Bausteine liefern Botschaften des Umfelds. Sie übermitteln kollektive Denkmuster.

Dank des Weltbilds kann das Kind neue Erfahrungen bekannten Schubladen zuordnen. Es erwirbt eine Schablone, die ihm Orientierung gibt. Mit Hilfe der Schablone werden Entscheidungsprozesse automatisiert. Meist laufen sie unbewusst ab.

Welt- und Selbstbilder sind gedankliche Simulationen. Wir erinnern uns: Simulare heißt ähnlich machen, nachbilden, den Anschein erwecken, etwas vortäuschen. Simulationen ähneln der Wirklichkeit, aber entsprechen ihr nicht. Sie bilden nach, und verpassen zugleich ganze Dimensionen der Realität. Sie erwecken den Anschein der Echtheit und sind doch erfunden. Kurzum: Sie täuschen eine Welt vor, durch die die Wirklichkeit verschleiert wird.

Von der Gefahr des Weltbilds
Je mehr sich das Weltbild festigt, desto mehr läuft man Gefahr, sich von der Wirklichkeit abzuwenden. Man richtet Realitätsurteile und Handlungsimpulse entlang des Weltbilds aus. Ergeben sich Misserfolge, sucht man die Lösung nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern in der virtuellen Eigenwelt der Meinungen, Vermutungen, Erinnerungen und Vorstellungen, die man im Kopf bei sich trägt. Statt Wirklichkeit unmittelbar zu erleben, simuliert man sie. Automatisierte Entscheidungsprozesse übernehmen das Kommando. Aus dem freigesetzten Selbst wird eine Persönlichkeit mit festgefügten Eigenschaften.

Falls Sie sich für Werner Wellershagen aus Bad Oldeslohe halten, halten Sie sich für eines von Milliarden Partikeln, das aus Angst vor der Bedeutungslosigkeit seine Bedeutung überschätzt. Halten Sie sich für einen Ausdruck des Abgrunds! Dann hat die eigene Bedeutung keine Bedeutung mehr für Sie. Sie erkennen sich als das, was Bedeutung vergibt, aber keine mehr braucht.

Die größte Gefahr des Welt- und Selbstbilds liegt nicht darin, dass sie die Wirklichkeit verzerrt darstellen; und so zu Fehlentschei­dungen führen. Die größte Gefahr liegt in der Identifikation des Ichs mit dem Bild, das es von sich hat. Identifiziert man sich mit dem Selbstbild, setzt man sich mit seiner Person gleich und wird von deren Begrenzung und Dynamik eingefangen.

Zur Dynamik der Person gehört die Überzeugung, als abgetrennte Einheit dem Rest der Welt gegenüberzustehen. Dem entspricht die Furcht, vom Rest der Welt überwältigt zu werden. Der Furcht entspringt ein Drang nach Sicherheit. In der Folge richtet die Person große Teile ihrer Kraft darauf aus, sich abzusichern. Da das Identitätsgefühl der Person aber nicht im Selbst, sondern im Selbstbild verankert ist, bemüht sie sich nicht um das Wohl ihrer selbst. Sie kämpft um den Bestand ihres Bildes; des Bildes, das sie von sich selbst hat, aber auch jenes Bildes, das von ihr in den Köpfen anderer erscheint. Resultat sind klassische psychiatrische Symptome: Angst, Depression, Zwang und Wahn.

5.1. Vom Denken zur Angst

Alle Angst entspringt der Vermutung, dass zukünftige Ereignisse schädlich sein könnten.

Der Begriff Ereignis entspringt dem niederhochdeutschen eräugnen. Sich ereignen heißt eigentlich sich vor Augen stellen. Im Ereignis stellt sich die Wirklichkeit dem Betrachter vor Augen.

Ein Großteil der Ängste, mit denen sich die Menschheit plagt, entspricht keiner realen Gefahr. Sie sind das Werk eines Denkens, das die Wirklichkeit wie ein Radar hinter Barrikaden nach bedrohlichen Indizien absucht; und vorsichtshalber übertreibt. So führt Angst zum Denken und denken zu neuer Angst. Aus Angst vor der Bedrohung hält sich der Geist an Gedanken fest, die Ängste schüren, indem sie Bedrohungen wittern, wo keine sind.

Meist hat Angst mit Denkmustern zu tun, die Bedrohungen für den Bestand der Person auf Kosten des Selbst in den Vordergrund rücken.

Statt das Leben anzunehmen, wie es ist, und sich in den Ereignissen selbst zu erkennen, kämpft das Ego um den Bestand einer Person, die am besten gegen die erdachten Gefahren gewappnet erscheint. Alles, was den Wert und die Bedeutung dieser Person infrage stellt, wird durch gedankliche Konstrukte abgewehrt. Resultat des Abwehrkampfes ist die Angst, im Kampf zu unterliegen.

5.2. Vom Denken zur Depression

Depression (lateinisch deprimere = niederdrücken) benennt ein Niedergedrücktsein autonomer und expansiver Impulse. Sofern Depressionen nicht durch Stoffwechselstörungen bedingt sind, werden die Impulse durch psychologische Mechanismen niedergedrückt, durch die das Ego seine Position abzusichern versucht.

Depressionen haben in der Regel mit Denkmustern zu tun, die die unbefangene Reaktion auf Erlebtes behindern.

Geht das Ego davon aus, dass die Wahrnehmung der gefürchteten Impulse zu Konsequenzen führen könnte, die es bedrohen oder das Bild infrage stellen, das es von sich selber hat und anderen vermitteln will, sabotiert es ihren Ausdruck durch Verleugnung und Verdrängung.

5.3. Vom Denken zum Zwang

Zwangssymptome bestehen immer aus Denkakten. Entweder sind sie auf Denkakte beschränkt oder als Ausdruck des Denkaktes kommt es zu Zwangshandlungen. Zwangshandlungen sind stets von Denkinhalten abhängig.

Zwang ist Abwehr von Angst. Zwanghafte Denkmuster kreisen um die überwertige Idee, sich abzusichern.

Ursprung von Jakobs Zwang ist die Ahnung seines Ego, dass es nirgends sicher ist. Es flüchtet in die Illusion, dass es durch die Vermeidung "falscher" Schritte mehr Sicherheit schafft.

Albert geht zurück um die Handbremse zu kontrollieren, weil er fürchtet, dass er den Gedanken an das Restrisiko sonst nicht mehr aus dem Kopf bekommt.

Mancher glaubt lieber, er wird von der Welt verfolgt als von allen übersehen.
5.4. Vom Denken in den Wahn

Wahn ist verirrtes Denken in Reinkultur. Ausgangspunkt wahnhafter Entwicklungen sind Wahrheiten, die das Ego nicht akzeptieren will.

Die Richtigkeit eines wahnhaften Denkinhalts erscheint dem Kranken so unentbehrlich, dass er dessen Abgleich mit der Wirklichkeit verweigert.

Denken ist Simulation. Das Denken ist in der Wirklichkeit enthalten, die Wirklichkeit aber nicht im Denken. Da der Mensch wirklich ist, kann er sich nicht in seinen Gedanken finden.

Im Denken liegt die Gefahr, sich mit dem Gedachten zu verwechseln. Tatsächlich ist man nicht, was man denkt. Man ist, was Gedanken erkennen kann. Die Person erdenkt sich. Man selbst ist.

Statt dass er die Wirklichkeit annimmt, ersetzt sie der Wahnkranke durch gedankliche Konstrukte, die die Bedeutung seiner Person teils absurd überhöhen.

5.5. Stimmungsschwankungen

Viele psychische Erkrankungen werden von Stimmungsschwankungen begleitet. Bei der Bipolaren Störung und dem Borderline-Syndrom gehören sie zur Kernsymptomatik. Oft zeigen Stimmungsschwankungen an, dass die Aufmerksamkeit des Kranken einseitig auf Denkinhalte ausgerichtet ist.

Während sich die Wirklichkeit, der man begegnet, meist nur langsam ändert und emotionale Reaktionen, die sich darauf beziehen, daher eher träge schwingen, sind Denkinhalte in der Lage, assoziativ von einem Thema zum nächsten zu springen.

Kettenreaktionen

Assoziativ geht auf Lateinisch associare = vereinigen, vernetzen zurück. Über grün sind Tannenbäume, Ampeln, Frösche, Teenager, Kupfer, Oasen und die italienischen Liebesgeschichten vom dtv-Verlag gedanklich miteinander verknüpft. Wer die Liebesgeschichten liest, könnte assoziativ an die Dächer der St. Pauli-Landungsbrücken denken.

Emotional reagiert die Psyche ebenso heftig auf Vorstellungsbilder wie auf die Wirklichkeit selbst. Wer sich hauptsächlich mit seinem Denken beschäftigt und die Wahrnehmung des Gegenwärtigen aus den Augen verliert, droht emotional mit rasch wechselnden Denkinhalten mitzuschwingen. Hatte er eben noch ein Vorstellungsbild im Kopf, dem er positiv gegenüberstand, führen ihn assoziative Verkettungen seines Denkens im Nu zu einem Thema, das negativ behaftet ist. So kann seine Stimmung rasch zwischen Extremen schwanken.

6. Kognitive Störungen

Die Psychiatrie als medizinische Wissenschaft beschäftigt sich zunächst nicht mit der individuellen Suche nach Wahrheit, Sinn oder gar dem eigenen Selbst. Sie stellt Ab­weichungen fest und versucht, abweichendes Erleben und Verhalten zu normalisieren. Ihr Ansatz folgt dabei der Erkenntnis, dass Normalität in der Regel nur so viel Leid verursacht, dass es im Rahmen bleibt. Es wundert daher nicht, dass der rein psychia­trische Blick auf Denken und Fühlen vergleicht und Normabweichungen beschreibt. Resultat ist eine Liste störender Symptome, die therapeutische Überlegungen veranlassen.

Beziehen sich die Störungen auf Gefühle und Stimmungen, spricht man von affektiven Störungen. Beziehen sie sich auf das Gedächtnis, heißen sie mnestische Störungen. Eine dritte Kategorie bilden die kognitiven Störungen. Diese können ihrerseits in zwei Kategorien eingeteilt werden:

  1. Störungen des Denkens
  2. Störungen des Verstandes

Obwohl es im klinischen Alltag oft schwerfällt, beide Kategorien voneinander zu unter­scheiden, macht die Unterscheidung Sinn. Während der Verstand den Sinngehalt er­kennbarer Strukturen erfasst, ist das Denken eine Symbolisierungsfunktion des Geistes. Mit Hilfe des Denkens werden erkannte Strukturen oder gewusste Zusammenhänge und Fakten dergestalt in Worte und Sätze gefasst, dass das Wissen einer anderen Person mitgeteilt bzw. vor dem eigenen geistigen Auge repräsentiert werden kann.

Kognitive Störungen

Störungen des Denkens Stö­rungen des Ver­standes
Formale Denk­störungen Inhalt­liche Denk­störungen
  • Ideen­flucht
  • Verlang­samung
  • Hem­mung
  • Weit­schweifig­keit
  • Sprung­haftig­keit
  • Zer­fahren­heit
  • Perse­vera­tion
  • Sper­rung
  • Gedan­kenab­reißen
  • Wahn
  • Ich-Störungen
    • Gedan­ken­ausbrei­tung
    • Gedan­ken­ent­zug
    • Gedan­ken­einge­bung
  • Störung der Kritik­fähig­keit
  • Störung der Urteils­fähigkeit
  • Störung des Abstra­ktions­vermö­gens

Kritik: von griechisch krinein (κρινειν) = scheiden, trennen, voneinander unterscheiden

6.1. Denkstörungen

Psychiatrische Denkstörungen können in zwei Kategorien eingeteilt werden: inhaltliche und formale Denkstörungen.

6.1.1. Inhaltliche Denkstörungen

Zu den inhaltlichen Denkstörungen wird meist nur der Wahn gezählt. Dabei wird Wahn als realitätswidriger Denkinhalt aufgefasst, der mehr ist als nur Mangel. Wahn ist kein Irrtum, also nicht Folge eines Defizits an korrekter Erkenntnis. Er hat vielmehr eine Funktion im Krankheitsgeschehen, was dazu führt, dass er nicht - wie ein Irrtum - durch Aufklärung über den korrekten Sachverhalt aufgelöst werden kann. Der krank­hafte Inhalt widersteht dem Versuch, ihn durch Aufzeigen der Wirklichkeit zu ändern.

Neben dem bloßen Wahn gibt es weitere Störungen des Denkens, die man kaum als bloß formal betrachten kann; denn die Form der gedachten Gedanken entspricht vollständig dem, was man als einen normalen Gedankengang bezeichnen würde.

Die Wahl des Verbs wähnen zur Beschreibung der genannten Phänomene begründet, warum sie hier den inhaltlichen Denkstörungen zugeordnet sind. Der Kranke hat bezüg­lich eines formal unauffälligen Gedankengangs realitätswidrige Vorstellung über den Ursprung oder den Kontext, in dem der Gedanke steht. Der Gedanke mag sich merk­würdig anfühlen, die Qualität des Gefühls, das den Gedanken begleitet, wird inhaltlich fehlerhaft interpretiert. Dabei gilt auch hier: Das wahnhafte Erleben des Kranken, dass jemand seine Gedanken liest, endet nicht durch den Hinweis darauf, dass das nicht stimmt. Der Kranke irrt sich nicht. Er wähnt.

6.1.2. Formale Denkstörungen

Formale Denkstörungen zeichnen sich durch vom Normalen abweichende Gestaltungen der gedanklichen Symbolisierung aus.

6.2. Störungen des Verstandes

Störungen des Verstandes sind oft strukturell; entweder im Sinne eines angeborenen Intelligenzdefizits oder im Sinne einer demenziellen Entwicklung, also eines erworbenen Intelligenzdefizits.

Denken und Verstand

Im Prinzip ist Verstand nicht auf das Denken angewiesen. Der Hund versteht die Signale des Frauchens und wahrscheinlich sogar, in welcher Stimmung sie ist. Er symbolisiert sich sein Wissen aber nicht gedanklich. Er denkt nicht: Oha! Das Frauchen ist missmutig. Da sollte ich besser artig sein.

Bei der erworbenen Verstandesstörung ist es nicht so, dass der Kranke Gewusstes bloß nicht mehr in geordnete Gedankengänge fassen und mitteilen kann. Vielmehr verblasst das Wissen selbst. Die Fähigkeit, differenzierte Vorstellungen zu entwickeln und zu vergleichen, sich an einst bekannte Sachverhalte zu erinnern und logische Schlussfolgerungen zu ziehen, lässt nach.

In der Folge können daraus unlogische, differenzierungsarme und inhaltlich falsche Gedanken entstehen, aber nicht weil primär die gedankliche Symbolisierungsfunktion beeinträchtigt ist, sondern weil dem Kranken das Wissen fehlt, das überhaupt in richtige Gedankenketten symbolisiert werden könnte.

Am schädlichsten sind nicht bittere Erfahrungen, sondern falsche Ideen.

7. Entkräftung pathogener Gedanken

Kaum etwas verursacht mehr überflüssiges Leid als irreführende Gedanken. Gedanken ziehen Gefühle nach sich. Sie stiften dazu an, etwas zu tun.

Man kann darüber nachdenken, in welche Verirrung das Denken führen kann. Wie jedes Denken geht aber auch dieses nur dann nicht selbst in die Irre, wenn man den Gegenpol des Denkens nicht vergisst: die Wahrnehmung dessen, was hier und jetzt geschieht. Um sich vor der Verirrung ins Denken zu schützen, nehmen Sie wahr, was die jeweilige Idee mit Ihnen macht. Machen Sie sich klar, dass sie Erscheinung ist, aber kein Teil Ihrer selbst.

Um sich dem Einfluss pathogener Gedanken zu entziehen, bedarf es großer Wachsamkeit. Auch gegenüber vermeintlich eigenen Gedanken ist Misstrauen angebracht. Für das Selbst sind viele Gedanken giftig. Sie stammen aus dem begrenzten Horizont der Person. Sie bewirken, dass sich die Person auf Kosten ihres Glücks wichtigmacht. Pathogene Gedanken vertauschen Glück und Bedeutung.

Von Ideen und Pilzen
Ideen sind wie Pilze. Über Nacht sind sie da. Nur selten kann man nachvoll­ziehen, woher sie stammen und warum genau dieser Pilz und kein anderer am Wegesrand steht. Damit nicht genug. Nicht nur, dass man den Ursprung des Pilzes kaum je erkennt, man erkennt auch nicht, ob er essbar oder giftig ist; es sei denn, man ist ein echter Pilzkenner.

Mit Ideen ist es ähnlich. Es mag sein, dass man eine bestimmte Idee hört oder liest und dann meint, man kenne ihre Quelle. Das ist aber nur halb wahr. Denn woher stammte die Idee im Kopf dessen, von dem man sie übernahm?

Das größte Übel vieler Ideen ist aber nicht das Geheimnis ihres Ursprungs und des Motivs, das ihnen zum Dasein verhalf. Das größte Übel ist ihr Mangel an echter Genießbarkeit. Viele wirken auf den ersten Blick so harmlos wie der Hallimasch oder so hübsch wie der Wiesenchampignon. Tatsächlich enthalten sie Gift; oft eins, das so langsam wirkt, dass man übersieht, welcher Pilz für das Übel verantwortlich ist. Es sei denn, man wird zum Ideenerkenner.

Viele Vorstellungen sind Sperren des Bewusstseins. Sie verstellen den Blick auf die Wirklichkeit. Sie haben nur solange Bestand, wie es ihnen gelingt, die Wahrheit zu verdecken. Sie benutzen das Bewusstsein als Wirt für ihre falsche Existenz. Manche sind so programmiert, dass sie sich in Köpfen verbreiten wie Viren im Netz.

Drei Schritte genügen, um sich vor der schädlichen Wirkung pathogener Gedanken zu schützen.

Drei Schritte in die Freiheit

1.

Identifikation des Gedankens

2.

Des-Identifikation vom Gedanken

3.

Urteil über den Gedanken

Sorgen Sie dafür, dass Sie über jedem Gedanken stehen, statt unter seinem Einfluss.

  1. Identifizieren Sie Ideen, die Ihr Verhalten bestimmen.

  2. Betrachten Sie Ideen, Gedanken, Vorstellungen und Meinungen nicht als die Ihren, bloß weil sie in Ihrem Bewusstsein auffindbar sind. Meinung kommt nicht von mein. Der Begriff hat mit wünschen und wähnen zu tun. Sobald man Das ist mein Gedanke sagt, glaubt man, dessen Besitzer zu sein. Tatsächlich ist ein Gedanke unbesitzbar. Jeder kann ihn übernehmen. Glaubt man jedoch ein Gedanke sei mein, knüpft man zu ihm eine Verbindung, die einen kritischen Abstand verhindert. Tatsächlich besitzt niemand Gedanken. Man wird vielmehr von jedem Gedanken besessen, den man für einen eigenen hält. Daher: Das ist ein Gedanke, aber nicht meiner. Ich kann ihm bewusst zu Wirkung verhelfen, indem ich Kraft an ihn verleihe. Trotzdem ist er mir niemals so nah, als dass ich der Vermutung verfalle, er sei ein Teil von mir.

  3. Beurteilen Sie den Gedanken:

    • Tut er Ihnen gut?
    • Ermutigt er Sie?
    • Vereinnahmt er Sie?
    • Sagt er Du musst oder Du sollst?
    • Zieht er schmerzhafte Affekte nach sich?
    • Fordert er Sie dazu auf, eigene oder fremde Erwartungen zu erfüllen?
    • Behauptet er, die Vergangenheit hätte anders sein müssen?
    • Schmeichelt er Ihrer Person?
    • Behauptet er, Sie müssten gehorsam sein?
    • Verführt er dazu, bloß flüchtige Vergnügen zu suchen?
    • Bringt er Argumente vor, warum Ihr Glück angeblich nicht möglich ist?
    • Oder verweist er auf die Möglichkeit, heute schon frei und damit glücklich zu sein?

Toxikologische Einordnung pathogener Vorstellungen

Gedanke GdT (Grad der Toxizität)
In der Vergangenheit ist etwas passiert, was meinem Glück im Wege steht.
Ich muss die Welt verändern, damit ich glücklich werden kann.
Das Glück hängt vor allem von äußeren Bedingungen ab.
Je mehr ich erleide, auf desto mehr Lohn kann ich hoffen.
Ich bin auf die Bestätigung anderer angewiesen.
Je mehr ich erreiche, desto besser geht es mir.

Jeder Gedanke, der Sie zu überzeugen versucht, dass das Glück von äußeren Umständen abhängt und nur auf komplizierten Wegen zu erreichen ist, führt in die Irre. Stellen Sie ihn. Nur was unmittelbar auf Ihr Glück verweist, ist wirklich wahr.