Die Bevorzugung des Denkens zum Nachteil der Wahrnehmung ist eine Quelle seelischer Krankheit.
Was uns bereits zu denken gibt, ist die Verwandtschaft zwischen denken und dünken. Beide gehen auf die indoeuropäische Wurzel teng- = denken, empfinden zurück. Dass das Denken mit der Empfindung verbunden ist, bringt neue Erkenntnis. Das Verb empfinden setzt sich aus ent- und finden zusammen. Ent- ist mit dem germanischen and[a] = entgegen, von etwas weg verwandt.
Wenn man der Wirklichkeit entgegentritt oder sie aus der Distanz betrachtet, findet man durch Empfindungen heraus, wie man sie erlebt. Danach weiß man, was man von der Welt zu halten und wie man über sie zu denken hat; zumindest, wenn das Herausgefundene Erkenntnisse bringt, die der Wirklichkeit entsprechen.
Da es oft misslingt, Empfundenes eins zu eins in Gedanken umzumünzen, schleichen sich ins Gedachte Fehler ein, sodass das Denken über die Wirklichkeit oft ein Dünken ist, also ein Meinen ohne Gewähr.
Fluch und Segen
Was uns vom Tier unterscheidet, ist die Fähigkeit zum komplexen Denken. Komplexes Denken kann Segen oder Fluch sein. Es ist Segen, weil es hilft, das Leben zu gestalten.
Komplexes Denken ist Fluch, wenn es krank macht. Es macht krank, wenn es dazu missbraucht wird, dem Erleben der Wirklichkeit auszuweichen.
Die sprachgeschichtliche Verwandtschaft von Denken und Empfindung belegt zugleich, dass Gedanke und Gefühl miteinander verzahnt sind.
Dieser Mechanismus ist ein wesentliches Einfallstor für den Missbrauch des Denkens für fragwürdige Zwecke. Vor allem bei der Formulierung weltanschaulicher Positionen werden Denk- und Verstandestätigkeiten missbraucht. Da werden die Dinge nicht so beurteilt, wie es ihnen objektiv zukommt, sondern so, wie es dem Urteilenden gefällt. Kaum je ist uns bewusst, wie sehr die Verknüpfung von Wohlgefühl und Urteil unser Denken und Meinen bestimmt.
Ebenso wenig ist uns bewusst, wie sehr unser Unbehagen durch Denkinhalte verursacht wird, die uns in die Irre führen. Das Wohlgefühl, das so mancher Gedanke oberflächlich verursachen mag, täuscht oft darüber hinweg, dass er in der Tiefe schadet.
Ein Synonym des Denkens ist das Überlegen. Sprachlich verwandt mit der Überlegung ist die Überlegenheit. Es ist zwar nicht so, dass der eine Begriff unmittelbar aus dem anderen hervorgegangen ist, die Sprache hat beide aber aus denselben Bausteinen - über und legen - zusammengesetzt. Das ist kein Zufall.
Ziel des Denkens ist Überlegenheit. Der Mensch denkt nach, weil er den Kräften der Wirklichkeit nicht wehrlos unterliegen will.
Das Bewusstsein kann verschiedene Inhalte haben: Wahrnehmungen und Vorstellungen. Das Wahrgenommene ist unmittelbar mit dem Hier-und-Jetzt verbunden. Es entspricht der Wirklichkeit, zumindest so weit es die Sinnesorgane erlauben, Strukturen des Wahrnehmbaren ins Bewusstsein zu übertragen und so weit das Bewusstsein in der Lage ist, Wirklichkeit als solche zu erleben.
Der Begriff Hier-und-Jetzt meint kein exakt physikalisches, sondern das Hier-und-Jetzt des Betrachters. Das Licht ferner Galaxien, das der Betrachter sieht, erreicht ihn physikalisch gesehen verzögert. Existenziell erlebt er es im Jetzt.
Wahrnehmungen erreichen das Bewusstsein simultan. Simultan geht auf Lateinisch simul = gleichzeitig zurück. Sobald man Wahrnehmbares beachtet, richtet man die Aufmerksamkeit auf die Ereigniskette, die in der absoluten Gegenwart abläuft.
Die absolute Gegenwart ist das Jetzt. Der Begriff Gegenwart wird auch im Sinne von zeitnah verwendet. Genau betrachtet ist ein begrenztes Zeitfenster um das Jetzt herum aber keine physikalische Gegenwart, sondern ein persönlich definierter Zeitraum, der einem Feld egozentrischer Themen entspricht. Was in dieser relativen Gegenwart geschieht, bezieht sich auf den Betrachter.
Das Bewusstsein kann Wirklichkeit aber nicht nur wahrnehmen. Es kann sie auch simulieren. Simulieren entstammt dem lateinischen similis = ähnlich. Die Bedeutungen des Verbs simulare verweisen auf wesentliche Eigenschaften jener Vorstellungen, die das Bewusstsein als Denkinhalte erzeugt. Simulare heißt:
Selbsttäuschung
Denkinhalte sind oft Simulanten. Sie täuschen eine Wirklichkeit vor, die nicht gegeben ist. Falsch! Denkinhalte sind keine Simulanten. Sie sind Entwürfe. Ein Simulant muss die Wahrheit kennen, damit er sie im nächsten Schritt vertuschen kann. Der Denkinhalt selbst weiß aber gar nichts. Richtig ist, dass der Denkende dazu neigt, gedanklichen Entwürfen vorschnell eine Gewissheit zuzuschreiben, die nicht gegeben ist. Nicht der Gedanke täuscht den Denker, sondern der Denker täuscht sich über die Verlässlichkeit der Gedanken. Er tut es, weil er Ungewissheit fürchtet und sich durch blindes Vertrauen ins bloß Simulierte in Sicherheit wiegen will.
Denken besteht aus szenischen Vorstellungen und logischen Verknüpfungen vordefinierter Begriffe, durch die das Bewusstsein Wirklichkeitsverläufe simuliert bzw. Strukturen der Wirklichkeit untersucht und bewertet. Dabei werden...
Sowohl das Wachrufen von Erinnerungen als auch die Vorwegnahme zukünftiger Abläufe und der Ersatz wahrnehmbarer Wirklichkeit durch phantasierte Bilder ist zweckgerichtet; ebenso die Analyse und Bewertung erkannter Strukturen. Verschiedene Zwecke sind auszumachen.
Zwecke des Denkens
Funktion | Zweck |
Wachrufen |
|
Vorwegnahme |
|
Analyse |
|
Bewertung |
|
Denkprozesse können vier Grundfunktionen zugeordnet werden:
Die Zwecke, die die eine oder die andere Funktion hat, sind teils identisch, teils unterscheiden sie sich. In der Regel laufen Grundfunktionen nicht isoliert voneinander ab. Sie ergänzen sich. Je mehr sie sich voneinander unterscheiden, desto sinnvoller scheinen sie zu sein. Je mehr sie sich ähneln, desto fragwürdiger werden sie.
Der dümmste Bauer...
findet die dicksten Kartoffeln. Der dumme Bauer legt die Saatkartoffel in den Boden. Er vertraut auf Sonne, Regen und Erde. Die werden es schon richten. Der schlaue Bauer will mehr als eine Durchschnittsernte. Er denkt solange darüber nach, ob der Ertrag von Paprika nicht höher als der von Kartoffeln sein könnte, bis er die beste Zeit zur Aussaat beider verpasst.Ursprüngliches Ziel des Wachrufens von Erinnerungen ist die Analyse vergangener Ereignisse. Erfahrungen sind Voraussetzung für ein erfolgreiches Leben. Erfahrungen sind aber nur dann nützlich, wenn ihnen eine Lehre entspringt. Die Lehre, die man Erfahrungen entnimmt, liegt in regelhaften Kausalverbindungen, die die Struktur von Ereignisketten bestimmen. Untersucht man vergangene Erlebnisse, hält man Ausschau nach Zusammenhängen zwischen Ursache und Wirkung. Ursachen lassen sich zwei Gruppen zuteilen:
Ursachen, auf die man keinen Einfluss hat, die aber Folgen nach sich ziehen.
Falls man zum Spaziergang aufbricht, wenn sich Wolken türmen, ist die Gefahr groß, dass man nass wird.
Heute war die Safran-Sahne-Soße lecker. Wie habe ich das noch mal gemacht?
Nachdem ich dem Patienten Doxepin verschrieben habe, wurde seine Stimmung besser.
Der Nutzen dieser Denkfunktion ist offensichtlich: Je besser man die Regeln der Wirklichkeit als Auszug von Erfahrungen erkennt, desto bessere Entscheidungen kann man künftig treffen.
Ruft man Erinnerungen als Ersatz, zum Zwecke der Umdeutung oder zur Erzeugung manipulativer Affekte wach, wird der Nutzen vom Schaden überlagert, der derartige Zwecke begleitet.
Ersatz
Gewiss: Erinnerungen als Ersatz für aktuelles Erleben müssen keine schlimmen Folgen haben. Je älter man wird, desto mehr Erinnerungen hat man. Gleichzeitig schrumpft die Möglichkeit, Neues zu erleben. Nicht umsonst sagt man über Greise: Sie leben in ihren Erinnerungen.
Endet die große Liebe eines jungen Menschen enttäuschend, ist es jedoch folgenschwer, wenn er an der Schwelle zum Alleinsein nicht weitergeht, sondern sich mit bittersüßen Erinnerungen tröstet. Statt neue Erfahrungen zu machen, klammert er sich an alte. Wenn er das zu lange tut, wird er es später bereuen.
Umdeutung
Viele Ereignisse, die uns betrafen, hielten schmerzliche Erkenntnisse bereit. Oft reagieren wir darauf mit Gefühlen, auf die man lieber verzichten würde. Statt diese Gefühle zu durchleben, rufen wir im Geist die betreffende Episode wach und deuten sie mit der Absicht um, unliebsame Erkenntnisse und Gefühle aus der Welt zu schaffen.
Beim Bogenschießen war Ulrike besser als ich. Drei Möglichkeiten habe ich, damit umzugehen:
- Die Dinge sind, wie sie sind. Es ist in Ordnung.
- Ich schäme mich für meine Unterlegenheit, da ich sie nicht hinnehmen will. Ich durchlebe das Schamgefühl.
- Ich will weder meine Unterlegenheit noch mein Schamgefühl anerkennen. Ich deute die Dinge um. Eigentlich habe ich ja nur schlechter geschossen, weil ich durch Ralfs Geschwätz abgelenkt war.
Durch Umdeutungen manipulieren wir unser Selbstbild. Statt Wahrnehmungen ungehindert einwirken zu lassen, deuten wir sie um; denn wir fürchten die Auswirkungen ihres Wahrheitsgehalts. Umdeutungen sind fragwürdig, da sie uns von der Wirklichkeit entfernen. Das wird uns in Zukunft schaden.
Erzeugung von Affekten zur Selbstmanipulation
Dass Ulrike besser schießt als ich, erscheint mir unerträglich. Ich rufe die Erinnerung an mein Scheitern immer wieder wach; jedoch nicht, um die Erkenntnis aufzunehmen, die ihr entspringt, sondern um mich durch Erzeugung von Scham- und Wutgefühlen zu mehr Leistung anzustacheln.
Die Erzeugung überschüssiger Affekte kann zum Erfolg im Leben beitragen. Wenn ich mich durch Affekte zum Training zwinge, werde ich womöglich Schützenkönig. Tatsächlich ginge es mir dann aber nicht um die Kunst des Bogenschießens. Es ginge um die Bestätigung, die ich damit erreiche. Das kann eine Vergeudung von Ressourcen sein.
Das Denken benutzt zwei Werkzeuge:
Erinnerungsbilder sind Lichtpausen dessen, was geschehen ist.
Vorstellungsbilder sind Modelle dessen, was ist oder werden könnte.
Gedankliche Bilder sind nicht die Wirklichkeit selbst. Sie sind Darstellungen dessen, wofür man die Wirklichkeit hält.
Begriffe sind Symbole, die für Elemente der Wirklichkeit stehen. In der Regel vereinfachen sie stark. Tisch ist ein Wort für tausend verschiedene Dinge, groß ein Begriff, der zugleich Flöhe und Galaxien beschreibt.
Beim Denken werden Bilder, die die Wirklichkeit nur modellhaft beschreiben, mit Begriffen kommentiert, deren jeweilige Unschärfe sich in der Kombination zu gedachten Sätzen multipliziert.
Eine wichtige Funktion des Denkens ist die Vorbereitung zukünftiger Handlungen. Dazu können geplante Abläufe simuliert, durch die Simulation auf Anwendbarkeit hin überprüft und einstudiert werden. Durch die gedankliche Vorwegnahme eines erfreulichen Ausgangs wird zudem der Antrieb bereitgestellt, sich den Gefahren zu stellen, die jede Tat zu gewärtigen hat.
Wenn Ravissa morgen die Uni verlässt, werde ich sie am Trevi-Brunnen abfangen. Dann knie ich vor ihr nieder und sage: Ravissa, der Himmel hat mir die Liebe ins Herz und die Leidenschaft in die Lenden gepflanzt. Deshalb nimmt unser Schicksal seinen Lauf. Wir werden eine Schar glücklicher Sprösslinge zeugen, deren liebliche Leiber Michelangelo als Modell für die Figuren dieses Brunnens wählen wird.
Eine weitere Funktion vorwegnehmenden Denkens ist die Analyse komplexer Probleme. Man kann zur Behebung eines Problems irgendetwas ausprobieren. Das trifft oft daneben und man braucht weitere Versuche. Schneller geht es, wenn man die Struktur des Problems begreift und gedanklich eine Lösung sucht.
Katharina soll angeben, wie viel Meter das Spannseil der Akihiro-Kishigata-Hängebrücke 400 Meter vom ersten Stützpfeiler entfernt über der Fahrbahn hängt. Wie gut, wenn sie nicht ins Blaue hinein eine Zahl errät. Wie gut, wenn sie sich durch gedankliche Vorwegnahme der Berechnung von f(x) = ax² + bx + c die richtige Antwort beschafft. Heute unterrichtet Katharina Mathematik und Sport in der Oberstufe.
Vorwegnehmendes Denken geht nicht immer Wege, die gezieltes Handeln vorbereiten. Auch die Vorwegnahme kann als Ersatz dienen, zu Zwecken der Selbstmanipulation oder als Maßnahme zum Kitten eines irrigen Selbstbilds.
Ersatz zur Ablenkung von einer unangenehmen Gegenwart
Als Tagtraum kann vorwegnehmendes Denken das unmittelbare Erleben der Gegenwart überlagern. Statt sich mit Prüfungsvorbereitungen für die Matheklausur zu plagen, ist es schöner, sich vorzustellen, wie man danach Ravissa am Trevi-Brunnen abfängt und mit ihr den Tempel der Lüste betritt. Derlei Phantasien sind verbreitet. Verhindern sie Handlung nicht, mögen sie harmlos sein. Oft gerät der Tagtraum aber zum Ersatz. Benutzt man genüssliche Phantasien im Überfluss, verpatzt man die Matheklausur. Man ist notwendigen Mühen der Gegenwart durch den geistigen Sprung in eine vorgestellte Zukunft aus dem Wege gegangen.
Von der Ablenkung zum Hemmschuh
Wenn sich phantasierter Befriedigung reale Angst vor Ravissas Ablehnung beimischt, besteht Gefahr, dass man echtes Erleben vermeidet und es bei der Phantasie beruhen lässt. Dann verfehlt derart vorwegnehmendes Denken das eigentliche Ziel sogar ganz. Man scheitert auch an der Prüfung zum Troubadour, der für seine Leidenschaft geradesteht.
Fange ich Ravissa am Brunnen tatsächlich ab, könnte ihre Antwort sein: Mein lieber Heinrich, das Schicksal geht seltsame Wege. Meines wird in die Arme Michelangelos führen und das Deine in Kummer und Gram.
Die Aussicht auf solcherlei Antwort kann dazu führen, dass man die Vorwegnahme niemals durch Taten ersetzt; sodass es beim bloßen Ersatz bleibt.
Ersatz zur Pflege des Selbstbilds
Zum Selbstbild gehören Fähigkeiten, die man sich als Vermögen zurechnet oder die man zu erreichen wünscht. Der beste Weg wird sein, entsprechende Fähigkeiten anzuwenden oder sich um sie zu bemühen. Beides kann durch gedankliche Konstrukte gefördert werden. Gedankliche Konstrukte können es aber ebenso gut verhindern.
Silvia ist überzeugt, künstlerisch begabt zu sein. Sie stellt sich vor, wie sie die Presse zur Vernissage empfängt. Beflügelt von der verlockenden Phantasie opfert sie jede freie Minute, um ihre Begabung in Fähigkeiten umzuwandeln. Mit jedem Bild, das sie malt, steigt die Chance, dass sich ihre Phantasie verwirklicht.
Mechthild ist ebenfalls überzeugt, künstlerisch begabt zu sein. Sie ist mächtig stolz darauf. Statt aber mit Farbe und Pinsel zu malen, malt sie sich nach einer phantasierten Vernissage in Gedanken als Nächstes aus, wie sie in Hongkong eine Modefirma gründet, deren Herbstkollektion in aller Munde ist.
Während Silvias Phantasien zu Handlungen führen, sind Mechthilds ein Ersatz dafür. Durch vorgestellte Taten und Erfolge vertreibt sie Zweifel an sich selbst.
Erzeugung von Affekten zur Selbstmanipulation
Wie die Erinnerung vergangener so kann auch die Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse Emotionen wachrufen, deren Funktion darin besteht, sich selbst zu beeinflussen.
Lars tritt bald eine neue Stelle an. Er stellt sich vor, wie ihn die Kollegen kühl empfangen. Schon im Elternhaus hatte er sich nicht willkommen gefühlt. Durch den Gedanken an den unfreundlichen Empfang steigert er sich in Rage. Unfassbar, wie unverschämt diese Leute sind! Die werden mich noch kennenlernen. Dank seiner Wut spürt Lars keine Furcht mehr. Die Selbstmanipulation zum Verdecken der Ängste ist gelungen. Wenn er aber streitlustig in die erste Begegnung mit den Kollegen geht, steigt die Gefahr, dass er kühl empfangen wird.
Neben der Wahrnehmung ist die analytische Untersuchung der wahrgenommenen Inhalte auf Zusammenhänge und Widersprüche ein zweiter Grundpfeiler der Erkenntnis.
Wenn das Alter der Schädeldecke aus dem Neandertal auf 30000 Jahre datiert wurde, kann der Neandertaler kein Vorfahre des Zebrafischs sein.
Eine solche Anwendung des analytischen Denkens wird man als sinnvoll deuten. Wenn ich aber vor dem entscheidenden Schritt, der Träume verwirklichen kann, zu lange Ravissas Gewohnheiten analysiere, darüber nachdenke, welches der günstigste Moment zum begehrlichen Bekenntnis und die allerklügsten Worte dafür wären, kann es sein, dass ich den tatsächlich günstigen Augenblick verpasse... und dieser dreimal verfluchte Sausack von Michelangelo mit Ravissa von dannen zieht.
Mein Psychotherapeut würde dann denken: Zu den typischen Abwehrmechanismen des Patienten gehören Rationalisierung und Intellektualisierung hinter denen vermutlich ängstlich-vermeidende oder schizoide Persönlichkeitsanteile wirksam sind.
Viele Denkprozesse enden mit einem Urteil. Zum einen ist das ein wesentliches Ziel, zum anderen ein Risiko. Zum einen ist das Urteil eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit der Wirklichkeit. Es steht am Übergang von der Analyse zum konkreten Handeln.
Wenn der Neandertaler kein Vorfahr des Zebrafischs ist, werde ich dessen Ursprung woanders suchen.
Zum anderen sperrt das Urteil Denkprozesse in einen Käfig. Falls das Urteil die Wirklichkeit verfehlt, kann es ins Desaster führen.
Neulich hat Ravissa Michelangelo schöne Augen gemacht. Sie mag mich nicht. Mein Leben ist verpfuscht, die Welt mein Feind, der Tod meine Rache und mein Retter. Beim Sturz vom Trevibrunnen breche ich mir das Genick. Tränenüberströmt seufzt Bettina an meinem Grab: Wieso hat dieser Dummkopf nicht erkannt, dass er mit mir sowieso viel glücklicher geworden wäre?
Die Gedanken sind frei. Das ist ihr Potenzial. Im Potenzial liegt zugleich das Risiko, dass man mit den Gedanken in die Irre geht.>
Chancen der Freiheit
Die Freiheit des Denkens hat aus Affen Menschen gemacht. Nicht, dass Affen nicht ebenfalls dächten. Sie tun es. Aber nicht so viel, als dass aus ihnen bereits Menschen geworden sind.
Dank des Denkens kann der Mensch das Hier-und-Jetzt verlassen. Dazu schafft er sich eine virtuelle Eigenwelt, die aus Bildern und Begriffen besteht. In dieser Eigenwelt kombiniert er das Inventar zu immer neuen Varianten und berechnet die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Tat erfolgreich sein wird. Wir wissen, dass uns das Denken unfassbare Erfolge ermöglicht hat.
Während sich auf der einen Seite Erfolge türmen, herrscht auf der anderen Verwirrung. Der Genuss der Erfolge wird zum Teil durch Nebenwirkungen zunichtegemacht. Wahrscheinlich sind die meisten Menschen heute unglücklicher als früher die Affen im Wald.
Ursachen der Verwirrung
Auch die Verwirrung ist eine Folge des Denkens. Neben dem Missbrauch des Denkens zu fragwürdigen Zwecken, hat sie vier weitere Ursachen:
Die Möglichkeiten der ausgedachten Eigenwelt fesseln den Menschen so, dass er fast nur noch auf deren Inhalte achtet. Er verwechselt die Eigenwelt in seinem Kopf mit der Wirklichkeit, die er als Folge missachtet.
Während wir für faktische Taten von der Wirklichkeit Antworten bekommen, die uns auf den Boden der Tatsachen holen, können wir im Geist alles Mögliche tun, ohne dass es unmittelbar Konsequenzen hat. Im Kopf kann man sich scheinbar ungestraft soweit von der Realität entfernen, dass man den Weg zurück womöglich nicht mehr findet.
Das Denken folgt nicht nur der Willkür. Es folgt auch Assoziationen. Assoziationen führen Gedanken schnell von hier nach dort. Man wundert sich, warum man im Supermarkt an Kängurus denkt, obwohl man Erbsen kaufen wollte.
Wussten Sie, dass der Johannisbrotbaum zuckerreiche Schoten ausbildet und 1850 erstmals von Emigranten aus dem Mittelmeerraum in Australien angepflanzt wurde?
Das Denken folgt nicht nur der Willkür und Assoziationen. Es folgt auch den Zufällen und Beschränkungen des begrifflichen Inventars, das die kulturelle Prägung und persönliche Erlebnisse im Gedächtnis hinterlassen haben. Während in der Wirklichkeit alles vorkommt, was es gibt, besteht die virtuelle Eigenwelt im Kopf des Denkers nur aus einer begrenzten Zahl von Stücken.
Fast alle psychiatrischen Symptome gehen mit gedanklichen Verirrungen einher. Mehr noch: Sie werden durch Fehlanwendungen des Denkens verursacht oder verstärkt. Krankmachende Gedanken treten selten einzeln auf. Sie verzahnen sich zu komplexen Vorstellungen: zu Welt- und Selbstbildern.
Dank des Weltbilds kann das Kind neue Erfahrungen bekannten Schubladen zuordnen. Es erwirbt eine Schablone, die ihm Orientierung gibt. Mit Hilfe der Schablone werden Entscheidungsprozesse automatisiert. Meist laufen sie unbewusst ab.
Welt- und Selbstbilder sind gedankliche Simulationen. Wir erinnern uns: Simulare heißt ähnlich machen, nachbilden, den Anschein erwecken, etwas vortäuschen. Simulationen ähneln der Wirklichkeit, aber entsprechen ihr nicht. Sie bilden nach, und verpassen zugleich ganze Dimensionen der Realität. Sie erwecken den Anschein der Echtheit und sind doch erfunden. Kurzum: Sie täuschen eine Welt vor, durch die die Wirklichkeit verschleiert wird.
Falls Sie sich für Werner Wellershagen aus Bad Oldeslohe halten, halten Sie sich für eines von Milliarden Partikeln, das aus Angst vor der Bedeutungslosigkeit seine Bedeutung überschätzt. Halten Sie sich für einen Ausdruck des Abgrunds! Dann hat die eigene Bedeutung keine Bedeutung mehr für Sie. Sie erkennen sich als das, was Bedeutung vergibt, aber keine mehr braucht.
Die größte Gefahr des Welt- und Selbstbilds liegt nicht darin, dass sie die Wirklichkeit verzerrt darstellen; und so zu Fehlentscheidungen führen. Die größte Gefahr liegt in der Identifikation des Ichs mit dem Bild, das es von sich hat. Identifiziert man sich mit dem Selbstbild, setzt man sich mit seiner Person gleich und wird von deren Begrenzung und Dynamik eingefangen.
Zur Dynamik der Person gehört die Überzeugung, als abgetrennte Einheit dem Rest der Welt gegenüberzustehen. Dem entspricht die Furcht, vom Rest der Welt überwältigt zu werden. Der Furcht entspringt ein Drang nach Sicherheit. In der Folge richtet die Person große Teile ihrer Kraft darauf aus, sich abzusichern. Da das Identitätsgefühl der Person aber nicht im Selbst, sondern im Selbstbild verankert ist, bemüht sie sich nicht um das Wohl ihrer selbst. Sie kämpft um den Bestand ihres Bildes; des Bildes, das sie von sich selbst hat, aber auch jenes Bildes, das von ihr in den Köpfen anderer erscheint. Resultat sind klassische psychiatrische Symptome: Angst, Depression, Zwang und Wahn.
Alle Angst entspringt der Vermutung, dass zukünftige Ereignisse schädlich sein könnten.
Ein Großteil der Ängste, mit denen sich die Menschheit plagt, entspricht keiner realen Gefahr. Sie sind das Werk eines Denkens, das die Wirklichkeit wie ein Radar hinter Barrikaden nach bedrohlichen Indizien absucht; und vorsichtshalber übertreibt. So führt Angst zum Denken und denken zu neuer Angst. Aus Angst vor der Bedrohung hält sich der Geist an Gedanken fest, die Ängste schüren, indem sie Bedrohungen wittern, wo keine sind.
Statt das Leben anzunehmen, wie es ist, und sich in den Ereignissen selbst zu erkennen, kämpft das Ego um den Bestand einer Person, die am besten gegen die erdachten Gefahren gewappnet erscheint. Alles, was den Wert und die Bedeutung dieser Person infrage stellt, wird durch gedankliche Konstrukte abgewehrt. Resultat des Abwehrkampfes ist die Angst, im Kampf zu unterliegen.
Depression (lateinisch deprimere = niederdrücken) benennt ein Niedergedrücktsein autonomer und expansiver Impulse. Sofern Depressionen nicht durch Stoffwechselstörungen bedingt sind, werden die Impulse durch psychologische Mechanismen niedergedrückt, durch die das Ego seine Position abzusichern versucht.
Geht das Ego davon aus, dass die Wahrnehmung der gefürchteten Impulse zu Konsequenzen führen könnte, die es bedrohen oder das Bild infrage stellen, das es von sich selber hat und anderen vermitteln will, sabotiert es ihren Ausdruck durch Verleugnung und Verdrängung.
Eigentlich ist Holger verärgert, dass ihn Reinholt ständig verspottet. Er denkt jedoch, dass er auf Reinholts Freundschaft angewiesen ist und sich eine Abgrenzung nicht leisten kann. Daher schluckt er seinen Ärger. Mit der Zeit befällt ihn eine Schwermut, die er sich nicht erklären kann.
Die ständigen Vorwürfe und Forderungen seiner Schwester schlagen Johannes mächtig aufs Gemüt. Er glaubt aber, dem Wohl seiner Schwester verpflichtet zu sein... und setzt ihr daher keine klare Grenze.
Zwangssymptome bestehen immer aus Denkakten. Entweder sind sie auf Denkakte beschränkt oder als Ausdruck des Denkaktes kommt es zu Zwangshandlungen. Zwangshandlungen sind stets von Denkinhalten abhängig.
Ursprung von Jakobs Zwang ist die Ahnung seines Ego, dass es nirgends sicher ist. Es flüchtet in die Illusion, dass es durch die Vermeidung "falscher" Schritte mehr Sicherheit schafft.
Albert geht zurück um die Handbremse zu kontrollieren, weil er fürchtet, dass er den Gedanken an das Restrisiko sonst nicht mehr aus dem Kopf bekommt.
Wahn ist verirrtes Denken in Reinkultur. Ausgangspunkt wahnhafter Entwicklungen sind Wahrheiten, die das Ego nicht akzeptieren will.
Marian hatte als junger Mann hochfliegende Pläne. Statt dass er sich tatkräftig um ihre Verwirklichung bemühte, verließ er sich auf die Kraft der Vorsehung und führte ein Leben des Müßiggangs. Heute könnte er sich seine Irrtümer eingestehen. Stattdessen hat er sich auf die Überzeugung versteift, dass ihm boshafte Nachbarn und Neider von je her Knüppel zwischen die Beine warfen.
Wenn Raimund zur Kenntnis nähme, wie bedeutungslos er sich fühlt, würde er darunter bitter leiden. Zum Trost hat er sich eine Theorie zurechtgelegt. Tatsächlich ist er kein Irgendwer, den niemand zur Kenntnis nimmt, sondern ein Beauftragter Gottes, mit dem sich die Tagesschau durch vielsagende Andeutungen befasst.
Statt dass er die Wirklichkeit annimmt, ersetzt sie der Wahnkranke durch gedankliche Konstrukte, die die Bedeutung seiner Person teils absurd überhöhen.
Viele psychische Erkrankungen werden von Stimmungsschwankungen begleitet. Bei der Bipolaren Störung und dem Borderline-Syndrom gehören sie zur Kernsymptomatik. Oft zeigen Stimmungsschwankungen an, dass die Aufmerksamkeit des Kranken einseitig auf Denkinhalte ausgerichtet ist.
Während sich die Wirklichkeit, der man begegnet, meist nur langsam ändert und emotionale Reaktionen, die sich darauf beziehen, daher eher träge schwingen, sind Denkinhalte in der Lage, assoziativ von einem Thema zum nächsten zu springen.
Kettenreaktionen
Assoziativ geht auf Lateinisch associare = vereinigen, vernetzen zurück. Über grün sind Tannenbäume, Ampeln, Frösche, Teenager, Kupfer, Oasen und die italienischen Liebesgeschichten vom dtv-Verlag gedanklich miteinander verknüpft. Wer die Liebesgeschichten liest, könnte assoziativ an die Dächer der St. Pauli-Landungsbrücken denken.Emotional reagiert die Psyche ebenso heftig auf Vorstellungsbilder wie auf die Wirklichkeit selbst. Wer sich hauptsächlich mit seinem Denken beschäftigt und die Wahrnehmung des Gegenwärtigen aus den Augen verliert, droht emotional mit rasch wechselnden Denkinhalten mitzuschwingen. Hatte er eben noch ein Vorstellungsbild im Kopf, dem er positiv gegenüberstand, führen ihn assoziative Verkettungen seines Denkens im Nu zu einem Thema, das negativ behaftet ist. So kann seine Stimmung rasch zwischen Extremen schwanken.
Die Psychiatrie als medizinische Wissenschaft beschäftigt sich zunächst nicht mit der individuellen Suche nach Wahrheit, Sinn oder gar dem eigenen Selbst. Sie stellt Abweichungen fest und versucht, abweichendes Erleben und Verhalten zu normalisieren. Ihr Ansatz folgt dabei der Erkenntnis, dass Normalität in der Regel nur so viel Leid verursacht, dass es im Rahmen bleibt. Es wundert daher nicht, dass der rein psychiatrische Blick auf Denken und Fühlen vergleicht und Normabweichungen beschreibt. Resultat ist eine Liste störender Symptome, die therapeutische Überlegungen veranlassen.
Beziehen sich die Störungen auf Gefühle und Stimmungen, spricht man von affektiven Störungen. Beziehen sie sich auf das Gedächtnis, heißen sie mnestische Störungen. Eine dritte Kategorie bilden die kognitiven Störungen. Diese können ihrerseits in zwei Kategorien eingeteilt werden:
Obwohl es im klinischen Alltag oft schwerfällt, beide Kategorien voneinander zu unterscheiden, macht die Unterscheidung Sinn. Während der Verstand den Sinngehalt erkennbarer Strukturen erfasst, ist das Denken eine Symbolisierungsfunktion des Geistes. Mit Hilfe des Denkens werden erkannte Strukturen oder gewusste Zusammenhänge und Fakten dergestalt in Worte und Sätze gefasst, dass das Wissen einer anderen Person mitgeteilt bzw. vor dem eigenen geistigen Auge repräsentiert werden kann.
Kognitive Störungen
Störungen des Denkens | Störungen des Verstandes | |
Formale Denkstörungen | Inhaltliche Denkstörungen | |
|
|
|
Kritik: von griechisch krinein (κρινειν) = scheiden, trennen, voneinander unterscheiden
Psychiatrische Denkstörungen können in zwei Kategorien eingeteilt werden: inhaltliche und formale Denkstörungen.
Zu den inhaltlichen Denkstörungen wird meist nur der Wahn gezählt. Dabei wird Wahn als realitätswidriger Denkinhalt aufgefasst, der mehr ist als nur Mangel. Wahn ist kein Irrtum, also nicht Folge eines Defizits an korrekter Erkenntnis. Er hat vielmehr eine Funktion im Krankheitsgeschehen, was dazu führt, dass er nicht - wie ein Irrtum - durch Aufklärung über den korrekten Sachverhalt aufgelöst werden kann. Der krankhafte Inhalt widersteht dem Versuch, ihn durch Aufzeigen der Wirklichkeit zu ändern.
Neben dem bloßen Wahn gibt es weitere Störungen des Denkens, die man kaum als bloß formal betrachten kann; denn die Form der gedachten Gedanken entspricht vollständig dem, was man als einen normalen Gedankengang bezeichnen würde.
Bei der Gedankenausbreitung wähnt der Kranke, dass andere seine Gedanken wissen, selbst dann, wenn er sie verschweigt.
Beim Gedankenentzug wähnt der Kranke, dass andere ihm Gedanken entziehen, sodass der gedankliche Prozess in seinem Kopf durch Fremdeinwirkung abreißt.
Bei der Gedankeneingebung geht der Kranke davon aus, dass seine Gedanken nicht Produkte seiner selbst sind, sondern von anderen gemacht. Er glaubt, seine Gedanken würden ihm von außen eingeflößt und ihr Fortgang werde von außen gesteuert.
Die Wahl des Verbs wähnen zur Beschreibung der genannten Phänomene begründet, warum sie hier den inhaltlichen Denkstörungen zugeordnet sind. Der Kranke hat bezüglich eines formal unauffälligen Gedankengangs realitätswidrige Vorstellung über den Ursprung oder den Kontext, in dem der Gedanke steht. Der Gedanke mag sich merkwürdig anfühlen, die Qualität des Gefühls, das den Gedanken begleitet, wird inhaltlich fehlerhaft interpretiert. Dabei gilt auch hier: Das wahnhafte Erleben des Kranken, dass jemand seine Gedanken liest, endet nicht durch den Hinweis darauf, dass das nicht stimmt. Der Kranke irrt sich nicht. Er wähnt.
Formale Denkstörungen zeichnen sich durch vom Normalen abweichende Gestaltungen der gedanklichen Symbolisierung aus.
Bei der Ideenflucht ist das Denken beschleunigt. Dabei kann es zu gelockerter Assoziation kommen, sodass es sprunghaft wird.
Inkohärenz, also Denkzerfahrenheit kann durch extreme Denkbeschleunigung mit stark gelockerter Assoziation zustande kommen. Oder aber, der Kranke weist Wörtern derart symbolhafte oder atypisch-mitschwingende Bedeutungen zu, dass ein anderer nichts mehr versteht.
Abstraktion ≠ Zerfahrenheit
Zerfahrenheit ist keine Abstraktion. Abstraktion hebt verborgene Regeln heraus und macht sie deutlich. Zerfahrenheit übergeht Regeln und verbirgt.Beim gehemmten Denken kommt das Denken nicht voran, weil sein Fortgang durch Widerstände behindert wird. Das können wahnhafte Ängste sein, oder ein zwanghaftes Ringen um die 100% richtige Beschreibung eines Sachverhalts.
Denkverlangsamung kann Folge von Depressionen, Müdigkeit oder Intoxikationen sein.
Weitschweifigkeit kann für den Zuhörer zwar Plage sein, oft ist aber kaum zu entscheiden, ob man sie als eigenständige Pathologie des Denkens bewertet oder als individuellen Kommunikationsstil, der den Zuhörer bloß langweilt. Entscheidet man sich dazu, sie als krankhaftes Defizit zu bezeichnen, vermutet man ein Unvermögen des Kranken, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, oder ein krankhaftes Bedürfnis zur Übergenauigkeit.
Gedankensperrung und Gedankenabreißen sind ähnlich. In beiden Fällen bricht der Gedankengang mittendrin ab; bei der Sperrung mit dem Gefühl, nicht mehr denken zu dürfen oder nicht mehr denken zu wollen, beim Gedankenabreißen mit dem Gefühl, nicht mehr denken zu können. Deutet der Kranke ein Gedankenabreißen als Gedankenentzug, kommt zur formalen Störung eine inhaltliche hinzu.
Bei der Perseveration (lateinisch perseverare = ausharren, beharren) bleibt der Denker bei einem Gedanken stehen und greift ihn immer wieder auf; obwohl er schon x-fach gedacht und mitgeteilt wurde. Solches Gedankenkreisen kann im Rahmen besorgten Grübelns oder im Rahmen zwanghaften Denkens auftreten. Beim perseverierenden Kommunikationsstil mag die Befürchtung bestehen, vom anderen nicht verstanden worden zu sein; oder ein psychologisch begründetes Unvermögen, zu schweigen. Vielen fällt nur wenig ein. Also sagen sie es immer wieder.
In der Regel wird das sogenannte Vorbeireden (=Tangentialität) als formale Denkstörung aufgefasst. Dabei antwortet der Kranke auf eine Frage ausweichend oder unscharf. Oft mag ein Vorbeireden aber keineswegs Denkstörung sein, sondern dem Versuch dienen, sich verdeckt zu halten.
Störungen des Verstandes sind oft strukturell; entweder im Sinne eines angeborenen Intelligenzdefizits oder im Sinne einer demenziellen Entwicklung, also eines erworbenen Intelligenzdefizits.
Denken und Verstand
Im Prinzip ist Verstand nicht auf das Denken angewiesen. Der Hund versteht die Signale des Frauchens und wahrscheinlich sogar, in welcher Stimmung sie ist. Er symbolisiert sich sein Wissen aber nicht gedanklich. Er denkt nicht: Oha! Das Frauchen ist missmutig. Da sollte ich besser artig sein.
Bei der erworbenen Verstandesstörung ist es nicht so, dass der Kranke Gewusstes bloß nicht mehr in geordnete Gedankengänge fassen und mitteilen kann. Vielmehr verblasst das Wissen selbst. Die Fähigkeit, differenzierte Vorstellungen zu entwickeln und zu vergleichen, sich an einst bekannte Sachverhalte zu erinnern und logische Schlussfolgerungen zu ziehen, lässt nach.
In der Folge können daraus unlogische, differenzierungsarme und inhaltlich falsche Gedanken entstehen, aber nicht weil primär die gedankliche Symbolisierungsfunktion beeinträchtigt ist, sondern weil dem Kranken das Wissen fehlt, das überhaupt in richtige Gedankenketten symbolisiert werden könnte.
Kaum etwas verursacht mehr überflüssiges Leid als irreführende Gedanken. Gedanken ziehen Gefühle nach sich. Sie stiften dazu an, etwas zu tun.
Handelt man unter dem Einfluss irreführender Gedanken, landet man genau dort, wohin solche Gedanken führen: in der Irre. Das Glück liegt jedoch niemals in der Irre. Das Glück liegt im Herzen der Wahrheit.
Um sich dem Einfluss pathogener Gedanken zu entziehen, bedarf es großer Wachsamkeit. Auch gegenüber vermeintlich eigenen Gedanken ist Misstrauen angebracht. Für das Selbst sind viele Gedanken giftig. Sie stammen aus dem begrenzten Horizont der Person. Sie bewirken, dass sich die Person auf Kosten ihres Glücks wichtigmacht. Pathogene Gedanken vertauschen Glück und Bedeutung.
Mit Ideen ist es ähnlich. Es mag sein, dass man eine bestimmte Idee hört oder liest und dann meint, man kenne ihre Quelle. Das ist aber nur halb wahr. Denn woher stammte die Idee im Kopf dessen, von dem man sie übernahm?
Das größte Übel vieler Ideen ist aber nicht das Geheimnis ihres Ursprungs und des Motivs, das ihnen zum Dasein verhalf. Das größte Übel ist ihr Mangel an echter Genießbarkeit. Viele wirken auf den ersten Blick so harmlos wie der Hallimasch oder so hübsch wie der Wiesenchampignon. Tatsächlich enthalten sie Gift; oft eins, das so langsam wirkt, dass man übersieht, welcher Pilz für das Übel verantwortlich ist. Es sei denn, man wird zum Ideenerkenner.
Viele Vorstellungen sind Sperren des Bewusstseins. Sie verstellen den Blick auf die Wirklichkeit. Sie haben nur solange Bestand, wie es ihnen gelingt, die Wahrheit zu verdecken. Sie benutzen das Bewusstsein als Wirt für ihre falsche Existenz. Manche sind so programmiert, dass sie sich in Köpfen verbreiten wie Viren im Netz.
Drei Schritte genügen, um sich vor der schädlichen Wirkung pathogener Gedanken zu schützen.
Drei Schritte in die Freiheit
1.
Identifikation des Gedankens
2.
Des-Identifikation vom Gedanken
3.
Urteil über den Gedanken
Sorgen Sie dafür, dass Sie über jedem Gedanken stehen, statt unter seinem Einfluss.
Identifizieren Sie Ideen, die Ihr Verhalten bestimmen.
Betrachten Sie Ideen, Gedanken, Vorstellungen und Meinungen nicht als die Ihren, bloß weil sie in Ihrem Bewusstsein auffindbar sind. Meinung kommt nicht von mein. Der Begriff hat mit wünschen und wähnen zu tun. Sobald man Das ist mein Gedanke sagt, glaubt man, dessen Besitzer zu sein. Tatsächlich ist ein Gedanke unbesitzbar. Jeder kann ihn übernehmen. Glaubt man jedoch ein Gedanke sei mein, knüpft man zu ihm eine Verbindung, die einen kritischen Abstand verhindert. Tatsächlich besitzt niemand Gedanken. Man wird vielmehr von jedem Gedanken besessen, den man für einen eigenen hält. Daher: Das ist ein Gedanke, aber nicht meiner. Ich kann ihm bewusst zu Wirkung verhelfen, indem ich Kraft an ihn verleihe. Trotzdem ist er mir niemals so nah, als dass ich der Vermutung verfalle, er sei ein Teil von mir.
Beurteilen Sie den Gedanken:
Toxikologische Einordnung pathogener Vorstellungen
Gedanke | GdT (Grad der Toxizität) |
In der Vergangenheit ist etwas passiert, was meinem Glück im Wege steht. | |
Ich muss die Welt verändern, damit ich glücklich werden kann. | |
Das Glück hängt vor allem von äußeren Bedingungen ab. | |
Je mehr ich erleide, auf desto mehr Lohn kann ich hoffen. | |
Ich bin auf die Bestätigung anderer angewiesen. | |
Je mehr ich erreiche, desto besser geht es mir. |
Jeder Gedanke, der Sie zu überzeugen versucht, dass das Glück von äußeren Umständen abhängt und nur auf komplizierten Wegen zu erreichen ist, führt in die Irre. Stellen Sie ihn. Nur was unmittelbar auf Ihr Glück verweist, ist wirklich wahr.