Urteil


  1. Begriffe
  2. Funktionen der Urteilsbildung
  3. Existenzielle Grundlage der Urteilung
  4. Vorurteil und psychische Krankheit
  5. Urteil und Selbsterfahrung

Zwei Muster

  1. Bestehendes beurteilen
  2. Bestehendes erkennen und die Möglichkeiten nutzen, die es bietet

Wenn Urteile auf Erkenntnis beruhen, markieren sie den Weg zum Ungeteilten.


Das Weltbild ist eine Karte, anhand derer man sich in der Wirklichkeit orientiert. Je schneller man Urteile fällt, desto größer ist die Gefahr, dass die Karte der Wirklichkeit nicht entspricht.

Seelische Gesundheit entspringt der Über­einstimmung von Weltbild und Wirklichkeit. Je mehr das Weltbild durch voreilige Urteile festliegt, desto größer ist die Gefahr, daran zu erkranken.

1. Begriffe

Urteil setzt sich aus dem Verb teilen und der Vorsilbe ur- zusammen. Ur- heißt ursprünglich aus heraus. Es bezeichnet den Beginn eines Geschehens. In seiner abgeschwächten Form er- taucht es vor vielen Verben auf. Es denkt dort nicht nur Beginn, sondern auch Abschluss und Zweck von Ereignissen mit.

Das Urteil der Rechtsprechung nimmt Güter (Land, Geld, Freiheit) aus dem Verfügbaren heraus und teilt sie den streitenden Parteien zu. Das Urteil über den Angeklagten unterteilt dessen Möglichkeiten in zwei Kategorien:

  1. machbar: In der Zelle Däumchen drehen
  2. nicht machbar: Die Zelle nach Lust und Laune verlassen

2. Funktionen der Urteilsbildung

Nicht nur vor Gericht werden Urteile gefällt. Als Spielart des Denkens ist das Urteilen eine grundsätzliche Aktivität des Geistes. Die gesamte Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Wirklichkeit ist von Urteilen durchsetzt. Meist werden sie unbewusst vollzogen. Urteilsbildungen unterteilen das Selbst- und Weltbild in Gegensatzpaare. Dadurch steuern sie das Verhalten.

Gegensatzpaare

Kategorie Beispiele Urteil
sinnlich kalt-warm
groß-klein
hell-dunkel
rot-grün
Beurteilung wahrnehmbarer Eigenschaften der Dinge selbst
abstrakt gut-böse
gut-schlecht
nützlich-nutzlos
sinnvoll-sinnlos
Subjektive Unterteilung gemäß persönlicher Erwartungen und Bedürfnisse, in deren Folge man den Dingen Eigenschaften zuordnet

Die gedankliche Aufteilung der Welt in Gegensatzpaare hat praktische und psycho­logische Funktionen:

2.1. Praktisch: Erleichterte Orientierung

Die Welt ist kein Chaos. Wäre sie es, wären Urteile sinnlos. Da der Lauf der Dinge Regeln folgt und erkennbaren Mustern unterliegt, kann man sich durch geeignete Urteile im Netzwerk der Muster orientieren. Gegensatzpaare bieten dabei grundlegende Orientierungspunkte.

Ur-teilungen

Gegensatzpaar Beispiel
genießbar-ungenießbar Grüne Pilze mit Knollen am Fuß gehören zur Kategorie der Ungenießbaren.
verheißungsvoll-ernüchternd Nimmt Bettina meine Einladung an, steigen meine Chancen. Eigentlich: Bettinas Akzeptanz meiner Einladung gehört in die Kategorie der verheißungsvollen Reaktionen.

2.1.1. Wirkungen

Die Aufteilung der Wirklichkeit in Gegensatzpaare hat große Vorteile.

Übrigens

Zu glauben, dass man die Wirklichkeit einem Urteil unterwirft ist eine irrige Urteilsbildung. Tatsächlich unterwirft man die Wirklichkeit niemals einem Urteil. Man urteilt bloß; entweder richtig oder falsch. Da die Macht der vermeintlich unterwor­fenen Wirklichkeit aber ungebrochen bleibt, wird man im Falle falscher Urteile von den Konsequenzen dazu aufgefordert, beim nächsten Urteil weiser zu sein.

2.1.2. Nebenwirkungen

Die Aufteilung in Gegensatzpaare zwecks besserer Orientierung hat Nebenwirkungen. Sie vereinfacht das Weltbild und fördert die Bereitschaft, die Wirklichkeit als bekannt vorauszusetzen... und sie damit zu übersehen.

2.2. Psychologisch: Festigung der Selbstsicherheit

Abgesehen vom rein praktischen Nutzen bei der Orientierung in der Außenwelt, hat das Urteil auch psychologische Funktionen: Es entängstigt. Indem es dem Urteilenden das Gefühl vermittelt, über den beurteilten Sachverhalten zu stehen, vermindert es scheinbar ihre Gefährlichkeit.

Wohlgemerkt

Man urteilt über etwas. So manches Über, zu dem man sich durch ein Urteil erhebt, verdeckt nur die Tatsache, dass man sich unterlegen fühlt und es tatsächlich auch ist.


Abwertungen

Urteile, die Abwertungen anderer enthalten, sind verdächtig, nicht der Beurteilung objektiver Sachverhalte zu dienen, sondern der Steigerung eines brüchigen Selbstwertgefühls.

Auch die Entängstigung durch Urteilsakte hat Wirkungen und Nebenwirkungen zugleich.

Wahnbildung

Bei der Entstehung des Wahns kommt es zum Phänomen der sogenannten Apophänie (griechisch phainein [φαινειν] = zeigen). In der Apophänie zeigt sich dem Kranken vermeintlich die Wahrheit.

Nachdem der Kranke lange unter unerklärlichen Ängsten und Unbehagen litt, wird ihm plötzlich alles klar: Sein Unbehagen ist auf die Machenschaften des Nachbarn zurückzuführen.

Der Kranke fällt ein Urteil. Da ihm endlich alles klar wird, fühlt er sich erleich­tert, denn zu glauben, man habe die Ursache eines Leidens ausgemacht, schwächt das beängstigende Gefühl der Unsicherheit ab, ungeachtet dessen, ob das Urteil zutrifft oder die tatsächlichen Gründe verkennt. Weil ihn das Urteil erleichtert, ist der Kranke kaum bereit, es infrage zu stellen; auch dann nicht, wenn alles, was er wahrnehmen kann, gegen seine Hypothese spricht.

Solche Urteilsbildungen sind nicht nur Grundlage psychotischer Erkrankungen, die psychiatrische Behandlung notwendig machen. Sie können Völker in den Abgrund führen. Hitlers Wahnideen über die Bosheit der Juden ist dafür bestes Beispiel.

3. Existenzielle Grundlage der Urteilung

Ursprung, Sinn und Zweck des Urteilens entspringt den Grundbeding­ungen des Daseins. Das persönliche Dasein unterliegt einer mentalen Urteilung der Wirklichkeit in Ich und Nicht-Ich, die das Bewusstsein vollzieht und die den Prozess aller weiteren kognitiven Urteile in Gang setzt. Durch die Urteilung teilt sich der individuelle Verstand eine eigenständige Wirklichkeit zu, die dem Nicht-Ich gegenübersteht. Welt, als dem Ich abgetrennt Gegenüber­stehendes, ist dem Ich, das sich durch die Urteilung festlegt, als Kontrast unabweisbar zugeordnet. Das Weltbild des urteilenden Ich ist dualistisch.

Unabweisbar heißt: Wenn das Ich sich als separat beurteilt, sieht es seine Eigenständigkeit von Gegensätzlichem bedroht, dem es sich willentlich nicht entziehen kann, weil ein separates Ich ohne Gegensätzliches strukturell unmöglich ist. Das Gegensätzliche ist daher nicht nur da und als Folge seiner Übermacht nicht abschließend zu besiegen. Vielmehr bedarf das separate Ich der Infragestellung durch ein Nicht-Ich, das es bedroht, um sich überhaupt zu definieren.

Die Urteilung führt zur Bereitschaft übereilt zu urteilen. Je mehr man an der Urteilung festhält, desto mehr beurteilt man die Wirklichkeit, statt sie zu erleben, zu erfahren und zu erkennen.

Das durch Urteilung definierte Ich kann nur als etwas existieren, das sich als bedroht erlebt.

Im Modus der dualistischen Wirklichkeitsdeutung geht man davon aus, dass zwischen Ich und Nicht-Ich ein kategorischer Unterschied besteht. Im Modus des normalen Grundverhaltens konzentriert sich das Ich darauf, sich Nützliches anzueignen und sich Schädliches vom Leib zu halten. Um das zu bewirken, beurteilt es die Wirklichkeit und unterteilt sie in zahllose Gegensatzpaare. Nützlich erscheint ihm dabei, was es sich zwecks Absicherung seiner bedrohten Eigenständigkeit zuordnen kann, schädlich, was sich ihm entgegenstellt.

Urteilsfreie Erfahrung
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit wird durch die Unterteilung in Gegensatzpaare verändert. Das Raster vollzogener Urteile überdeckt, was tatsächlich ist. Statt die Wirklichkeit zu sehen, sieht das Bewusstsein den Plan, den es von ihr hat; und weiß nicht, wie es nach hunderttausend Urteilsakten die Wirklichkeit vom Plan noch unterscheiden könnte.

Die Ergebnisse der Quantenphysik legen nahe, dass sich die Wirklichkeit nicht nur aus Teilen zusammensetzt, sondern ebenso als ursprünglich Ganzes vor den Augen des Betrachters in Teilaspekte zerfällt. Dem normalen Betrachter fallen die Teile ins Auge, die er entlang kognitiver Urteile klassifiziert.

Im mystischen Erleben strebt man einen nicht-dualistischen, ungespaltenen Zugang zur Wirklichkeit an. Wenn es gelingt, jedes Urteil über die Wirklichkeit als Hilfsmittel des Verstandes zu verstehen, ist es möglich, sie urteilsfrei als ungeteiltes Ganzes wahrzunehmen. Dabei fällt die Urteilung zwischen Ich und Nicht-Ich weg.

4. Vorurteil und psychische Krankheit

Urteile bildet man aus den Erfahrungen, die man im Laufe des Lebens macht: Seit ich gestochen wurde, denke ich, dass man Wespen besser in Ruhe lässt. Oder man übernimmt sie von Autoritäten, deren Schutz man sucht und denen man sich durch die Übernahme ihrer Urteile unterwirft: Von meinem Vater weiß ich, dass der Nachbar ein Blödmann ist.

Zur Orientierung in passenden Situationen hält man Urteile als Vorurteile für die Zukunft bereit. In neuen Situationen überprüft man - meist unbewusst -, ob man passende Vorurteile hat. Hat man eine passende Schablone gefunden, lässt das Bemühen nach, die Situation genauer zu erfassen. Stattdessen ordnet man sie ein.

Seelische Krankheiten beruhen auf einem Bruch zwischen der Wirklichkeit und dem Bild, das man sich von ihr macht. Je mehr das Bild von der Wirklichkeit abweicht, desto mehr krankt das resultierende Verhalten und seine emotionalen Folgen am gefällten Fehlurteil.

Wer glaubt, dass das Postamt in der Luisenstraße liegt, wird dort angekommen womöglich verärgert sein. Wer glaubt, dass es eine Schande ist, nicht zu wissen, wo das Postamt ist, wird seinen Selbstwert infrage stellen. Wer glaubt, dass der Tatsache, dass die Post nicht in der Luisenstraße zu finden ist, ein Komplott zugrunde liegt, wähnt sich von Verfolgern drangsaliert.

Vielen Persönlichkeitsstörungen kann man typische Vorurteile über die Wirklichkeit zuordnen, die die Muster erklären.

Krankheit und Urteil

Persönlichkeit Grundsatzurteil
abhängig Die anderen wissen, was für mich richtig ist. Es ist besser, wenn ich eigene Entscheidungen vermeide.
ängstlich-vermeidend Die Gefahren überwiegen die Chancen. Am besten riskiert man nichts.
depressiv Egoistisch zu sein ist böse. Nur wer ständig für die anderen sorgt, ist ein guter Mensch.
dissozial Der Wert anderer besteht im Nutzen, den sie für mich haben.
emotional-instabil Entweder etwas ist gut oder es ist schlecht. Dazwischen gibt es nichts.
histrionisch Ich muss die Leute für mich begeistern. Sonst ist mein Leben trostlos.
narzisstisch Ich bin der Beste und muss es bleiben.
paranoid Die anderen sind dran schuld, wenn es mir nicht gut geht.
schizoid Rückzug ist die beste Medizin.
zwanghaft Sicherheit geht über alles. Ich habe es in der Hand, sie zu bewirken.

Störungen der seelischen Gesundheit durch traumatisierende Erlebnisse der Vergangen­heit werden durch Urteile vermittelt, die man sich zum Schutz vor weiterem Leid zurechtlegt.

Je mehr Urteile man im Laufe der Zeit fällt, desto eher zerfällt das Weltbild in ein Schachbrettmuster voreiliger Gewissheiten. Die Fähigkeit, sich seelisch gesund auf die Wirklichkeit, vor allem auf neue Situationen einzustellen, nimmt damit ab.

Was ist, was sein soll und was werden könnte

Viele unterteilen die Welt in zwei Kategorien:

  1. das, was ist...
  2. und das, was sein soll.

Zwischen dem, was ist und dem, was sein soll, gibt es in Wirklichkeit aber keinen Unterschied. Tatsächlich gibt es nur einen Unterschied...

  1. zwischen dem, was ist...
  2. und dem, was nicht ist.

Es kann sein, dass jemand sich wünscht, dass die Welt anders wäre. Das ist aber kein Soll der Welt, sondern ein Wunsch der Person... und damit ein Ist der Welt. Wer seine Wünsche als Soll auffasst, das die Welt ihm schuldet, statt als Ist, das zu ihr gehört, sieht sich selbst und die Wirklichkeit verzerrt.

Die Welt ist nicht anders als sie sein sollte, aber je nachdem, was man tut, wird sie anders werden.

5. Urteil und Selbsterfahrung

Wer sich selbst erfahren will, muss die Urteilung übersteigen.

Wenn man sich ärgert, ist die Gelegenheit da, sich selbst zu erfahren. Ärger zeigt an, dass man das Verhalten einer anderen Person, sich selbst oder einen Umstand als schlecht bewertet. Schnell hat man ein abwertendes Urteil vollzogen, das die Wahrnehmung tieferer Schichten des eigenen Wesens verhindert.

Schichtenmodell der Urteilung

Pol Ebene Vor­gabe Tei­lung
Ober­flä­che

Tie­fe

1 Physi­kalische Realität, ein­schließ­lich des mensch­lichen Körpers Aufge­teilt in unter­scheid­bare Formen der objekti­vierbaren Wirk­lich­keit Urteilt durch faktisches Sosein. Ist in dynamisch verwobene Aspekte aufgeteilt.
Die physi­kalische Realität urteilt über die Entschei­dungen der Person, indem sie ihnen diese oder jene Konse­quenzen folgen lässt.
2 Ego, Person
Gemeint ist die Person als virtu­elles Objekt, als gedank­liches Konzept ihrer selbst. Ihr körper­licher Aspekt gehört zur physi­kalischen Realität.
Erlebt die Welt urgeteilt in Ich und Nicht-Ich. Hauptakteur des gedank­lichen Urteilens. Urteilt, um Vorteile und Nachteile systema­tisch zu unter­scheiden.
3 Rela­tives Selbst Inneres Feld unter­schied­licher Erlebnis­formen. Kann sich Urteilen überlassen oder sich Urteilen entziehen. Obere Schichten gehen ins Ego über, untere ins absolute Selbst. Urteilt an der Oberfläche, erlebt in der Tiefe.
4 Abso­lutes Selbst Ungeteilt Urteilt selbst nicht. Nimmt wahr wie es den aufgeteilten Pol der Wirk­lichkeit erlebt. Steht ungeteilt im Aufge­teilten.

Wer sich erfahren will, kann bei jeder Versuchung, ein Urteil zu fällen, stattdessen in seine Tiefe sehen.

Urteile können zu Abwehrwehrmechanismen des Egos werden. Das egozen­trische Selbstbild wird nicht nur durch äußere Fakten infrage gestellt, sondern auch durch innere. Indem das Ego sich bei der Begegnung mit unliebsamen Strukturen der Wirklichkeit aufs Urteilen verlegt, vermeidet es die Wahrnehmung der tieferen Schichten des Selbst. Dort könnte es erfahren, dass es nicht Herr über sich selbst, sondern dessen Diener ist.

Am Anfang war ich vom Buch über Patanjalis Yogasutra angetan. Dann fing ich an, mich über bestimmte Aussagen zu ärgern. Ich stand vor der Wahl:

Ich muss über Patanjali kein Urteil fällen. Ich kann spüren, was ich in seiner Gegenwart erlebe.

Urteil und Erlebnis
Zwei Formen der Stärkung

Das Urteil... Das Erlebnis...
stärkt das Abgeteilte. Der abgeteilte Aspekt des Einzelnen ist das Ego. Durch Urteile bezieht die Person Stellung. Sie festigt ihre Grenzen. stärkt das Ungeteilte. Der ungeteilte Ursprung des Einzelnen ist das Selbst. Im Erlebnis wird das Selbst seiner Existenz gewahr. Es entdeckt seine Weite.

Durch Bewertungen kann man der Wirklichkeit gegenüber Stellung beziehen. Tut man es ständig, landet man im Schützengraben. Oder man schaut nach, wie man das Gegenüberstehende erlebt. Wer Gegenüberstehendes spürt, statt es zu bewerten, wächst über die eigene Gegenständlichkeit hinaus.