Das Fremdwort Dogma = Lehrsatz ist griechischen Ursprungs. Er geht auf die Verben dokein (δοκειν) bzw. dokeuein (δοκευειν) = meinen, scheinen zurück. Obwohl der Begriff die Ungewissheit seiner Inhalte offen benennt, ging die Bewusstheit verloren, dass dogmatische Glaubenssätze bloß Meinung und Anschein sind. Sie fiel dem Machtanspruch von Religionen zum Opfer, die ihre Meinung zur Gewissheit erklärten und als Verwalter der vermeintlichen Gewissheit Zustimmung fordern.
Das Dogma ist ein Werkzeug konfessioneller Glaubensformen. Jenseits davon hat es auch im Rahmen gesellschaftspolitischer Utopien Bedeutung, deren Hoffnungen in der Regel nicht auf Erkenntnis, sondern Hypothesen beruhen. Die Konfession, also das Bekenntnis, besteht darin, den spezifischen Lehrsätzen der jeweiligen Weltanschauung zuzustimmen. Durch die Zustimmung anerkennt man den Anspruch der konfessionellen Gruppierung, unangefochten über wahr und unwahr zu entscheiden sowie den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen der Überprüfung zu entziehen. Durch den Akt des Bekennens tritt man der entsprechenden Gruppe bei und verpflichtet sich, zu anderen Gruppen auf Abstand zu gehen.
Die Zugehörigkeit zu religiösen Bekenntnissen kommt meist ohne Bekenntnisakt zustande. Die Mitgliedschaft der meisten ist Ergebnis frühkindlicher Fremdbestimmung. Die meisten sind nie beigetreten. Sie wurden zu Mitgliedern gemacht. Sie unterlassen den Austritt aus Gewohnheit und Desinteresse; oder weil für das Bekenntnis von Zweifeln am Bekenntnis eine Ausgrenzung droht, die erhebliche soziale Nachteile mit sich bringt.
Kategorie | Inhalt | Funktion |
Glaube... | ist das Fürwahrhalten unbewiesener Aussagen. | dient der Ergänzung einer lückenhaften Erkenntnis zu einem geschlossenen Weltbild. |
Religion... | ist die Hinwendung zu den Grundlagen der Existenz sowie die Rückführung des Identitätsgefühls aus der Vorstellung in die Wirklichkeit. | dient der Lösung seelischer Probleme durch endgültige Sinngebung und Selbstfindung. |
Konfession... Bekenntnis... |
ist ein politischer Akt des Einzelnen, durch den er auf seine Position im sozialen Umfeld Einfluss nimmt. | dient dem Schutz vor der Aggression des Umfelds durch Beitritt zu einer schützenden und ihrerseits potenziell aggressiven Gruppe. |
Wissen ist Macht, Glaube Vermutung. Das Dogma kompensiert das Minderwertigkeitsgefühl des Glaubens indem es gegen Wissen auftrumpft. Es putscht sich an die Macht.
Ursprung aller westlichen Konfessionen ist der alttestamentarische Glaube. Die Machtergreifung Moses' und seiner Anhänger sowie die Eroberung Kanaans war von einer Mythenbildung begleitet, die Krieg und Machtanspruch rechtfertigten. Um Kritik an der politischen Führung im Keim zu ersticken, formulierte der Glaube eine Reihe von Lehrsätzen, deren Verneinung bei Todesstrafe verboten war...
Politisch gesehen vereinheitlichen Dogmen das Denken. Die Vereinheitlichung entsprach den militärischen Zielen des Aufbruchs nach Kanaan. Der Sieg über die Völker Kanaans und die Inbesitznahme ihres Landes bedurfte der gemeinsamen Anstrengung aller hebräischen Stämme. Kultureller Pluralismus und Meinungsvielfalt standen dem im Wege. Das Dogma schaffte sie ab.
Orthodox geht auf Griechisch orthos (ορθος) = recht, richtig und doxa (δοξα) = Meinung, Anschauung, Lehre zurück. Analog zum orthodoxen Judentum, das die alttestamentarischen Lehrmeinungen rechtmäßig vertritt, haben dessen Abspaltungen und Nachahmungen, also die christlichen und moslemischen Konfessionen jeweils eigene Dogmen formuliert, deren Funktion es ist, ihrer Lehre die einzig richtige Sichtweise zu bescheinigen und damit alle Macht für sich zu reklamieren.
Das exemplarische Dogma des Christentums ist das der unbefleckten Empfängnis. Seine Aufgabe ist es, den selbsternannten Stellvertretern Christi Unfehlbarkeit zu attestieren; denn erst wenn Jesus nicht bloß Mensch war, sondern leiblicher Sohn eines Gottes, kommt seinen Stellvertretern eine Macht zu, die niemand in Frage stellen darf.
Das zentrale Dogma des Islam heißt: Mohammed ist der Prophet Gottes. Da Mohammed behauptet, abschließend Gottes Willen zu verkünden, wird jede Kritik an diesem Dogma zu einer Sünde, die konsequent zu verfolgen ist.
Es gehört zur politischen Routine der Gegenwart, den Hass gegen Andersdenkende, der im Namen Mohammeds wirksam wird, nicht dem Islam zuzuschreiben, sondern einem sogenannten Islamismus. Das ist genauso unzutreffend, als würde man behaupten, nicht der Nationalsozialismus sei für Auschwitz verantwortlich, sondern die Fehlinterpretation derer, die ihn nicht richtig verstanden hätten.
Sura 9, 5:**
Sind die heiligen Monate vorüber, dann tötet die Götzendiener, wo ihr sie auch findet, fanget sie ein, belagert sie und stellt ihnen nach aus jedem Hinterhalt.
Gegensätzliche Muster
Das eine ist solidarisch. Das andere ist autokratisch.
Im Gegensatz zur undogmatischen Lehre warnt das Dogma nicht. Es droht. Ihm nicht zu folgen, führe nicht zu läuterndem Leid, sondern zu endgültiger Strafe. Die Strafe dient der Rache. Sie quält mit der bloßen Absicht, weh zu tun. Um jeden zum Bekenntnis zu nötigen, verkündet das Dogma eine Liebe, die hasst.
2 Thessalonicher 1, 6-10:*
Es ist ja gerecht... wenn... Jesus sich offenbaren wird... in Feuerflammen und Vergeltung übt an denen, die Gott nicht kennen und sich nicht beugen dem Evangelium... Sie werden bestraft werden mit ewigem Verderben... wenn er kommt, um... verherrlicht... und bewundert zu werden...
Der Unterschied zwischen der Warnung der einen und der Drohung der anderen hat für das Zusammenleben von Gläubigen und Ungläubigen weitreichende Folgen.
Undogmatische Religionen entwerten Andersdenkende nicht. Gläubige und Ungläubige können sich in wechselseitigem Respekt begegnen.
Dogmen haben nicht nur politische Funktionen. Sie stehen auch in Bezug zu den psychologischen Grundbedürfnissen des Menschen: dem nach Zugehörigkeit und dem nach Selbstbestimmung.
Der Beitritt zu einer dogmatischen Glaubensgemeinschaft dient dem Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit.
Religiöse Dogmen können Menschen darauf hinweisen, dass sich die Wirklichkeit nicht im Horizont sinnlich erfahrbarer Realität erschöpft. Dadurch können sie Gläubige...
Die Ziellinie religiöser Rückbindung geht jedoch über die Einbindung in soziale Gemeinschaften und den Gehorsam gegenüber einer Gottesperson hinaus. Die Ziellinie liegt in der Desidentifikation von allem Objektiven. Das Individuum findet zum Absoluten, wenn es jede Bindung an Objektives als vorläufig erkennt. Solange es sich mit Objektivem gleichsetzt, bleibt es versucht, sich mit Dogmen zu begnügen, die als Haltgeber erkennbar sind. Die Wahrheit liegt aber nicht im Dogma, sondern in dem, worauf es im besten Fall verweist. So ist der unverrückbare Lehrsatz Außenposten eines Selbstbilds, das sich an Bedingtes klammert und dem der Mut fehlt, sich dem Unbedingten anzuvertrauen.
Religiöse Suche nach dem Unbedingten, kann ihr Ziel nur erreichen, wenn sie alles Bedingte hinter sich lässt. Vertiefte Religion fängt jenseits der Lehrsätze an. Alles diesseits davon ist vorläufig und endet zu früh. Diesseits der Dogmen bleibt Religion Abwehr von Angst. Sie wird zum Versuch, sich als Ego zu erhalten, statt auf der Suche nach dem Selbst über das Ego hinauszugehen.
Schlüsselverdienst der europäischen Aufklärung war es, dem Einzelnen das Recht zu verschaffen, offen an vorgegebenen Lehrsätzen zu zweifeln. In der Folge entdeckte der Mensch dass...
Das führte zur Formulierung der Menschenrechte, zur Entdeckung des Penizillins und zur Entwicklung von Impfstoffen, die millionenfach Leben gerettet und maßloses Leid verhindert haben.
Sura 9, 28-29:**
... nur Schmutz sind die Götzendiener... Bekämpfet, die an Gott nicht glauben...
Jeder Glaube grenzt aus, wenn er für Unglauben Strafe androht.
Bahnbrechend für die Aufklärung war das Zeitalter der Renaissance. Renaissance heißt Wiedergeburt. Wiedergeboren wurde der Respekt vor dem Individuum, der in der Antike im Ansatz bekannt und der über Epochen hinweg durch die Forderung blinden Gehorsams ersetzt war.
Dogmatische Religionen neigen dazu, der Individualität misstrauisch gegenüberzustehen. Intellektuell hat das zwei Ursachen:
Individualität ist Ausdruck eines jeweils verschiedenen Erlebens der Wirklichkeit aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Individualität sieht sich als Perspektive des Ganzen, mit dem sie sich unauflösbar verbunden weiß. Individualität ist weder auf- noch abgespalten.
Die Überschreitung der Egozentrizität ist Aufgabe und Inhalt jeder Religion, nicht aber die Leugnung des Wertes und die Unterdrückung der Individualität. Alle religiösen Ansätze, die die Egozentrizität durch Vereinheitlichung überwinden wollen, erreichen das Gegenteil. Eine Glaubenspraxis, die das Heil im Gehorsam sieht, entrinnt dem Ego nicht. Sie stärkt es. Gehorsam ist kein Weg zum Absoluten. Er ist ein Festhalten am Eigennutz.
Tatsächlich ist es so: Religion ist die Suche nach Freiheit. Nichts, was Freiheit abschaffen will, ist wahre Religion.
Demokratie fußt unmittelbar auf dem Respekt vor dem Individuum. Ohne diesen Respekt ist Demokratie undenkbar; denn ohne ihn bleibt der Mensch Untertan der jeweils stärksten Gewalt.
Es gibt keinen dogmatischen Glauben, der den Wert des Individuums uneingeschränkt anerkennt. Während die Aufklärung die Macht des Christentums beschnitt, pflegt die islamische Welt fast ungebrochen eine Tradition, die das Recht des Einzelnen, über sich selbst zu bestimmen, verneint. Zwischen Islam und Demokratie liegt ein tiefer Graben. Wird dieser Graben übersehen, geht das zu Lasten der Freiheit. Vielen fehlt der Mut, sich davor zu fürchten.
Die Festlegung des Geistes auf antike bzw. mittelalterliche Vorstellungsbilder hat die geistige Entwicklung der westlichen Hemisphäre für lange Zeit eingefroren. Bis heute besteht Nachholbedarf.
* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.
** Der Koran, (Komet-Verlag, ISBN 3-933366-64-X), Übersetzung von Lazarus Goldschmidt aus dem Jahr 1916.