Jenseits


  1. Begriffsbestimmungen
  2. Religiöse Vorstellungen
  3. Diesseits und jenseits des Egos
Es gibt nur das Eine, in dem Leben und Tod dasselbe sind. Einheit ist Vielfalt. Vielfalt ist Einheit.

Zum Jenseits hin sind die Dinge göttlich. Im Diesseits sind sie Sache und Person.

Das Diesseits ist in Gegensätze aufgeteilt, weil das Jenseits sie in Erfahrung bringt.

Das Diesseits muss sein, weil das Jenseits sein kann. Das Diesseits kann sein, weil das Jenseits ist.

1. Begriffsbestimmungen

Jenseits und Diesseits sind zwei Seiten der Wirklichkeit. So stellen wir es uns zumindest vor. Jener weist auf Entferntes hin, dieser auf das, was in der Nähe liegt. Um nicht dem Irrtum zu verfallen, der Abstand zwischen beiden Seiten sei topographisch, ist es nützlich, sich die Sinn­verwandtschaft des Wortes Jenseits klarzumachen.

Jener geht auf den indoeuropäischen Stamm eno- zurück. Eno- steht etymologisch mit oinos = eins (griechisch ena [ενα], lateinisch unus) in Verbindung. Zur Eins gehört das Verb einen.

Dieser Zusammenhang ermutigt uns, das Jenseits nicht bloß als eine Parallelwelt zum Diesseits zu denken, die die Struktur des Diesseits in verbesserter Fassung wiederholt, sondern als Grundprinzip, das die Vielfalt des Diesseits zu einer Einheit verbindet.

Topographien
Die gängige Jenseitsvorstellung trennt Jenseits und Diesseits topo­graphisch. Sie geht davon aus, dass die drei räumlichen Dimensio­nen des Diesseits nicht dem Jenseits angehören; und sich das Jenseits irgendwo anders, als separate Raumstruktur, befindet. Diese Vorstellung ist dualistisch. Während die Räumlichkeiten von Dies- und Jenseits als getrennte Abteile gedeutet werden, geht das gängige Bild von einer Gleich­zeitigkeit beider Gebiete aus. Hier wie dort gibt es einen Zeitfluss, der ein Jetzt durchquert, das die Gegenwart beider Gebiete bestimmt. Während sich diesseits das Drama des Diesseits abspielt, sitzen im Jenseits Verstorbene und schauen ihm zu. Die grundsätz­liche Grenze zwischen verschiedenen Personen bleibt im Jenseits bestehen.

Diese Vorstellung ist eine Illusion, die durch die egozentrische Arbeitsweise des normalen Bewusstseins aufrechterhalten wird. Tatsächlich sind Diesseits und Jenseits zwei Seiten des Jenseits, die im Jenseits eine Seite sind. Das Jenseits ist der Mathematik nicht unterworfen. Es erfindet sie. Dass sich eins und zwei voneinander unterscheiden ist nur diesseits Gesetz. Jenseits ist es Möglichkeit. Das Jenseits ist, weil alles zusammenhängt. Das Diesseits erscheint, weil eins ins andere übergeht.

Als Einheit des Geeinten ist das Eine mit sich allein. Im Begriff allein taucht das gemein­germanische Wort all auf. All wird der Wortgruppe um alt zugeordnet. Stimmt die Zuordnung, geht alt auf indoeuropäisch alnos = vollständig, ausgewachsen sowie al- = wachsen, nähren zurück. Bei Alimenten handelt es sich um Nährstoffe, die vom Alten zu liefern sind, bis der Alimentierte ausgewachsen ist.

Das All-eine, das als Jenseits geeint ist, ist damit älter als das Diesseits. Seinerseits ausgewachsen und vollständig ist es das, was nährt und wachsen lässt. Alt und jung sind aber nur im Diesseits Gegensätze. Im Jenseits fallen sie zusammen, sodass die Aussage, das Jenseits sei älter als das Diesseits, ergänzt werden muss: Im gleichen Zuge ist es zeitlos jung. Lateinisch heißt altus sowohl hoch als auch tief. Das All-eine steht hoch über dem Vielen und durchdringt es zugleich tief.

Diesseits begegnet sich alles. Jenseits ist alles das Eine.

2. Religiöse Vorstellungen

Ist ein religiöser Glaube ohne Jenseitsvorstellung überhaupt denkbar? Falls ja, hat sich der Geist kaum je um diese Möglich­keit gekümmert. Zum Wesenskern der Religion gehört die Frage, was jenseits des Todes kommt und wie man mit diesem Jenseits verbunden ist. Die drei abrahamitischen Religionen (Judaismus, Christentum, Islam) gehen ebenso von einem Jenseits aus, wie die ostasiatischen Glaubenssysteme (Buddhismus, Hinduismus), die antiken Vielgötter­kulte und die animistischen Vorstellungen der Naturvölker.

Ego und Partei
Das Ego ist die Partei der Person im sozialen Gefüge. Es vertritt ihre Interessen und wacht darüber, dass sie nicht vom Eigen­nutz anderer Personen übervorteilt wird. Sobald ein Ego dem anderen predigt, die Wachen abzurufen, wird das Ego, an das die Predigt ergeht, gestärkt.

Abgesehen vom Nirvana (Sanskrit nirvanam [निर्वाणम्] = erlöschen) des Buddhismus und dem Brahman (Sanskrit ब्रह्मन्) des Vedanta hat das Jenseits der etablierten Religionen viel Ähnlichkeit mit dem Diesseits. Es wird von unterschiedlichen Individuen bevölkert: Gott oder Göttern, Engeln, einem oder vielen Teufeln, Geistern, Dämo­nen und den Seelen der Ahnen. Und es wird topographisch vom Diesseits unterschieden.

Entsprechend der Vorstellung, dass das Jenseits eine strukturierte Parallelwelt ist, in der sich individuelle Wesen begegnen, bleibt der Heilsgedanke der abrahamitischen Religionen egozentrisch. Durch Loyalität zur vorgeblich alleingültigen Lehre, durch Gehorsam, Rituale und die Befolgung einer verordneten Moral verdient sich der Einzelne sein zukünftiges Glück. Dem Egois­mus dieser Vorstellung wird in einem zweiten Schritt begegnet: durch die Predigt altruistischer Tugend.

Die Vorstellung abgetrennter Individualseelen, von denen jede für ihr persönliches Heil verantwortlich ist, enthält einen Widerspruch, der psychologische und soziale Verwerfungen nach sich zieht. Zum einen appelliert die Predigt an den Eigennutz des abgetrennten Egos, zum anderen fordert sie von ihm, uneigennützig zu sein.

Das angestrebte Ziel, das Ego im Dienst einer höheren Harmonie zu überwinden, ist mystisch gesehen plausibel. Predigt man das gleiche Ziel im Kontext hierarchisch organisierter Gemeinschaften, erreicht man das Gegenteil. Sobald ein Ego vom anderen verlangt, sich aufzugeben, gibt es zwei Möglichkeiten:

  1. Ist die Macht des Glaubens, der die Unterwerfung fordert, nicht übermächtig, kann das Ego die Unterwerfung ausdrücklich verweigern.

  2. Ist die Verweigerung zu gefährlich, wird das Ego andere Wege gehen: Es wird so tun, als sei es unterworfen... und hinter der Maske erst recht egoistisch sein.
Nah und fern
Die Sprache des Diesseits ist eine Sprache der Unterscheidung. Sie betrachtet die Welt aus der Perspektive des Egos. Da das Ego als Partei Grenzen bewacht, liegt ihm das Abgegrenzte nah. Es zeigt darauf und sagt: Dies.

Das Vereinte liegt vom Ego aus betrachtet weiter weg. Das Ego nennt es: Jenes.

Erst wenn das Ich sich nicht mehr für sein Ego hält, erkennt es, dass ihm das Jenseits näher als das Diesseits ist. Diese Einsicht ist der Eckstein mystischer Religion.

Der Begriff nahe ist dabei metaphorisch zu denken. Tatsächlich ist der Wesenskern des Ich dem Jenseits nicht nur nahe. Er ist es selbst. Das Diesseits ist ein Sosein des Selbstseins. Ohne es selbst zu sein, könnte kein Sosein erscheinen.

3. Diesseits und jenseits des Egos

Der Mensch steht als Körper im Diesseits. Dessen Struktur besteht aus den Unterschieden, die sich darin begegnen. Die Elemente des Diesseits unterscheiden sich durch die Grenzen ihrer Gestalt, die Qualität ihrer Substanz und ihre Positionen im Raum. Analog zur scheinbar abgelösten Körperlichkeit macht sich der Mensch ein Bild von seiner seelischen Dimension. So wie der Körper scheinbar vom Umfeld abgetrennt ist, denkt er sich seinen seelischen Pol als umschriebenes Etwas.

Das Jenseits ist das Selbst des Diesseits.

Was aber, wenn die Grenzen, die er dabei sieht, keine Grenzen in Wirklichkeit sind, sondern bloß die Grenzen seiner Wahrnehmung? Dann kann er das Jenseits als den Aspekt der Wirklichkeit verstehen, der sie in ein Ganzes eint. Seine Seele ginge dann nicht mehr als ein Etwas in das Jenseits ein. Sie wäre das Jenseits selbst, als das sie zeitlos, formlos und ohne Gegensätze in sich ruht.