Jenseits und Diesseits sind zwei Seiten der Wirklichkeit. So stellen wir es uns zumindest vor. Jener weist auf Entferntes hin, dieser auf das, was in der Nähe liegt. Um nicht dem Irrtum zu verfallen, der Abstand zwischen beiden Seiten sei topographisch, ist es nützlich, sich die Sinnverwandtschaft des Wortes Jenseits klarzumachen.
Jener geht auf den indoeuropäischen Stamm eno- zurück. Eno- steht etymologisch mit oinos = eins (griechisch ena [ενα], lateinisch unus) in Verbindung. Zur Eins gehört das Verb einen.
Dieser Zusammenhang ermutigt uns, das Jenseits nicht bloß als eine Parallelwelt zum Diesseits zu denken, die die Struktur des Diesseits in verbesserter Fassung wiederholt, sondern als Grundprinzip, das die Vielfalt des Diesseits zu einer Einheit verbindet.
Diese Vorstellung ist eine Illusion, die durch die egozentrische Arbeitsweise des normalen Bewusstseins aufrechterhalten wird. Tatsächlich sind Diesseits und Jenseits zwei Seiten des Jenseits, die im Jenseits eine Seite sind. Das Jenseits ist der Mathematik nicht unterworfen. Es erfindet sie. Dass sich eins und zwei voneinander unterscheiden ist nur diesseits Gesetz. Jenseits ist es Möglichkeit. Das Jenseits ist, weil alles zusammenhängt. Das Diesseits erscheint, weil eins ins andere übergeht.
Als Einheit des Geeinten ist das Eine mit sich allein. Im Begriff allein taucht das gemeingermanische Wort all auf. All wird der Wortgruppe um alt zugeordnet. Stimmt die Zuordnung, geht alt auf indoeuropäisch alnos = vollständig, ausgewachsen sowie al- = wachsen, nähren zurück. Bei Alimenten handelt es sich um Nährstoffe, die vom Alten zu liefern sind, bis der Alimentierte ausgewachsen ist.
Das All-eine, das als Jenseits geeint ist, ist damit älter als das Diesseits. Seinerseits ausgewachsen und vollständig ist es das, was nährt und wachsen lässt. Alt und jung sind aber nur im Diesseits Gegensätze. Im Jenseits fallen sie zusammen, sodass die Aussage, das Jenseits sei älter als das Diesseits, ergänzt werden muss: Im gleichen Zuge ist es zeitlos jung. Lateinisch heißt altus sowohl hoch als auch tief. Das All-eine steht hoch über dem Vielen und durchdringt es zugleich tief.
Ist ein religiöser Glaube ohne Jenseitsvorstellung überhaupt denkbar? Falls ja, hat sich der Geist kaum je um diese Möglichkeit gekümmert. Zum Wesenskern der Religion gehört die Frage, was jenseits des Todes kommt und wie man mit diesem Jenseits verbunden ist. Die drei abrahamitischen Religionen (Judaismus, Christentum, Islam) gehen ebenso von einem Jenseits aus, wie die ostasiatischen Glaubenssysteme (Buddhismus, Hinduismus), die antiken Vielgötterkulte und die animistischen Vorstellungen der Naturvölker.
Abgesehen vom Nirvana (Sanskrit nirvanam [निर्वाणम्] = erlöschen) des Buddhismus und dem Brahman (Sanskrit ब्रह्मन्) des Vedanta hat das Jenseits der etablierten Religionen viel Ähnlichkeit mit dem Diesseits. Es wird von unterschiedlichen Individuen bevölkert: Gott oder Göttern, Engeln, einem oder vielen Teufeln, Geistern, Dämonen und den Seelen der Ahnen. Und es wird topographisch vom Diesseits unterschieden.
Entsprechend der Vorstellung, dass das Jenseits eine strukturierte Parallelwelt ist, in der sich individuelle Wesen begegnen, bleibt der Heilsgedanke der abrahamitischen Religionen egozentrisch. Durch Loyalität zur vorgeblich alleingültigen Lehre, durch Gehorsam, Rituale und die Befolgung einer verordneten Moral verdient sich der Einzelne sein zukünftiges Glück. Dem Egoismus dieser Vorstellung wird in einem zweiten Schritt begegnet: durch die Predigt altruistischer Tugend.
Die Vorstellung abgetrennter Individualseelen, von denen jede für ihr persönliches Heil verantwortlich ist, enthält einen Widerspruch, der psychologische und soziale Verwerfungen nach sich zieht. Zum einen appelliert die Predigt an den Eigennutz des abgetrennten Egos, zum anderen fordert sie von ihm, uneigennützig zu sein.
Das angestrebte Ziel, das Ego im Dienst einer höheren Harmonie zu überwinden, ist mystisch gesehen plausibel. Predigt man das gleiche Ziel im Kontext hierarchisch organisierter Gemeinschaften, erreicht man das Gegenteil. Sobald ein Ego vom anderen verlangt, sich aufzugeben, gibt es zwei Möglichkeiten:
Ist die Macht des Glaubens, der die Unterwerfung fordert, nicht übermächtig, kann das Ego die Unterwerfung ausdrücklich verweigern.
Das Vereinte liegt vom Ego aus betrachtet weiter weg. Das Ego nennt es: Jenes.
Das Wesen des Jenseits kann weder durch Glaubensformeln noch durch Denkakte erfasst werden. Das Denken bedient sich definierter (lateinisch finis = Grenze), also abgegrenzter Begriffe. Da das Jenseits jeder Begrenzung entbunden ist, ist es begrifflich unerreichbar. Was für Denkakte gilt, gilt auch für Glaubensformeln. Glaubensformeln sind Lehrsätze und Bilder. Jeder Lehrsatz endet am Punkt, jedes Bild an seinem Rahmen. Wer Lehrsätze für abschließend wahr erklärt, hat sich aus der letzten Wahrheit ausgeschlossen.
Erst wenn das Ich sich nicht mehr für sein Ego hält, erkennt es, dass ihm das Jenseits näher als das Diesseits ist. Diese Einsicht ist der Eckstein mystischer Religion.
Der Begriff nahe ist dabei metaphorisch zu denken. Tatsächlich ist der Wesenskern des Ich dem Jenseits nicht nur nahe. Er ist es selbst. Das Diesseits ist ein Sosein des Selbstseins. Ohne es selbst zu sein, könnte kein Sosein erscheinen.
Der Mensch steht als Körper im Diesseits. Dessen Struktur besteht aus den Unterschieden, die sich darin begegnen. Die Elemente des Diesseits unterscheiden sich durch die Grenzen ihrer Gestalt, die Qualität ihrer Substanz und ihre Positionen im Raum. Analog zur scheinbar abgelösten Körperlichkeit macht sich der Mensch ein Bild von seiner seelischen Dimension. So wie der Körper scheinbar vom Umfeld abgetrennt ist, denkt er sich seinen seelischen Pol als umschriebenes Etwas.
Was aber, wenn die Grenzen, die er dabei sieht, keine Grenzen in Wirklichkeit sind, sondern bloß die Grenzen seiner Wahrnehmung? Dann kann er das Jenseits als den Aspekt der Wirklichkeit verstehen, der sie in ein Ganzes eint. Seine Seele ginge dann nicht mehr als ein Etwas in das Jenseits ein. Sie wäre das Jenseits selbst, als das sie zeitlos, formlos und ohne Gegensätze in sich ruht.