Mystik


  1. Begriffe
  2. Funktionen des Schweigens
  3. Verwechslungen und Unterschiede
  4. Mystik und seelische Gesundheit
  5. Methoden und Ziele der Mystik
  6. Mystisches Erleben und pathologische Abweichung
Der Wesenskern der Religion ist Mystik. Wo Mystik fehlt, ist bloßer Glaube. Mystik bemüht sich, Wahrheit zu ergründen; und nichts als reine Wahrheit. Glaube begnügt sich mit den Bildern, die er für wahr hält. Glaube will Wahrheit bestimmen, indem er sich an Vorstellungen bindet. Mystik ver­traut, indem sie Vorstellungen preisgibt.

Offensichtlichkeit und Geheimnis

Wirklichkeit ist Offenbarung erkennbarer Inhalte. Dass Inhalte nicht erkannt werden, liegt nicht daran, dass der Himmel sie geheim hielte. Es liegt daran, dass der potenziell Erkennende sie nicht erkennen kann oder nicht erkennen will.


Spirituelle Meditation betreibt die Lossagung von speziellen Zu-mir-Gehörigkeiten zugunsten einer umfassenden Zugehörigkeit.

Der Mensch besteht aus Gott wie das Molekül aus Universum. Trotzdem ist er nicht mehr als das, was er ist.

1. Begriffe

Der Begriff Mystik bezeichnet einen religiösen Ansatz: den Ansatz reiner Religiosität ohne politische Verfälschung. Der Mystiker strebt die unmittelbare Erkenntnis des Urgrunds der Wirklichkeit an, also eine Erkenntnis, die nicht durch Sinnesorgane oder Lehrmeinungen getrübt oder vermittelt wird. Diesen Urgrund deutet er als heilig.

Sprachgeschichtlich geht das Wort auf Griechisch mystos (μυστος) = verschwiegen bzw. myein (μυειν) = sich schließen zurück. Der Mystiker verschließt Augen und Lippen. Das verweist auf das Wesen der Mystik an sich.

Sprachverwandt mit Mystik ist Mysterium. Mysterium ist von mystes abgeleitet, womit man im alten Griechenland einen Eingeweihten des Eleusinischen Mysterienkults bezeichnete.

Der Begriff mystes geht auf myeein (μυεειν) = einweihen zurück. Wie das Wort mysteriös es erahnen lässt, wurden religiöse Mysterien als Geheimlehren gedeutet oder betrieben. Der besagte Mysterienkult war nur einem ausgesuchten Zirkel von Personen zugänglich. Sie hatten bei Androhung der Todesstrafe über den Ablauf der Rituale zu schweigen.

2. Funktionen des Schweigens

Schweigen kann diametral entgegengesetzte Funktionen erfüllen.

Bei den einen dient das Schweigen dazu, Wahrheit zu finden. Andere versuchen, sie durch Schweigen zu vertuschen. Von den einen wird Wahrheit verschwie­gen, von anderen wird sie erschwie­gen.

Bei den Betreibern der Mysterienkulte diente es psychologischen und politischen Zwecken. Durch gezielte Geheimnistuerei wurden Einge­weihte und Außenstehende beeinflusst. Bei den Eingeweihten fütterte sie die Eitelkeit. Sie durften sich als Mitglieder eines erlauchten Zirkels deuten, der über den Außenstehenden stand. Bei den Außenstehen­den steigerte die Geheimnistuerei Neid und Ehrfurcht. Sie mussten glauben, dass hinter den verschlossenen Türen etwas von besonderer Bedeutung ablief.

Das tatsächliche Geheimnis, das es zu hüten galt, war dabei aber nicht der inhaltliche Ablauf des geheimen Treibens, so als berge er eine mächtige Magie, die nicht in unbe­fugte Hände fallen durfte. Das tatsächliche Geheimnis war die Tatsache, dass es in­haltlich nichts gab, was zu verschweigen gelohnt hätte. Die Rituale hatten keinerlei magische Macht, durch die die Anwender des Ritus etwas bei Dritten bewirken konn­ten. Die Riten wirkten suggestiv und zwar auf die Anwender und ihr Publikum selbst, indem sie die Meinung veränderten, die sie von sich hatten. Dem Geheimnistuer geht es nicht um die Wahrheit, sondern um die Illusion, dass er sie kennt.

Beim Mystiker hat das Motiv des Schweigens im Gegensatz dazu Funktionen, die unmittelbar der Wahrheitsfindung dienen:

  1. Der Mystiker sucht den Zugang zum Heiligen in sich selbst. Er versucht, sich damit zu verbinden. Die Suche im Inneren wird durch zeitgleiche Betrachtung der Außenwelt oder Gespräche - also verbalisierte Denkakte - gestört. Das mystische Bemühen wird erleichtert, wenn man Augen und Lippen verschließt.

  2. Was der Mystiker sucht, ist für das organische Auge unsichtbar. Organische Augen sind auf die diesseitige Welt des Unterscheidbaren ausgerichtet. Das Ziel mystischer Erkenntnis ist der Blick darüber hinaus. Ihr Ziel ist es, die dualistische Unterscheidbarkeit zu überschreiten. Der Mystiker hält nach dem Jenseits Ausschau; also dem gemeinsamen Nenner der diesseitigen Unterschiede. Dazu braucht er keine Sinne, sondern geistige Präsenz.

  3. Da Sprache auf unterscheidende Begriffe angewiesen ist, ist die mystische Erkenntnis verbal nicht mitteilbar. Mystische Erkenntnis ist kein Wissen über dies oder das. Sie ist kein Wissen über Details der Wirklichkeit. Sie ist die Erfahrung ihrer Einheit. Sprache kann sie nicht vermitteln. Sprache kann nur in ihre Richtung deuten. Der Mystiker schließt die Lippen, weil man über das Höchste nicht reden kann.

  4. Dem Schweigen des Mystikers nach außen entspricht ein inneres Schweigen. Das innere Schweigen ist grundlegend. Erst wenn das Denken, also die innere Verbalisierung von Urteilen, Vermutungen und Vorstellungen aussetzt, hat das mystische Erlebnis der Einheit Gelegenheit aufzutauchen.

Da er sich mit Wahrheiten befasst, die niemals ganz in Worte passen, schweigt der Mystiker nicht, um etwas zu verschweigen. Obwohl er vieles nicht sagen kann, gilt für ihn erst recht: Wer Wahrheit wahrhaft anerkennt, will sie, soweit er kann, verschen­ken. Heureka.

3. Verwechslungen und Unterschiede

Um das Wesen der Mystik besser zu verstehen, sind Unterschiede hervorzuheben: Der...

  1. Unterschied zwischen Mystik und Okkultismus
  2. Unterschied zwischen Mystik und Esoterik
  3. Unterschied zwischen schweigender und sprechender Religion
  4. Unterschied zwischen Vermittler und Berater
  5. Unterschied zwischen Dualismus und Monismus
Wissen und Ego
In Unkenntnis der kategorischen Unterschiede werden mystische, esoterische und okkultistische Denkansätze oft miteinander vermengt. Esoteriker und Okkultisten neigen dazu, ihr Bemühen um geheimes Wissen oder ihren Glauben, in dessen Besitz zu sein, für Mystik zu halten. Das stiftet Verwirrung. Das Interesse an geheimem Wissen ist egozentrisch motiviert. Es dient dazu, Unwissenden, und dem vermeintlich Wissenden ebenfalls, eine Überlegenheit vorzugaukeln, die dem Selbstwertempfinden des Geheimnisträgers auf die Beine helfen mag, die aber kaum je auf echtem Wissen beruht. Das Ziel der Mystik ist anders: Sie zeichnet nicht den einen gegenüber dem anderen aus, sondern schiebt jede Auszeichnung des einen beiseite, damit er sein wahres Wesen erkennt. Deshalb sind auch nebelverhangene Landschaften nicht mystisch, wie es zuweilen heißt. Nebelverhangene Landschaften sind nebelverhangen. Sie mögen den Ursprung erahnen lassen, der sie geschaffen hat. Mystisch ist kristallene Klarheit.
3.1. Schweigen und Verschweigen

Eine Geheimlehre ist eine Lehre, deren Wissen geheim gehalten wird. Die sprachliche Verwandtschaft von Mysterium und Mystik zeigt keines­wegs an, dass es sich bei der Mystik um eine solche Geheimlehre handelt. Das Gegenteil ist der Fall. Hält man Wissen über das, was man für heilig hält, geheim, handelt man nicht mystisch, sondern okkultistisch (lateinisch: occultus = verborgen)

Okkultismus versucht, echtes oder vorgebliches Wissen zum Vorteil dessen auszunutzen, der okkulte Rituale ausübt. Die Trennung zwischen Wissendem und Unwissendem ist für den Okkultisten unentbehrlich. Er strebt Trennung aktiv an; wie zum Beispiel beim Eleusinischen Mysterienkult.

Meist synonym mit dem Begriff Okkultismus wird der der Esoterik gebraucht. Er geht auf Griechisch esotericos [εσωτερικος] = innerlich, zum inneren Zirkel gehörig zurück. Ein Wissen ist esoterisch, wenn es nur einem Kreis Eingeweihter zugänglich ist.

Ämter und Funktionen

Die mystische Erfahrung ist kein Gruppenerlebnis; obgleich mystische Wahrnehmungs- und Versen­kungsübungen sehr wohl in der Gruppe ausgeübt werden können. Mystik steht für die unmittelbare Suche des Einzelnen nach dem, was er für göttlich hält. Geht ihm die Verbindung auf, erkennt er die fundamentale Verbundenheit mit allen anderen. Techniken mystischer Versenkung können gelehrt werden, Mystik braucht aber keine Vermittler.

Konfessionelle Religiosität dient auch dem Lebens­unterhalt ihrer Funktionsträger.

Galater 6, 6:*
Wer sich unterweisen läßt im Worte, gebe dem, der ihn unterweist, Anteil an allen Gütern.

1 Timotheus 5, 17:*
Presbyter, die gute Vorsteher sind, halte man doppelter Ehre wert... Denn es sagt die Schrift: "Du sollst einem dreschenden Ochsen das Maul nicht verbinden" (5 Moses 25, 4*).

Mystik hält das Priesteramt für überflüssig. Daher wird sie von dort aus misstrauisch beäugt oder gar als Mystizismus verächtlich gemacht. Da Mystik Wesenskern eigenständig religiösen Strebens ist, versucht konfessionelle Religion sie zu kontrollieren (französisch contre-rôle = Gegenrolle).

Mystik strebt keine Ausgrenzung an, sondern die Unio mys­tica mit dem Ganzen. Bei der Unio mystica handelt es sich um ein Erlebnis der Einheit des Ich mit der Ganzheit der Wirklichkeit. Je nach weltanschaulicher Tradition wird sie auch als Verschmelzen des Ich mit Gott verstanden; z.B. von Meister Eckhart.

Anderen Wissen um das gemeinsame Ganze vorzuenthalten, ist Mystik wesensfremd. Mystik kennt unterschiedliche Reife­grade des Erkennens, aber keine Hierarchie vermeintlicher Befugnis zu wissen. In den Augen des Mystikers ist Wahrheit Substanz des Geistes. Sie jemandem vorzuenthalten, ist Betrug.

Ursachen der Verwechslung

  1. Der schweigende Blick nach innen ist ein tragendes Mittel mystischer Erkenntnis. Wer schweigt, teilt nicht mit.

  2. Die Erkenntnis, um die sich ein Mystiker bemüht, ist begrifflich nicht zu fassen. Dass Mystiker oft wortkarg sind, ist keine Geheimnistuerei. Es ist der Tatsache gezollt, dass ihre Erkenntnisse durch Erfahrung zwar nachvollziehbar sind, aber weder gepredigt noch verbal vermittelt werden können. Wer das nicht versteht, neigt dazu, das Schweigen des Mystikers als ein Verschweigen fehlzudeuten, also zu glauben, dass das Schweigen dazu dient, anderen Erkenntnisse vorzuenthalten.

  3. Das Bedürfnis des Menschen nach persönlicher Aufwertung ist groß. Sich im Besitz eines geheimen Wissens zu wähnen oder so zu tun, als ob man es sei, ist ein Mittel, um Selbstwertzweifel zu dämpfen. Geheimnisträger zu sein, vermittelt ein Gefühl der Überlegenheit. Seit der erste Schamane den Willen der Götter im Vogelflug zu erkennen glaubte, haben viele ihre Lebensangst durch die Illusion bewältigt, ihnen sei ein Wissen anvertraut, das anderen vorenthalten oder gar vorzuenthalten ist. Da Schweigen und Verschweigen oberflächlich betrachtet ähnlich sind, wurden Mystik und okkultistische Bünde miteinander verwechselt.

    Der okkultistische Charakter der biblischen Lehre ist offensichtlich. Selbst den einfachen Priestern, die am Offenbarungszelt (der "Wohnstätte des Herrn") Dienst taten, war es auf Geheiß Moses' bei Todesstrafe untersagt, den Vorhang zu lüften; also durch eigene Erkenntnis etwas in Erfahrung zu bringen.

    2 Moses 19, 21:*
    Steige hinab und befiehl nachdrücklich dem Volke, daß es zu dem Herrn nicht durchbreche, um ihn zu sehen; denn viele von ihnen müssten sonst umkommen.

    4 Moses 17, 17 -28:*
    Wer der Wohnstätte des Herrn sich nur nähert, muss sterben!

    4 Moses 3, 10:*
    "... jeder Unbefugte, der herantritt, soll getötet werden."

  4. Das Zeitalter des Glaubens war für Mystiker lebensgefährlich. Die konfessionelle Religiosität, die das europäische Mittelalter beherrschte und die anderswo immer noch alle Macht in Händen hält, war Mystik gegenüber zwiespältig oder feindselig eingestellt. So hatten Mystiker tatsächlich etwas zu verbergen: aber nicht mystisches Wissen, sondern ihr Interesse daran; denn dafür, dass Mystik den Glauben an Dogmen hinter sich lässt, haben die Befürworter des gehorsamen Unwissens so manchen Mystiker umgebracht.


3.2. Sprechende und schweigende Religion

Für die einen findet der eigentlich religiöse Akt im Schweigen statt, für die anderen beim Reden. Für die einen ist es eine Ausschau nach dem, was ihr Wesen begründet. Für die anderen ist es das Bemühen, jene Rolle zu spielen, die Ihnen von außen vorgegeben wird, oder Lehrmeinungen zu verkünden. Zwischen der sprechenden und der schweigenden Religion gibt es grundsätzliche Unterschiede. Sie sind so groß, dass man fragen kann, ob der gemeinsame Begriff Religion für so unterschiedliche Ausrichtungen anwendbar ist.

Inhalt und Form

Mystisch Konfessionell
Sucht Inhalt: Was bin ich? Gibt Formen vor: So sollst du sein!
Will möglichst wenig glauben. Will möglichst fest glauben.
Will das Ich vom Personsein befreien. Will das Ich als Person unterwerfen.
Hält Ausschau und schweigt. Predigt und spricht Gebete. Verkündet das Wort.
Versucht, Inhalte und Ereignisfolgen zu verstehen. Versucht, Ereignisse zu beeinflussen. Der Laie soll durch Predigten und Gott durch Gebete beeinflusst werden.
Betreibt Hinsichten:
Wenn ich erkenne, was ich wirklich bin, genügt es mir, nichts anderes als das zu sein, was ich entdecke.
Verfolgt Absichten:
Ich trachte danach, die Entscheidungen Gottes und mich selbst so zu verändern, dass es zu meinem Vorteil ist.
Versucht, Vorstellungsbilder zu überwinden. Legt Vorstellungsbilder fest.
Versucht, im Unbegreifbaren zu stehen. Packt Begriffliches in Worte.
Deutet die Welt holozentrisch: Der Mittelpunkt der Welt ist überall. Oben ist unten und unten ist oben. Vertritt hierarchische Strukturen: Oben ist oben und unten ist unten.
Ent-kennt sich:
Ich lege keinen Wert darauf, als diese oder jene Person erkennbar zu sein. Jenseits von Gott habe ich keine bedeutsame Form.
Be-kennt sich:
Ich kennzeichne meine Person als dies oder das. Diesseits von Gott lege ich Wert auf die Form, als die ich erscheine.
Ich will das Gegebene als Gut erkennen. Ich will sehen, wie Gott gut ist. Ich will von Gott als ein Guter erkannt werden. Er soll sehen, dass ich gut bin.
Sucht reine Zugehörigkeit in Unio mystica. Formuliert Gruppenzugehörigkeit in Abgrenzung gegenüber anderen.
Forscht und nimmt wahr. Denkt und urteilt.
Fragt, was wahr ist. Sagt, was für wahr zu halten ist.
Authentizität Rollenspiel

Wer missioniert, zeigt an, dass er vom Wesen der Religion nur wenig verstanden hat. Mystiker missionieren nicht. Sie ziehen Schüler an, weil sich ihr Ruf herumspricht.

Der Mystiker benutzt wenig Worte, weil er das, womit er sich befasst, nur schwer in Worte fassen kann. Der Prediger verkündet Botschaften durch viele Worte; wobei es unwesentlich ist, ob er weiß, wovon er redet, weil die offiziell gültigen Inhalte der Botschaften und Worte vorgegeben sind.

Bekenntnis und Erkenntnis

Während mystische Erkenntnis durch Worte nicht vermittelbar ist, ist der namensgebende Akt konfessioneller (lateinisch con-fiteri = bekennen) Religion verbal.

Be-kennen heißt: ein Kennzeichen hinzufügen. In vielen Verben bezeichnet die Vorsilbe be- den Akt des Hinzufügens. Zum Beispiel in: bezeichnen, beurteilen, bewässern, bekleben, benennen...

Ein Bekenntnis ist die Markierung einer Person. Markierungen dienen der Unterscheidung. Die Bedeutung des Bekenntnisses geht auf die alttestamentarische Tradition zurück. Das Pessah-Fest feiert die erfolgreiche Markierung von Menschen zwecks Unterscheidung.

2 Moses 12, 3-27:*
Am Zehnten... nehme jeder ein Lamm für seine Familie... dann soll es die ganze Gemeinde Israels... schlachten! Von dem Blut sollen sie... die beiden Türpfosten... an den Häusern bestreichen, in denen man es essen wird... Ihr sollt es essen in Hast, es ist ein Pascha (ein Vorübergehen) für den Herrn. Ich will in dieser Nacht durch Ägypten schreiten, werde alle Erstgeborenen schlagen... Das Blut an den Häusern, in denen ihr weilt, soll euch zu einem Schutzzeichen sein; wenn ich das Blut sehe, dann schreite ich an euch vorüber. So wird euch kein Vertilgungsstreich treffen, wenn ich das Ägypterland schlage...

Da die alttestamentarische Tradition zwischen Menschen unterscheidet, deren Leben Gott bewahren will und solchen, die er zu vernichten trachtet, legt sie Wert darauf, dass sich ihre Gläubigen durch ein Bekenntnis markieren. Dazu gehört auch die Beschneidung. Wer das Schutzzeichen des Bekenntnisses nicht trägt, wird umgebracht.

3.3. Vermittler und Berater

Die mystische Erfahrung ist kein Gruppenerlebnis; so wie es zum Beispiel ein gemeinsamer Gottesdienst ist, der spezifische Ritu­ale zelebriert. Das heißt aber nicht, dass mystische Religion ei­ne Angelegenheit einsamer Asketen sein müsste. Mystik stiftet vielmehr eine Verbundenheit, die über jede Verbundenheit hinausgeht, die Bekenntnisreligion vermitteln kann.

Zwei Formen der Verbundenheit

Konfes­sionell Mys­tisch
Unsere Verbundenheit ist ein Bündnis Gleichgesinnter. Wir haben ein gemein­sames Selbst.

Zwei Menschen sind niemals die gleichen, aber immer Derselbe.


Hölle und Spaltung

Konfessionelle Religion bleibt dem Ego verhaftet. Sie glaubt, dass es tausend Selbste gibt. Sie spaltet die Welt in Gut und Böse. Sie unter­scheidet zwischen lebenswert und lebens­unwert. Sie verkündet, dass die, die sich als unwert erweisen, in die Hölle zu verstoßen sind.


Irrtum als Quelle des Bösen

Mystik geht von einem gemeinsamen Selbst allen Lebens aus. Für Mystik gibt es keine Hölle, in der sich der böse Teil dieses Selbst vom guten quälen lässt. Alles Quälenwollen deutet Mystik als Folge irrtümlicher Spaltung.

Die Verbundenheit konfessioneller Religion führt zum Erleben so­zialer Gemeinschaft. Zur Gemeinschaft konfessioneller Gruppen gehören Vermittler, die anderen übergeordnet sind. Sie teilen mit, was der Untergeordnete zu denken, zu tun und zu lassen hat. Im abrahamitischen Kulturkreis handeln sie angeblich im persönlichen Auftrag Gottes. Auch Gott spielt dort als Gottes­person die Rolle einer zwar transzendenten, aber letztlich sozialen Instanz. Er ist der ultimative Gruppenführer. Solche Strukturen geben vielen Menschen Sicherheit. Sie sind geeignet, politische Verhältnisse stabil zu halten.

Die Verbundenheit mystischer Religion liegt im Erleben existen­zieller Identität. Da der Mystiker das Selbst des Anderen als das eigene anerkennt, gibt es keine Hierarchie. Statt Vermittler mit Sonderstatus im Rahmen einer sozialen Organisation ist der Mystiker Berater. Er sagt nicht, was Untergebene tun sollen, sondern was Ebenbürtige tun können, um die gleiche Einsicht zu erreichen wie er selbst.

3.4. Dualismus, Geheimnis, Paranoia

Die Verwechslung von Mystik und Geheimlehre basiert auf zwei grundsätzlich unterschiedlichen theologischen Ansätzen: Monismus und Dualismus. Die dualistische Sicht spaltet zwischen Gott und Geschöpf, die monistische geht von einer Wesensgleichheit aus. Mystik ist monistisch. Konfessionalismus, also der Glaube an die ausschlaggebende Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit, ist dualistisch.

Wer monistisch denkt, versteht, dass Geheimlehre keine Mystik ist. Wer dualistisch denkt, riskiert sie zu verwechseln.

Man kann schweigen, um Wahrheit zu entdecken und man kann schweigen, um sie geheimzuhalten. Das eine Schweigen ist Weisheit, das andere Verblendung.

Das dualistische Bild betont die Rivalität von Menschen und Gruppen. Damit verbunden sind typische Vorstellungen über den Zugang zur Wahrheit. Dualistisches Denken deutet Wahrheit nicht als Gemeingut, das Gott als Substanz seiner selbst jedem Einzelnen zwecks Erkenntnis offenlegt. Wahrheit wird im Dualismus zu einem Werkzeug der Konkurrenz. Sie wird zum Besitz derer, die von einem parteiischen Gott als Besitzer bestimmt sind. Deshalb glaubt der Okkultist, der immer dualistisch denkt, er handele in irgendeiner Weise religiös, wenn er Wahrheit geheimhält. Und er glaubt, Gott selbst verheimliche absichtlich Wahres. Der Okkultist glaubt, Gott verschlüssele Botschaften, damit nicht jeder sie lesen kann.

So glaubten die Kabbalisten, im hebräischen Text der Bibel seien Botschaften versteckt, die Eingeweihte mit Methoden der sogenannten Zahlen- und Buchstabenmystik (Gematrie, Temura, Notarikon) entschlüsseln könnten. Tatsächlich ist ein solcher Denkansatz nicht mystisch, sondern esoterisch bzw. okkultistisch.

Geheimnis
Unschwer zu erkennen ist die sprachliche Verbindung zwischen geheim und Heim. Als geheim fasste man ursprünglich alles zusammen, was zum eigenen Heim gehört, was andere Leute quasi nichts angeht und somit Privatsache ist. Heim seinerseits entspringt der indoeuropäischen Wurzel kei = liegen. Das Heim kaukasischer Steppenbewohner war eine Lagerstätte.

Die Verwechselung mystischen und okkultistischen Wissens kann auf die Über­schneidung verschiedener Begriffsbedeutungen zurückgeführt werden. Der Okkultist denkt dualistisch. Da er daran glaubt, dass Trennung grundlegend ist, sind andere für ihn potenzielle Konkurrenten, und es gilt, ihrem Zugriff etwas zu entziehen. Der Mystiker denkt monistisch. Da Konkurrenz für ihn bloß Erscheinung ist, ist das Geheimnis für ihn nichts, was unter Verschluss zu halten ist, sondern die gemeinsame Heimat aller, deren Zugang er sucht.

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Sie verstehen nicht, was da steht? Ich auch nicht. Sapperlot: Man will uns etwas verheimlichen.

Die Idee, das Gott Wahrheit verheimlicht, ist paranoid. Eine ähnlich parano­ide Vorstellung wäre der Glaube, die Chinesen hätten ihre Schriftzeichen ab­sichtlich so gestaltet, dass Europäer nichts verstehen. Tatsächlich versteht der Europäer nichts, weil er nichts versteht, aber nicht, weil ihm das Ver­ständnis vorenthalten werden soll.

4. Mystik und seelische Gesundheit

Selbsterkenntnis ist der Königsweg mystischer Bemühung. Zugleich ist sie ein wesent­liches Mittel der Psychotherapie. Je nach Brennweite, mit der man sich betrachtet, kann eine Aufteilung in drei Stufen der Introspektion beschrieben werden.

Die ersten beiden Schritte der Selbsterkenntnis ermöglichen eine verbesserte Einbin­dung der Person ins soziale Umfeld, und damit eine Milderung psychischer Leiden. Trotzdem bleibt auch nach der Behandlung der klassischen Neurose durch psycho­therapeutische Verfahren eine Urangst bestehen, die je nach Lage der Dinge rasch in neues Leid eskalieren kann. Die Beseitigung dieser Grundangst liegt in den Händen der Mystik. Durch sie ist eine vollständige seelische Heilung erreichbar; was in der Regel aber nur gelingt, wenn die mystische Betrachtung der Wirklichkeit zum bestimmenden Lebensinhalt wird.

Eine Begegnung mit der Wirklichkeit
Unterwegs hatte sich Roon in eine Situation gebracht, in der er glaubte, sterben zu müssen. Sobald er vom unausweichlichen Ende überzeugt war, änderte sich sein Selbsterleben. Er sah sich nicht mehr als Person, die dem Tod geweiht auf einem Felsen saß. Er sah sich als das situative Ganze, in der das Schicksal seiner Person vonstattenging. Den Felsen, das Meer, die Steilwand im Rücken, das Gleißen der Sonne, ihr Glitzern auf dem Wasser und die Hitze um sich herum empfand er als sich selbst. Da klar war, dass all das den Tod des Körpers überdauern würde, hatte der Tod seinen Schrecken eingebüßt. Roons persönliches Ich konnte offensichtlich nichts mehr für ihn tun. Es löste sich in der Umgebung auf.

Als ein Boot kam und sich das Sterben erübrigte, zog sich das Ich prompt in Roons Person zurück. Es sprang auf, winkte und rief den Bootsleuten zu. Seitdem ist es wieder im Dienst für Roons persönliche Vorteile gefangen. Die Gefangen­schaft ist aber verändert: Es weiß, dass es echte Freiheit gibt und zuweilen hat es Ausgang.

5. Methoden und Ziele der Mystik

5.1. Ziele

Das Ziel mystischen Strebens ist das Erleuchtungserlebnis. Im westlichen Kulturkreis wird es als Unio mystica bezeich­net und unter dem Einfluss der personalisierten Gottesbilder Europas als Verschmelzen von Gott und Mensch gedeutet.

Ostasiatische Kulturen messen der mystischen Erfahrung eine zentrale Bedeutung zu. Gläubige Laien und Mönche ostasiatischer Religionen, besonders des Buddhismus, Taoismus, Hinduismus und Jainismus, wenden meditative Techniken an, deren Endziel das Erleuchtungserlebnis ist. Sie tun das weit häufiger als die Anhänger abrahamitischer Glaubenslehren.

Das Erleuchtungserlebnis wird auch als Satori (japanisch: さとり = Verstehen), Bohdi (Sanskrit: बोधि = Erwachen) bzw. Samadhi (Sanskrit: समाधि = Versenkung, Sammlung) bezeichnet. Der Erleuchtete versteht, erwacht und versammelt den Geist in der Wirklichkeit.

Teils wird das Erleuchtungserlebnis als singulärer Vorgang aufgefasst, bei dem die Ver­mutung, dass das individuelle Ich wesensgleich mit der göttlichen Ganzheit ist, durch die mystische Erfahrung plötzlich in Gewissheit übergeht. Im Regelfall geht einem solchen Erkenntnisakt ein langer Prozess meditativer Übung voraus, der den Umschlag von gläubiger Vermutung in erlebnisgestützte Gewissheit vorbereitet.

Jetzt, damals und dann
Jetzt ist alle Wirklichkeit. Jeder mentale Inhalt, der sich mit der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigt, wird nicht allein durch wahrnehmbare Wirklichkeit bestimmt, sondern durch Vorstell­ungen, deren Ausgangpunkt Erinnerungen oder Pläne sind. Unverstellt kann Wirklichkeit nur wahrnehmen, wer Vergangenheit und Zukunft außer Acht lässt.

Voraussetzung des vollen Erleuchtungserlebens ist die Unterscheidung von Vorstellung und Wirklichkeit. Um diese Unterscheidung bis zum letzten Schritt zu treffen, bedarf es unbedingter Achtsamkeit, da sich der Geist die mystische Verbundenheit so lebhaft vorzustellen weiß, dass die vorgestellte Verbundenheit die Erfahrung der wirklichen durch das Vorstellungsbild überdecken kann.

Die tatsächliche Erfahrung der Seinsgleichheit wird nur selten erreicht. Die Ausrichtung des Selbstbilds entlang mystischer Glaubensvorstellungen und die meditative Achtsam­keit wirken jedoch - lange bevor Gewissheit erreicht wird - heilsam bei vielen seelisch­en Erkrankungen. Deshalb führen mystische Erkenntniswege auch dann zu gesteiger­tem Wohlbefinden, wenn das Endziel nicht erreicht wird.

Erkenntnis und Nichtigkeit

Je mehr sich der Erkenntnishorizont erweitert, desto mehr verschieben sich die Relationen. Je weniger man vom Rest der Wirklichkeit weiß, desto wichtiger erscheinen die persönlichen Belange. Je mehr Komplexität man erkennt, desto deutlicher tritt die Bedeutungsarmut der eigenen Person zutage. Tatsächlich spielt die Person im Kontext der Wirklichkeit eine verschwindend kleine Rolle. Ihre Bedeutung geht gegen Null.

Wachsende Erkenntnis stellt den Erkennenden damit vor die Entscheidung: Versucht er seine Bedeutungslosigkeit als Person zu verleugnen oder akzeptiert er sie? Da das Denken ein Werkzeug der Person ist, um ihre Stellung im Kosmos zu stärken, setzt es nur aus, wenn die persönliche Bedeu­tungslosigkeit akzeptiert wird. Das fällt schwer. Aus echter Akzeptanz gibt es keinen Weg zurück.

5.2. Methoden

Mystik findet als schweigende Betrachtung statt. Sie ist eine kontemplative Haltung (lateinisch contemplare = betrach­ten). Während das äußere Schweigen leicht zu verwirklichen ist, ist inneres Schweigen die zentrale Herausforderung des mystischen Übungswegs. Fast jeder trifft dabei auf Schwierigkeiten.

Inneres Schweigen heißt Stillstand aller Denkvorgänge. In der Regel beschäftigt sich das Bewusstsein unentwegt mit den Belangen der Person. Es denkt, erinnert sich, urteilt, stellt Vermutungen an, sucht nach Rechtfertigungen für zweifelhafte Taten, diskutiert im Geiste mit Bezugspersonen, macht sich selbst, der Wirklichkeit und anderen Leuten Vorwürfe. Bei all dem gibt es einen gemeinsamen Nenner: Das auf das Interesse der Person zentrierte Bewusstsein ist davon überzeugt, dass es zum Vorteil der Person in die Wirklichkeit eingreifen müsse... und es ist dermaßen über­zeugt, dass es den Vorsatz, etwas zum eigenen Vorteil zu tun, nicht fallenlassen kann. Deshalb denkt es immer weiter. Es dreht sich unaufhörlich um die beschränkte Themenwelt der eigenen Person. Es kann die Wirklichkeit nicht lassen, wie sie ist.

Mystische Befreiung heißt: aus der Umlaufbahn um den Kleinplaneten Ego auszu­brechen und die Identität mit der Unendlichkeit des Raumes einzusehen. Um das zu erreichen, haben Mystiker aller Kulturkreise zahlreiche Techniken entwickelt, die je nach Temperament und Beharrlichkeit für den Einzelnen mehr oder weniger geeignet sind. Vier davon seien vorgestellt:

  1. Fokussierung der Aufmerksamkeit
  2. Offene Achtsamkeit
  3. Fokussierung des Denkens
  4. Zurückweisung des egozentrischen Denkens

Alle vier Methoden werden im Rahmen der Meditation eingesetzt. Zwei davon schulen die Wahrnehmung, zwei nutzen das Denken.

5.2.1. Fokussierung der Aufmerksamkeit

Die wohl bekannteste Art der Aufmerksamkeitsfokussierung richtet das Bewusstsein auf den Atemrhythmus aus. Sobald Gedanken aufkommen, die das Bewusstsein vom Atem­vorgang ablenken - und das tun sie beharrlich -, wendet sich der Meditierende aktiv vom Denkinhalt ab und fokussiert erneut den Atem.

Anstelle des eigenen Atems kann grundsätzlich jeder andere wahrnehmbare Vorgang oder Zustand als Meditationsobjekt verwendet werden; zum Beispiel: die Lage der Zunge im Mund, das Ticken einer Uhr, das Rauschen des Windes in den Bäumen. Eine weitere Variante ist die Gehmeditation. Beim Gehen wird auf den Vorgang des Schreitens geachtet, statt wie üblich an sonstige Belange zu denken.

5.2.2. Offene Achtsamkeit

Statt die Aufmerksamkeit aktiv auf einen Punkt zu bündeln, kann man sie auch offen lassen. Offene Achtsamkeit heißt: Ich nehme alles wahr, was auf der Lichtung des Bewusstseins auftaucht. Dabei bleibe ich Beobachter. Als Beobachter stelle ich fest, was meine Person gerade beschäftigt. Ich lasse mich aber nicht auf Denkvorgänge ein, die das aufgetauchte Thema fortentwickeln.

Indem auftauchende Phänomene ohne Urteil benannt werden, verhindert man, von ihrer Thematik vereinnahmt werden. Statt sich im Entwurf weiterer Vorstellungen zu verlieren, bleibt man an der Quelle des Denkens und beobachtet, was spontan aus der Tiefe aufsteigt.

Akzeptanz · Sein und Auchsein

Sein ist kein Nichtsein. Meist glauben wir, dies zu sein heiße, das nicht zu sein. Das ist nur eine Ebene der Betrachtung. Es gibt kein Sein, dem ein Nichtsein entspräche. Dem Sein steht kein Nichtsein gegenüber, sondern ein Auchsein zur Seite.

5.2.3. Fokussierung des Denkens

Um dem ständigen Kreisen des Denkens entgegenzuwirken, kann man es auf eine bestimmte Vorstellung ausrichten. So eine Vorstellung nennt man Mantra. Als Mantra kann jedes Wort, jeder Satz, jede Vorstellung verwendet werden. In Ostasien wird oft die Silbe OM als Mantra benutzt; oder man wählt einen Namen, der Gott oder das Göttliche bezeichnet. Die ständige Wiederholung des einen Gedankens soll das Kreisen des Denkens um egozentrische Themen verhindern. Gelingt das, steigt die Chance, dass auch der letzte Gedanke aussetzt und das Bewusstsein in den Zustand inneren Schweigens springt.

5.2.4. Zurückweisung des egozentrischen Denkens

Eine ruppige, aber effektive Variante kann die unmittelbare Zurückweisung egozen­trischer Denkinhalte durch ihre gedankliche Aburteilung sein. Diese Methode ist nur für Personen mit stabilem Selbstwertempfinden geeignet.

Es ist doch so: Wäre der Meditierende mit seinem Dasein auf der Umlaufbahn des Kleinplaneten glücklich, würde er nicht meditieren. Er meditiert jedoch, weil er das Dasein in der Gefangenschaft des Kleinplaneten vor dem Hintergrund des Universums als jämmerlich erkennt. Da er aber unter der Vormundschaft des Egos steht und das Ego die Kümmerlichkeit seines Horizonts nur widerstrebend anerkennt, sagt er das nicht offen. Dem Ich fällt es schwer sich einzugestehen, dass es sich für die Bereitschaft, dem Ego zu dienen, klein macht und sich im nächsten Schritt dafür verachtet.

Unterschiede
Sich Verachtung einzugestehen ist etwas anderes, als sie zu betreiben.

Zum Zweck der meditativen Zurückweisung des egozentrischen Denkens beobachtet der Meditierende aufkeimende Gedanken und Impulse. Er entscheidet, ob sie egozen­trischen Zielen dienen, ob sie sich also mit Vor- und Nachteil für die Person befassen.

Je genauer man hinschaut, desto mehr erkennt man, hinter wie vielen Gedanken das Trachten nach persönlichen Vorteilen steht. Ist das der Fall, spricht der Meditierende sein Urteil. Er sagt: Dass ich mich schon wieder damit beschäftige... das ist erbärmlich.

Wohlgemerkt

Nicht die Belange der Person an sich sind als erbärmlich aufzufassen. Als erbärmlich zu betrachten ist die ständige Beschäftigung damit; zumindest, wenn man den Ehrgeiz hat, sich mystisch zu erleben. Die Belange der Person sind angemessen, wenn sich der Geist nicht mehr damit befasst als es der Bedeutung der Person im Ganzen zukommt.

Das Eigenschaftswort erbärmlich ist willkürlich gewählt. Nicht für jeden ist es passend. Alternativ kommen nebensächlich, unwichtig, unbedeutend, bedeutungslos, jämmerlich, kleinkariert und andere in Betracht. Wählen Sie ein Wort, das sich für Sie am besten anfühlt. Wichtig ist, dass der Begriff nicht dazu dient, das Ego abzuwerten, sondern sich selbst aus seinen Diensten zu entlassen.

Dabei geht es nicht darum, Gedanken und Impulse unmittelbar zu steuern. Es gilt zu erkennen, mit welchem Selbstbild man sich identifiziert.

6. Mystisches Erleben und pathologische Abweichung

Mystische Erfahrungen sind ungewöhnlich. Ungewöhnliche Erlebnisformen gibt es aber auch außerhalb primär religiöser Zielsetzungen. Nicht selten werden solche Erfahrungen dann im religiösen Sinne gedeutet. Zu nennen sind vier Felder:

  1. Manie
  2. Schizophrene Psychosen
  3. Bewusstseinsveränderungen durch psychedelische Substanzen
  4. Temporallappenepilepsie
Manie ist Tatendrang. Mystik ist Stille.
6.1. Manie
Mystische Erfahrungen können von ekstatischen Glücksgefühlen begleitet sein; maniforme Zustände ebenfalls. Es stellt sich die Frage: Wie ist das eine vom anderen zu unterscheiden? Während die eindeutige Unterscheidung in der Praxis schwierig sein mag, ist sie theoretisch einfach. Wesentliche Unterscheidungs­merkmale lassen sich aus den psychodynamischen Mustern ableiten, die den beiden Erlebnisweisen zugrunde liegen.

Das Ego als Anwalt der Person beschäftigt sich mit der Frage, wie man die Welt zu deren Gunsten beeinflussen kann. Gerät es in einen maniformen Überschwang, glaubt es, bis dato gültige Grenzen seiner Macht seien weggefallen. Es macht sich entweder beflügelt ans Werk die Welt zu beeinflussen - es redet auf andere ein, versucht zu überzeugen, trifft persönliche Entscheidungen von großer Tragweite - oder es ver­steigt sich in unrealistische Phantasien, was es von nun an in der Welt alles verändern kann. Wird es im Anschluss an den Überschwang von den Fakten ernüchtert, kann es sein, dass der Enttäuschung eine depressive Phase folgt.

Die mystische Erfahrung verändert das Ego nicht. Sie ordnet es neu ein. Das mani­forme Ich bleibt mit dem Ego identifiziert, das mystische sieht es in neuem Licht und erkennt es als bloße Funktion. Es verliert im Selbstbild an Bedeutung. Da sich das Ich in der mystischen Erfahrung nicht mehr mit dem Ego verwechselt, fehlt ihm der Drang, die Welt aus der gewonnenen Erkenntnis heraus zum eigenen Vorteil zu beeinflussen. Es trifft keine wesentlichen Entscheidungen. Es handelt so gut wie nicht. Es lässt die Welt so sein, wie sie ist. Es ruht im Vorrang der Betrachtung.

Unterschiede

Manie Ich bin großartig und alles wird besser.
Mystisches Erlebnis Ich bin, was ich bin, und es ist gut, dass es so ist.

6.2. Schizophrene Psychosen

Zu den klassischen Symptomen schizophrener Psychosen gehören Halluzinationen aller Art, aber auch Stimmungsveränderungen, deren Bedeutung und Ursache oft wahnhaft ausgedeutet werden; oder die ihrerseits durch Wahnideen verursacht sind.

Viele Betroffene betrachten derlei Wahrnehmungen nicht als trügerisch, sondern als blanke Realität. Es mag daher kein Zufall sein, dass sich schizophren Erkrankte häufig mit religiösen oder kosmologischen Fragen beschäftigen. Falls psychotisches Erleben den Psychotiker ebenso befreit wie mystisches den Mystiker, wäre nicht zu unter­schei­den, ob das eine tatsächlich etwas anderes, als das andere ist. Meist hat man aber den Eindruck, dass Schizophrene in der Gefangenschaft ihrer Ideen verbleiben.

6.3. Wirkung psychedelischer Substanzen

Psychedelische Drogen können drastische Veränderungen der Wahrnehmung hervor­rufen. Es kann zur verzerrten Wahrnehmung realer Objekte kommen, zur Intensivierung des Erlebens, zur Entstehung von Trugwahrnehmungen ohne objektive Korrelate und zu Verschmelzungserlebnissen, die entweder meditativ bewirkten Erfahrungen entsprech­en, oder kaum objektiv davon abzugrenzen sind.

Schon seit Menschengedenken werden solche Substanzen nicht nur als Suchtmittel missbraucht. Sie werden auch im Rahmen religiöser Kulthandlungen gezielt eingesetzt, um visionäre Erweiterungen des Bewusstseins zu bewirken oder um Kontakt zu jenseitigen Mächten aufzunehmen.

Auch in der Psychotherapie wird über den Stellenwert psychedelischer (z.B. LSD, Psilocybin, Ayahuasca) bzw. entaktogener (MDMA) Substanzen diskutiert. Die einen sehen ein integratives Potenzial, das Parallelen zur mystischen Erfahrung aufweist, andere verweisen auf gesundheitliche Risiken.

6.4. Temporallappenepilepsie

Bei der klassischen Form der Epilepsie kommt es zum Verlust des Bewusstseins und zu Muskelzuckungen: dem Grand-mal-Anfall. Die Medizin kennt aber auch andere epileptische Erscheinungsformen, zum Beispiel die Temporallappenepilepsie. Dabei kommt es zu sogenannten psychomotorischen Anfällen, bei denen das Bewusstsein nicht erlischt, sondern sich vielmehr unwillkürlich verändert. Es kann zu akustischen oder optischen Halluzinationen kommen, zu Déjà-vu-Erlebnissen oder zum Erleben intensiver, gelegentlich ekstatisch-beglückender Gefühle. Während des Anfalls wird die Umwelt oft nicht wahrgenommen.

Verknüpfung
Es ist durchaus möglich, dass epileptische Erfahrungen religiöse Sinnsuche bewirken. Ein Beispiel, bei dem es vermutlich so war, ist Ramakrishna (1836-86). Ramakrishna war einer der herausragenden Vertreter des hinduistischen Bhakti-Joga, der anbetenden Hingabe an Gott. Durch die Beschreibungen seines Schülers Mahendranath Gupta kennen wir Ramakrishnas außergewöhnliche Bewusstseins­zustände, die offensichtlich ohne willentliches Zutun des religiösen Meisters auftraten... und als Samadhi, also als mystische Versenkungszustände eingeordnet wurden.

Die Charakteristika der Zustände lassen an psychomotorische Anfälle denken:

Man kann die Epilepsie als rein krankhafte Entgleisung auffassen. Man kann davon ausgehen, dass die normale Wahrnehmungsqualität der Wirklichkeit deren Wesen grundsätzlich am nächsten kommt. Beweise dafür gibt es nicht. Es könnte auch sein, dass die epileptoide Wahrnehmung der Wirklichkeit zuweilen Wirkliches offenbart, das dem normalen Funktionsmodus verborgen bleibt. Ähnliches gilt für Erfahrungen, die durch den Einfluss psychedelischer Substanzen oder endogener Psychosen vermittelt werden. Genaues wissen wir nicht.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.