Vom Umgang mit Missständen
Wer zufrieden sein will, muss Frieden schließen. Er muss sich und andere sein lassen, wie sie sind. Wer zufrieden ist, ist und lässt frei.
Frieden ist eine Abwandlung des Begriffs frei. Frei geht auf die indoeuropäische Wurzel prāi- = schützen, schonen, lieben zurück. Die Logik liegt auf der Hand: Was man liebt, schützt und schont man. Man will es so erhalten, wie es ist. Man unterwirft es keinem Zwang. Man lässt es frei. Indem man es sich selbst überlässt, ohne es für eigene Zwecke zu vereinnahmen, begegnet man ihm friedlich. Man schützt es vor Gefahren, die seine Freiheit mindern könnten.
Die Endsilbe -heit entspricht dem gemeingermanischen Hauptwort Heit. Heit meinte Stand, Wesen, Art, Beschaffenheit. Der Begriff Zufriedenheit benennt daher eine bestimmte Wesensart und die grundsätzliche Beschaffenheit eines Zustandes. Im Zustand der Zufriedenheit lässt man nicht nur einzelne Elemente so sein, wie sie sind, nämlich frei, sondern das Grundmuster des Verhaltens beruht insgesamt auf Akzeptanz. Der Zufriedene geht davon aus, dass die Wirklichkeit über seinem Urteil steht und er sie daher nicht wesentlich zu beeinflussen braucht. Der Zufriedene nimmt das Leben an. Der Unzufriedene will es unterwerfen.
So wünschenswert Zufriedenheit auch ist, so häufig ist ihr Gegenteil. Die Grundlagen der Unzufriedenheit können vier Kategorien zugeordnet werden.
Sozial
Der friedlichste Mensch kann kaum in Frieden leben, wenn der Nachbar es nicht will. Zwischenmenschliche Konflikte sind quasi unvermeidbar. Ständig muss man Kompromisse machen.
Ontologisch
Die Tatsache, sich überhaupt als Person zu betrachten, legt den Grundstein zu einer existenziellen Unzufriedenheit, die nur durch ein spirituelles Selbstverständnis zu überwinden ist.
In jedem Fall ist das Grundmuster der Unzufriedenheit eine Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Je mehr man glaubt, es sei unannehmbar, Ansprüche, Erwartungen und Bedürfnisse unerfüllt zu sehen, desto eher wendet man unfriedliche Mittel an, um den empfundenen Missstand zu beseitigen.
Zufriedenheit heißt, sich selbst und die Dinge so zu belassen, wie sie sind. Doch nicht alle Dinge bleiben so, dass man sie dauerhaft belassen möchte; zumindest solange man nicht zuschauen will, wie man verhungert. Das Leben findet in Körpern statt. Da Körper fließende Prozesse sind, die der physikalischen Dynamik des Universums unterliegen, neigt ihr momentanes Gleichgewicht stets dazu verlorenzugehen. Zum Leben gehört der Versuch, die physiologischen Gleichgewichte, und damit sich selbst, entgegen der Tendenz zum Zerfall zu erhalten. In jedem Entgegen steckt ein Stück Kampf.
Die Natur hat es daher so eingerichtet, dass der Genuss zufriedenen Lassenkönnens oft nur eine flüchtige Belohnung für vollbrachte Mühe ist. Das Leben schickt seine Insassen auch dann in den Kampf, wenn sie selbst nicht kämpfen wollen und auch kein Nachbar da ist, der sie zum Kämpfen provoziert.
Eigentlich gehören die anderen bereits zum Leben an sich. Darüber hinaus können sie jedoch eine besondere Plage sein. Nichts stört den Frieden von Menschheit und Seele mehr als die Ansprüche, die wir wechselseitig gegeneinander erheben. Da es uns schwerfällt, uns selbst zu genügen, erwarten wir etwas von anderen... und beginnen damit, sie für unsere Zwecke einzuspannen. Genau dasselbe tun sie gern mit uns. Das führt zu zweierlei:
Je mehr man von anderen erwartet, desto mehr versucht man, über sie zu bestimmen. Über andere bestimmen zu wollen, ist Unfrieden an sich.
Zwei Strategien
Wer von anderen viel erwartet, kann nur schwer mit ihnen zufrieden sein. Wer jede Erwartung anderer zu erfüllen versucht, kann nicht im Frieden mit sich selbst sein.
Die dritte Quelle der Unzufriedenheit, immerhin die, auf die man den größten Einfluss hat, aber auch die, die am schwersten zu überwinden ist, ist die Person, als die man sich selbst betrachtet. Während man vor den Ansprüchen anderer fliehen kann oder sich gegen sie verwahrt, kann man eigene Ansprüche aufgeben. Oft kommt es aber anderes: Statt Ansprüche aufzugeben, hält man sie für einen unverzichtbaren Bestandteil des Selbstwertgefühls. In der Folge verteidigt man sie regelrecht. Viele glauben, Ansprüche zu erheben, sei eine Pflichtübung zur Betonung ihres Eigenwerts. Viele glauben, ein großer Bedarf zeige Größe an. Dabei ist es umgekehrt: Je mehr einer bedarf, um sich groß zu fühlen, desto kleiner ist er.
Nur wenige sind mit der Rolle zufrieden, die ihnen ohne Zutun im Leben zufällt. Gemeinschaft gibt nicht nur Geborgenheit. Sie ist auch Gerangel um Platz und Position.
Das Umfeld konfrontiert uns mit Erwartungen: Du sollst nicht sein, wie Du bist, sondern so, wie wir Dich haben wollen. Die Erwartungen des Umfelds werden von kulturellen Traditionen sowie den persönlichen Ängsten, Wünschen, Begierden und Meinungen der unmittelbaren Bezugspersonen bestimmt. Meist geht vom Umfeld die Botschaft aus, dass es nur dann mit uns übereinstimmt, wenn wir uns anpassen. Je nach Temperament verinnerlichen wir den Unfrieden, der vom Umfeld ausgeht. Wir warten nicht mehr auf den Druck von außen, sondern handeln so, dass er gar nicht erst entsteht. Nicht immer sind wir mit uns selbst damit im Reinen.
Die zweite Quelle der Unzufriedenheit ist das, was wir selbst von uns erwarten. Wir möchten nicht irgendwer sein. Wir möchten diese oder jene Person sein, die unverwechselbar und erfolgreich ist. Wir bemühen uns, zu sein, was das Umfeld durch Zuwendung belohnt.
Ein schmerzhafter Kreislauf
Je weniger ich den Wert dessen beachte, was ich bin, desto mehr fülle ich mein Ich-Ideal mit Tugenden, die ich verwirklichen sollte. Je weniger ich sie verwirklichen kann, desto wertloser erscheint das Bestehende. Schon bildet sich ein Kreislauf aus Anspruch, Appell und Versagen.
Aus dem, was andere von uns erwarten und dem, was wir gerne wären, schaffen wir ein Ziel-, Wunsch- und Soll-Bild unserer selbst. Die Psychologie bezeichnet dieses Bild als Ich-Ideal. Ist das Bild in unseren Köpfen, bemühen wir uns, ihm zu entsprechen. Je nachdem, wie groß der Unterschied zwischen tatsächlichem Selbst und Idealbild ist und je unmöglicher die Verwirklichung desselben, brechen Unzufriedenheiten auf.
Zufriedenheit kehrt ein, wenn ich mich, entgegen den Ansprüchen des Bildes, so annehme, wie ich tatsächlich bin; ohne zugleich das Bild zu entwerten. Jetzt habe ich Angst. So ist es. Jetzt bin ich neidisch. So ist es. Jetzt bin ich geizig. So ist es. Ich wäre gerne anders. So ist es. Die Gefahr, die vom Idealen ausgeht, ist es, dass man das Reale zurückweist. Das Ideal ist ein Werkzeug der Wirklichkeit, nicht deren Ersatz.
Unzufriedenheit ist normaler als ihr Gegenteil. Mehr noch: Dem Dasein ist eine existenzielle Unzufriedenheit eingewoben, die stets bereit ist, aus einem Zustand unterschwelliger Präsenz akut zu werden. Diese Unzufriedenheit ist physiologisch. Sie ist Bestandteil der normalen Psychodynamik. Die physiologische Unzufriedenheit lässt sich nur durch besondere Entwicklungsschritte grundsätzlich mindern; vor allem durch spirituelle Erkenntnis.
Zufriedene Unzufriedenheit
Die Ursache der physiologischen Unzufriedenheit liegt in der Struktur des Individuums. Das Individuum erlebt sich normalerweise als egozentrische Person. Das heißt: Es erlebt sich als separater Partikel, der einer übermächtigen Welt gegenübersteht und dessen Untergang bestenfalls herausgezögert, aber nicht aufgehalten werden kann.
Die Gewissheit des persönlichen Todes wird aus dem Alltagsbewusstsein zwar regelhaft ausgeblendet, das verdrängte Wissen verliert dadurch aber keineswegs an Macht. Im Gegenteil: Als meist unbewusster Aspekt des Selbstbilds wirkt es in fast alle Vollzüge hinein. Da niemand mit einer Wirklichkeit im Frieden sein kann, die seine Vernichtung betreibt, liegt dem egozentrischen Selbstbild unumstößlich Existenzangst inne, die durch immer neue Eingriffe in den Lauf der Dinge in Schach zu halten ist; ohne dass sie dadurch je beseitigt werden kann.
Da die drohende Vernichtung der persönlichen Existenz den Wert des Bestehenden radikal infrage stellt, kann die normale Psyche kaum je zufrieden ruhen. Sie neigt dazu, alles und jedes, was sie hat oder ist, für zu wenig zu halten und sich zur Abwehr ihrer vermeintlichen Minderwertigkeit bereichern zu wollen. Mit keinem Bestand ihres Daseins ist sie daher lange zufrieden. Unterschwellig liegt stets ein Gefühl chronischer Unzufriedenheit bereit, das es durch die Einverleibung zusätzlicher Teile der Welt zu dämpfen gilt.
Erscheinungsbilder der unzufriedenen Normalität
Die physiologische Unzufriedenheit, die dem normalen Selbstbild strukturell inneliegt, wird meist nicht als Bestandteil der Normalität erkannt und hingenommen. Vielmehr wird sie als Störung der Normalität gedeutet; und der Unzufriedene greift zu allerlei Mitteln der Normalität, um ihr abzuhelfen. Viele davon sind schädlich.
Wo von Zufriedenheit die Rede ist, liegt es nahe, auch vom Krieg zu sprechen; obwohl das Wort Krieg bereits so scheußlich in den Ohren klingt, als ob man eine Schaufel in einen Haufen Bauschutt stößt. Es gibt innere und äußere Kriege. Oft gehen sie ineinander über. Da man mit dem Leben nur ganz im Frieden sein kann, wenn man weder bedroht wird noch andere bedrängt, ist Unfrieden ein fundamentaler Störfaktor der Zufriedenheit.
Äußere Kriege
Äußere Kriege, bei denen Völker enthemmt übereinander herfallen, blieben uns Europäern bis vor kurzem erspart. In solchen Kriegen wird der Schaden des anderen aktiv herbeigeführt. Dass man mit der Gefahr, der man in Kriegen ausgesetzt ist, nicht zeitgleich im Frieden sein kann, ist ersichtlich. Ich bin damit zufrieden, dass ich jederzeit erschossen werden könnte, ist ein Satz, dem man nur schwerlich Glauben schenken mag.
Auch das, was wir als Frieden bezeichnen, ist nicht wahrhaft friedlich. Zwar wird hier der Schaden anderer seltener als beim offiziellen Waffengang aktiv herbeigeführt, wir sind aber oft so von der Idee besessen, weitere Güter zu gewinnen, dass wir, im Eifer für den eigenen Vorteil, den Schaden anderer übersehen. Die Betonung des Erwerbs macht unsere Lebensart zum Wettkampf. Auf den Straßen sieht man unglückliche Gesichter.
Innere Kämpfe
Dem Kampf nach außen entspricht ein Kampf im Inneren. Wer sich im Kampf mit dem Umfeld erlebt, versucht ein Selbstbild zu verwirklichen, das auf Sieg geeicht ist. Er entwickelt Eigenschaften, die fürs Kämpfen taugen. Nach außen zeigt er tunlichst Stärke. Eigenschaften, die er für Zeichen einer Schwäche hält, versteckt er hinter der Fassade.
Resultat ist ein innerseelischer Konflikt, bei dem ein Teil des Ich versucht, den anderen aus der Welt zu schaffen. Solange gekämpft wird, ist Zufriedenheit unmöglich.
Oben heißt es: Unzufriedenheit ist ein Nährboden psychischer Krankheit. Zugleich heißt es: Unzufriedenheit ist völlig normal. Was paradox erscheint, ist folgerichtig.
Die Bereitschaft, mit Bestehendem unzufrieden zu sein, ist so tief im Selbstverständnis des Menschen verwurzelt, dass es im normalen Deutungsmodus der Wirklichkeit in der Regel nur vorübergehend gelingt, den aufkeimenden Wildwuchs in Schach zu halten: indem man nämlich irgendeinen Erfolg erringt. Obwohl das eine Sisyphusarbeit ist, fällt sie uns allen zu. Nur wem es gelingt, die grundlegende Unzufriedenheit der eigenen Person auf sich beruhen zu lassen, wird von der Pflicht befreit, das widerspenstige Gestein bergauf zu schieben.
Weise hinzunehmen, dass der hintergründige Hunger des egozentrischen Daseins niemals zu stillen ist, erlaubt durchaus, bei stillbaren Bedürfnissen nach ihrer Erfüllung zu trachten. Dabei kommt es vor allem auf die Mittel an. Kriegerische Mittel erzeugen Widerstand. Widerstand erschwert die Erfüllung von Bedürfnissen. Friedliche Mittel erzeugen Beistand. Der Beistand des Umfelds erleichtert es, ohne Kampf ans Ziel zu kommen.
Krieg ist alles, was unterwerfen will. Krieg ist jedes Verhalten, das den eigenen oder den Wert anderer missachtet. Dazu zählt Egoismus ebenso wie Unterwürfigkeit. Unterwürfigkeit übt Zwang gegen das eigene Wesen aus. Zugleich dient sie dazu, hintergründig über den zu bestimmen, dem man sich vordergründig unterwirft. Jede Bereitschaft zur Unterwerfung ist zugleich Maske des Gegenteils.
Im Leben reicht es nicht, dass man sich mit dem, was einmal ist, immer nur zufriedengibt. Das Leben sorgt dafür, dass man stets Neues erledigen muss. Hält man nicht mit dem Lauf der Dinge Schritt, staut sich Unerledigtes auf, dessen wachsende Menge entmutigt.
Hier sind zwei Ursachen der Unzufriedenheit am Werk.
Nur wenn man sich in beiden Strömungen über Wasser hält, kann man manifeste Unzufriedenheit im Zaum halten. Nicht immer sind Kraft und Antrieb so lebendig, dass man das Unerledigte mit einem Rutsch erledigt. Große Projekte sind nur zu bewältigen, wenn man sie in Happen unterteilt.
Gerät man beim Erledigen des Notwendigen ins Hintertreffen, entwickeln sich aus wachsender Unzufriedenheit chronisch depressive Verstimmungen. Unerledigtes drückt nieder. Weil man niedergedrückt ist, fehlt der Mut, das Unerledigte anzugehen. Ein Mittel, das in solchen Fällen hilft, war schon in der Antike bekannt: Teile und herrsche!
Teilen und herrschen am Beispiel typischer Quellen der Unzufriedenheit
Problem | Maßnahme und Wirkung |
Sie müssten für die Prüfung lernen. Der Stoff ödet Sie an. | Lernen Sie täglich eine Stunde; oder so lange, wie es für den Erfolg notwendig erscheint. Hören Sie auf, wenn der festgelegte Zeitraum vorüber ist. Wenn klar ist, dass nach einer Stunde Schluss ist, kann man sich besser aufraffen. |
Die Wohnung ist chaotisch. Abfall türmt sich in den Ecken. | Werfen Sie täglich etwas weg. Machen Sie es wie mit dem Lernen. Räumen Sie immer nur einen überschaubaren Teil vom Ganzen auf: ein Regal, eine Schublade, eine Ecke... |
Zehn Briefe sind ungeöffnet. Sie haben Angst vor dem, was die Post überbringt. | Öffnen Sie täglich bloß einen Brief. Mit der Zeit schmilzt der Haufen dahin. |
Sie schieben die Steuererklärung vor sich her. | Teilen Sie das Projekt in Abschnitte auf. |
Zum Teilen und Beherrschen dessen, was unzufrieden macht, gehören grundsätzliche Haltungen, die man im Leben ausbauen kann:
Eine endgültige Lösung des Problems der Unzufriedenheit bleibt uns normalen Leuten vorenthalten. Sie gehört ins Reich der Spiritualität. Nur durch die Preisgabe der besonderen Bindung an die eigene Person kann man sich von deren Bereitschaft befreien, ihren Untergang zu fürchten und sich zur Abwehr irgendetwas einzuverleiben, um die Angst zu dämpfen.
Je mehr man das Gefühl seiner Identität im Selbst verankert, desto mehr ahnt man, wie sehr man erleichtert wäre, könnte man den letzten Schritt endgültig tun. Statt den einen Schritt aber zu tun, glaubt man, dass man dies oder das in der Welt noch erreichen müsste, um zufrieden zu sein. Dabei hängt Zufriedenheit nur wenig von dem ab, was man haben könnte und umso mehr von dem, worauf man verzichten kann.