Ein Opfer des Helfersyndroms ist stets zugleich sein Täter.
Der Begriff Helfersyndrom Wolfgang Schmidbauer: Die hilflosen Helfer, 1977 benennt die Neigung einer Person, sich in zwischenmenschlichen Begegnungen überwiegend als Helfer anzubieten. Der Begriff ist als Diagnose gedacht. Obwohl das "Krankheitsbild" des pathologischen Helfers gut beschreibbar ist, hat es keinen Eingang in die psychiatrischen Klassifikationssysteme (DSM und ICD) gefunden.
Ein Helfersyndrom liegt vor, wenn der Helfer wegen eines eigenen Bedürfnisses nach Bestätigung so sehr...
... abhängt, dass er seine Hilfsbereitschaft auch dann nicht drosseln kann, wenn er sich ausgelaugt, ausgenutzt oder missbraucht fühlt.
Einem anderen zu helfen ist ein Grundmuster der zwischenmenschlichen Beziehungsdynamik ohne das es keine Menschheit gäbe. Der Mensch ist Nesthocker. Er würde die ersten Lebensjahre kaum überstehen, gäbe es nicht andere, die sein Überleben durch umfassende Hilfe sicherstellten.
Die grundsätzliche Hilfsbedürftigkeit bleibt weit über das Säuglingsalter hinaus bestehen. Während die Hilfe beim Säugling das schiere Überleben sichert, rückt später der Erwerb von Kulturtechniken in den Vordergrund, deren Beherrschung es erleichtert, im sozialen Gefüge einen guten Platz zu finden.
Ohne Hilfe lernte kaum jemand lesen, schreiben oder rechnen. Viele Fähigkeiten, die über einfachen Werkzeuggebrauch hinausgehen, lassen sich nur schwer durch bloße Nachahmung erwerben. Gezielte Hilfe beschleunigt die Übertragung nützlicher Kenntnisse enorm. Erst die Idee wechselseitigen Helfens bringt komplexe Kulturen hervor. Wechselseitige Hilfe, die Fähigkeiten des Helfers zur Bedürfniserfüllung des jeweils anderen zur Verfügung stellt, ist solidarisch.
Was für eine traurige Menschheit wäre das, wenn man bei Krankheit, Alter und Gebrechlichkeit nur auf den blanken Eigennutz anderer träfe?
Von der solidarischen Hilfe ist die pathologische bzw. pathogene Hilfe abzugrenzen. Pathologisch bzw. pathogen (griechisch pathos [παθος] = Leid und genesis [γενεσις] = Erzeugung) ist eine Hilfe, die mehr Leid als Nutzen bewirkt.
Wohlgemerkt
Obwohl unangebrachte Hilfe auch dem Empfänger schaden kann, steht beim Helfersyndrom der Schaden, den der Helfer sich antut, im Vordergrund.
Im Gegensatz zur solidarischen befasst sich die pathologische Hilfe nur zweitrangig mit dem Wohl des vermeintlich oder tatsächlich Hilfsbedürftigen; obwohl sie dessen Vorteil vollständig besorgen kann. Das eigentliche Motiv des pathologischen Helfers liegt im eigenen Bedürfnis nach Bestätigung des eigenen Werts. Der Nutzen für den Hilfsempfänger entsteht dabei als Folgeerscheinung psychologischer Abwehrmechanismen seines Helfers.
Wobei das Helfen dem Helfer hilft
Ich bin fähig. | Sonst könnte ich nicht helfen. |
Ich bin gut. | Sonst täte ich es nicht. |
Ich bin wertvoll. | Denn ich nütze anderen. |
Ich werde gebraucht. | Auf mich kann man nicht verzichten. |
Ich bin zweifach überlegen. | Bösen Menschen, die keine Hilfe gewähren, bin ich moralisch überlegen. Dem, dem meine Hilfe gilt, bin ich fachlich überlegen; sonst bräuchte er mich nicht. |
Zur Position des Helfers gehören attraktive Attribute. Da man gut und fähig sein muss, um überhaupt zu helfen, kann sich ein Helfer als wertvoll, überlegen oder gar unentbehrlich empfinden. Da der Zweifel am eigenen Wert und damit die Angst vor Ausgrenzung, Schaden und Untergang ein wichtiger Motor menschlichen Handelns ist, ist die Position des Helfers ein wirksames Mittel zur Bekämpfung von Selbstwertzweifeln und Lebensangst.
Wer als Helfer auftritt, lenkt Aufmerksamkeit auf sich. Der Hilfsempfänger wendet sich dem Helfer zu. Seine Zuwendung signalisiert Wertschätzung und Verbindlichkeit. Dadurch werden zwei Bedürfnisse des Helfers befriedigt:
Während die Befriedigung dieser Bedürfnisse bei der solidarischen Hilfe als Motiv im Hintergrund bleibt, ist sie beim pathologischen Helfer treibende Kraft. Der pathologische Helfer braucht den Bedürftigen zur Bestätigung seines eigenen Werts sowie zur Abwehr seiner Trennungsangst. Kaum jemand muss Zurückweisung fürchten, wenn er andere beschenkt.
Außerdem kann der Helfer auf die Anerkennung Umstehender rechnen, die Zeugen seiner guten Taten sind. Auch wenn sein Handeln altruistisch erscheint, ist sein Motiv überwiegend egozentrisch. Die psychologische Position des pathologischen Helfers ist abhängig. Er ist aufs Helfen angewiesen, weil er andernfalls aus dem Gleichgewicht gerät.
Solidarische und egozentrische Motive gehen beim Helfen fließend ineinander über. Im Einzelfall kann der Helfer durch gewissenhafte Selbstbefragung in Erfahrung bringen, wie viel eigene Bedürftigkeit sich im Akt des Helfens verbirgt. Beispiele, die egozentrische Motive beim Helfen ahnen lassen, durchsetzen den Alltag bis in alle Winkel.
Solange beiderlei Nutzen bei solchen Arrangements möglichen Schaden überwiegt, wird man nicht von pathologischem Helfen sprechen. Pathologisch, also Leid erzeugend, wird das Helfen erst, wenn es in der Summe dem Helfer oder dem Hilfsempfänger schadet.
Das Helfersyndrom schadet... | ||
Helfern | und | Hilfsempfängern |
Wegen seiner ständigen Mühe um das Wohl des Anderen verwendet der Helfer zu wenig Kraft für die Besorgung eigener Bedürfnisse. | Durch die voreilige Entlastung bei Problemen verlernt der Hilfsempfänger eigene Fähigkeiten zu schulen. | |
Bleibt der Dank, den er für die Hilfe erntet, hinter den Erwartungen zurück, verstrickt sich der ausgelaugte Helfer oft in Vorwurf und Bitterkeit. | Empfangene Hilfe und die Hoffnung des Helfers auf umfassenden Dank fördern beim Empfänger ein Schuldgefühl, unter dem er entweder leidet; oder das er zum Leidwesen des Helfers verleugnet. |
Unübliche Begriffe
zwanghaftes Helfen
süchtiges Helfen
Nicht immer schadet die gewährte Hilfe des pathologischen Helfers den Hilfsempfängern. Sobald Hilfe in der Beschaffung von Vergünstigungen besteht, die zu Lasten der Gemeinschaft gehen, nimmt überwertiges Helfen aber einen Schaden Dritter in Kauf. Der zwanghafte Helfer übersieht systemische Effekte. Er sieht den Bedürftigen, sich selbst in der Rolle als Retter und die gute Tat. Eine Verantwortung für problematische Folge- oder Nebenwirkungen der guten Tat sieht er nicht.
Zwei Formen der Hilfe
solidarisch | pathogen |
Ist primär am Nutzen dessen ausgerichtet, der die Hilfe empfängt. | Ist an unbewussten psychologischen Bedürfnissen des Helfers ausgerichtet. |
Wägt ab und entscheidet, gegebenenfalls zu helfen. | Reagiert stereotyp auf Signale der Bedürftigkeit und das eigene Bedürfnis, beachtet zu werden. |
Behält das Ganze im Blick (solidaire = für das Ganze haftend). | Verengt Fokus und Bewertung auf den Akt der konkreten Hilfsleistung, in dem er selbst eine angesehene Rolle spielt. |
Bleibt selbstbewusst. | Ist selbstvergessend oder selbstverleugnend. |
Zu den Risikofaktoren zählen spezifische Berufsfelder sowie Persönlichkeitsstrukturen, die gehäuft zur entsprechenden Berufswahl führen. Den Persönlichkeitsstrukturen ihrerseits liegen oft biographische Erfahrungen zugrunde, die den Eigenwert des Betroffenen infrage stellten.
Das Helfersyndrom kommt in allen Bevölkerungsschichten vor. Dabei gibt es spezifische Persönlichkeitsmerkmale, die das Risiko erhöhen. Zu nennen sind:
Die engste Verbindung besteht zur depressiv-strukturierten Persönlichkeitsvariante. Der Depressiv-strukturierte benutzt vornehmlich Abwehrmechanismen, deren Gebrauch schnell in eine fixierte Helferrolle einmünden kann. Dazu gehören:
Zum Repertoire des Depressiv-strukturierten gehört oft auch ein zwanghafter Zug, nämlich die...
Der zwanghafte Helfer neigt dazu, Impulse, die seiner altruistischen Weltanschauung zuwiderlaufen, durch entgegengesetztes Verhalten abzuwehren. Sobald er sich über ein Hilfsgesuch aus dem Umfeld eigentlich ärgert - weil er mit seiner Kraft fast am Ende ist -, kann es sein, dass er sich vor seinem Ärger so sehr fürchtet, dass er stattdessen besonders fürsorglich hilft. Durch einen offenen Ausdruck des Ärgers könnte sein symbiotisches Bündnis mit dem Hilfsbedürftigen beschädigt werden.
Verdrängung oder Spaltung
Zwischen einer pathologischen Helferposition, die auf einer depressiven Struktur beruht und einer, der emotional-instabile Muster zugrunde liegen, gibt es einen wesentlichen Unterschied.
Der Depressiv-strukturierte verdrängt aggressive Impulse, mit denen er auf den Undank der Welt reagiert, auf Dauer. Das führt in der Folge zu einer chronisch-fluktuierenden Depressivität. Das Bild entspricht einer sogenannten Dysthymie.
Die Borderline-Persönlichkeit verdrängt aggressive Impulse nicht auf Dauer. Sie spaltet sie solange ab, wie es geht. Sobald sie nicht mehr glauben kann, dass der "Nur-Gute", dem sie alle Hilfe angedeihen ließ, tatsächlich nur gut ist, macht ihre Haltung einen radikalen Schwenk. Enttäuschte Erwartung verwandelt Opferbereitschaft in aufschäumende Wut.
Als Risikofaktoren des Helfersyndroms sind in zweiter Reihe abhängige, also dependente Muster auszumachen. Der abhängige Mensch glaubt, seine Urteile und die Wahl seiner Taten müssten stets von anderen abgesegnet sein. Dementsprechend neigt er dazu, sich so zu verhalten, dass andere damit einverstanden sind.
Das trifft auf viele Helfer zu. Wer hilft, kann damit rechnen, dass er als gut und wertvoll bestätigt wird. Zumindest der Empfänger seiner Gaben signalisiert, indem er annimmt, sein Einverständnis mit der Tat des Helfers. Wer nicht hilft, sondern desinteressiert am Wohl anderer seinen eigenen Vorteil betreibt, muss an die Rechtmäßigkeit seines Tuns schon selber glauben. Er riskiert, dass man ihn als Egoisten brandmarkt. Der Egoismus des pathologischen Helfers ist im Gegensatz dazu ummäntelt. Viele empfinden es als unschicklich, überhaupt darauf hinzuweisen. Den Zweifler an der reinen Tugend kann Empörung treffen.
Was der Borderline-Persönlichkeit vor Augen kommt, hält sie entweder für absolut gut oder für absolut böse und schlecht. Die Relativität krasser Werturteile zu bedenken, ist nicht ihre Sache.
Solange die instabile Persönlichkeit an das Gute in einem Menschen glaubt, ist sie in der Folge bereit, alles zu geben, um eine harmonische Verbindung zu ihm aufzubauen. Was liegt also näher, als sich für den idealisierten Anderen aufzuopfern, damit auch der seinen Helfer als absolut gut erkennt und die ersehnte Bindung um jeden Preis erhalten will? Zumindest solange, bis die Enttäuschung über dessen Undank und die Erkenntnis, dass auch er das Idealbild des absolut Guten verfehlt, alle Schranken durchbricht. Dann verwandeln sich Idealisierung und Selbstverzicht in Abwertung und Wut.
Die Neigung des emotional-instabilen Menschen, von einem Pol des Spektrums der Gefühle in den anderen zu springen, führt dazu, dass emotional-instabile Menschen nur selten berufliche Helfer werden... und auch als ehrenamtliche bleiben sie nicht lange bei der Stange. Dazu fehlt ihnen die Konstanz. Sie praktizieren pathologisches Helferverhalten bloß phasenweise und überwiegend im persönlichen Bereich.
Hilfsbedürftige
Es gibt leidende Menschen, die wirklich eines Helfers bedürfen. Es gibt aber auch solche, die sich in ihren Missständen eingerichtet haben, sodass sie die Missstände lieber hinnehmen, als sich um deren Behebung zu kümmern. So mancher ist ein guter Ökonom. Warum sollte er den eigenen Motor anwerfen, wenn von hinten jemand schiebt?
Ihr schafft das
In hohen Ämtern sitzt so mancher, der selbstlose Tugend propagiert, ohne im Geringsten selbst von einem Helfersyndrom bedroht zu sein. Zwecks tätiger Hilfe appelliert er an andere, deren Gutmütigkeit und Idealismus man vor den Karren spannen kann.
Am Helfersyndrom leiden viele. Doch wen wundert es... am Helfersyndrom leiden vor allem Menschen in Helferberufen.
Helferberufe
Letztlich stellt fast jeder Beruf Leistungen zur Verfügung, die anderen helfen, Bedürfnisse zu erfüllen. So hilft der Bäcker bei der Bestückung eines schmackhaften Frühstücks und der Maurer zieht Wände hoch, die ohne seine fachliche Hilfe krumm aussähen. Trotzdem sind das keine Helferberufe.
Das Besondere am echten Helferberuf ist die unmittelbare zwischenmenschliche Beziehungsebene, auf der die Hilfe abläuft. Der Fachbegriff für diese Berufsfelder lautet: Sozialberufe. Dazu gehören:
Die Häufung des Helfersyndroms in den genannten Berufen bedeutet nicht, dass es sich um eine Berufskrankheit handelt. Das Syndrom wird nicht durch die Struktur des Arbeitsfeldes verursacht. Vielmehr neigen Menschen mit entsprechenden psychologischen Mustern dazu, sich in solchen Berufen zu engagieren; obwohl die Berufe bei achtsamem Umgang mit der eigenen emotionalen und narzisstischen Bedürftigkeit durchaus auch ohne pathologische Hilfsbereitschaft zu bewältigen sind.
Typische Symptome des Helfersyndroms sind:
Solange ein pathologischer Helfer noch jung und energiegeladen ist, bleibt er trotz des Ungleichgewichts in seinen Beziehungen oft bei guter Laune. Wenn der Lohn für seine Selbstlosigkeit heute noch nicht eintrifft, kommt er eben später. Mit der Zeit laufen die Akkus aber leer. Die Erwartung eines angemessenen Honorars für die erbrachte Leistung lässt sich immer schwerer vor sich herschieben. Enttäuschung und Ärger über den Undank der Welt können nur noch mit wachsendem Aufwand verdrängt werden.
Irgendwann ist die Sollbruchstelle erreicht. Aus unterschwelliger Schwermut wird eine echte Depression. Der pathologische Helfer vermutet, dass er ein Burn-out-Syndrom entwickelt hat.
Das Konzept des Drama-Dreiecks weist darauf hin, dass es zwischen drei typischen sozialen Rollen oft zu einer Dreiecksbeziehung kommt. Die besagten Rollen sind:
Nicht dass den Opfern von Verfolgern niemals Rettung gebührt. Kandidaten für ein Helfersyndrom springen aber allzu schnell auf jeden Fingerzeig von Opferrollenspielern an. Dabei wird ihre Hilfsbereitschaft oft ausgenutzt.
Sind Sie der Meinung, dass Sie sich bei der Unterstützung anderer chronisch verausgaben, ist Selbsterkenntnis das Mittel der Wahl. Stellen Sie sich folgende Fragen:
Machen Sie kleine Experimente: