Gewissen


  1. Begriffe
    1. 1.1. Versammlung
    2. 1.2. Ansammlung
    3. 1.3. Anwaltschaften
  2. Verankerung
  3. Verwechslung
    1. 3.1. Übergänge
    2. 3.2. Zwei Formen der Reue
    3. 3.3. Angst und Integrität
  4. Fehler der Vergangenheit
    1. 4.1. Entscheidungsfreiheit
    2. 4.2. Eingeständnis und Wiedergutmachung
Moralisch konformes Handeln kann gewissenlos sein, ethisches Handeln nicht.

Je mehr man weiß und je weniger man bloß glaubt, desto größer ist die Chance, dass das Gewissen weiß, was es tut.

Das Gewissen steht über dem Gesetz, weil das Gesetz im besten Fall gewissenhaft entworfen ist. Das heißt nicht, dass das Gesetz gegebenenfalls nicht gegen Gewissensentscheide Einzelner durchzusetzen wäre; dann nämlich, wenn der, der es durchzusetzen hat, seinerseits gewissenhaft handelt.

Nützlicher als Vergangenes zu verurteilen, ist es, heute Richtiges zu tun. Auf das Richtige verweist das Wissen, das durch Vergangenes erworben wurde.

1. Begriffe

Das Gewissen ist eine seelische Instanz, die in der Kindheit entsteht und deren Bedeutung im Laufe des Lebens wächst. Der Begriff setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Ge- und wissen. Wissen entstammt derselben indoeuropäischen Wurzel wie das lateinische Verb videre = sehen. Was jemand weiß, ist das, was er sehend erkannt hat und damit einsieht. Der Sinn der Silbe Ge- eröffnet sich, sobald man sich Beispiele ihrer Bedeutung vor Augen führt.

Ge- zeigt eine Gesamtheit zusammengehöriger Teile an. Aus Bergen, Federn, Backsteinen, Büschen und Gedanken wird jeweils ein übergeordnetes Phänomen, das Eigenschaften hervorbringt, die den einzelnen Elementen fehlen. Dementsprechend ist das Gewissen eine Versammlung des Wissens, deren Qualität über das bloße Wissen einzelner Fakten hinausreicht.

Zustandsformen des Gewissens
Ein Sprachgebrauch, der sich nicht durchsetzen wird:
  • Ein reines Gewissen hat alle anstehenden Aufgaben erledigt.
  • Ein schlechtes Gewissen duldet, dass Wissen übergangen wird.
  • Ein gutes Gewissen macht gerade seine Arbeit.
  • Ein beißendes Gewissen will endlich ernst genommen werden.

Die Versammlung des Gewissens wird einberufen, wenn das Bewusstsein Entscheidungen großer Tragweite zu treffen hat. Das Für und Wider der Möglichkeiten wird vor dem Hintergrund all dessen geprüft, was man bisher weiß. Gewissensentscheidungen setzen die Freiheit voraus, widersprüchliche Posi­tionen unbefangen abzuwägen.

Da Wissen im Laufe des Lebens zunimmt, hat das Gewissen immer wieder neu zu entscheiden. Was gestern mit dem Gewissen konform war, kann heute gewissenlos sein.

Malte wusste nicht, wie sehr es Meike trifft, wenn er sich über ihre Kochkunst lustig macht. Seitdem er es aber weiß, wird der Spaß gewissenlos.

Wird die Gewissensfreiheit durch Dogmen eingeschränkt, wird die Funktion des Gewissens gestört.

Gewissen ist auf Wissen angewiesen. Wissen ist umso verlässlicher, je mehr das Gewusste durch Akte persönlicher Erkenntnis gewonnen wird; und in der Folge mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Werden unüberprüfbare Glaubenssätze mutwillig zur Gewissheit erklärt und Zweifel daran durch das Verbot, echte Einsicht zu erlangen, verhindert, führt das zu einer Störung der Gewissens­funktion. Eine vorgegebene Moral, an der ungeprüft festgehalten wird, hat wenig mit echtem Gewissen zu tun.

Ein Blick zu den Nachbarn
Zur Übersetzung des deutschen Gewissens verwenden Franzosen und Engländer dasselbe Wort: conscience. Conscience setzt sich aus lateinisch com- = mit und scire = wissen zusammen. Auch unsere Nachbarsprachen sehen das Gewissen als ein Miteinander von Gewusstem bzw. als Mitwisserschaft des Bewusstseins bei bedeutsamer Entscheidung.
1.1. Versammlung

Wesentlich für die Funktion des Gewissens ist der Aspekt des Versammelns. Bei der Versammlung des Wissens werden die gewussten Inhalte miteinander in Beziehung gesetzt; ganz so, wie eine menschliche Versammlung nicht nur aus einem Haufen Leute besteht, sondern eine übergeordnete Ganzheit ist, zu der sich Einzelne verbinden. Das Gewissen bezieht Gewusstes dergestalt aufeinander, dass Entscheidungen innerhalb eines Wissensbereichs durch Wissen aus anderen Feldern beeinflusst wird. Bestimmte Wissensinhalte bekom­men ein Vetorecht.

1.2. Ansammlung

Von der Versammlung des Wissens ist die bloße Ansammlung von Wissen abzugrenzen. Bei einer Ansammlung von Wissen mag eine Menge Gewusstes nebeneinander im Gedächtnis abgespeichert sein, die Bruchstücke werden dabei aber nicht mit der Absicht verbunden, weitreichende Entscheidungen sorgfältig abzuwägen. Dass jemand eine Menge weiß, heißt deshalb nicht, dass er bei wichtigen Entscheidungen gewissenhaft wäre.

1.3. Anwaltschaften

Man spürt den eigenen Hunger, den eigenen Schmerz und die eigene Angst. Hunger, Schmerz und Angst anderer spürt man nicht. Aber man kann wissen, dass sie vom gleichen Leid betroffen sind. Leid, von dem man selbst betroffen ist, wird einem ohne Zutun bewusst. Leid, das andere trifft oder treffen könnte, muss man sich erst bewusstmachen.

Das Ego ist Anwalt der eigenen Person. Sobald die eigene Person einen Missstand spürt, kennt das Ego nur ein Ziel. Ungeachtet dessen, was andere empfinden, will es das Leid der eigenen Person beheben.

Das Leid anderer kann man nicht spüren, aber man kann wissen, dass es sie trifft. Deshalb wird das Gewissen zum Anwalt der anderen. Weil es Aufgaben erfüllt, die über den Horizont des Egos hinausreichen, ist es dem Ego übergeordnet. Das Gewissen entscheidet nicht nur im Interesse einer Person, sondern in dem des Gefüges, in das die Person eingebettet ist.

Grundregel

Gewissenlos handelt, wer wissentlich einen Schaden anderer in Kauf nimmt, um einen persönlichen Nutzen daraus zu ziehen, der im Vergleich zum Schaden als geringfügig erkennbar ist.

Zur Versammlung des Wissens gehört Wissen um Leid, das man selbst nicht spürt. Deshalb fällt es dem Gewissen zu, Anwalt der Interessen anderer zu sein.

Gewissenlosigkeit

Während das Gewissen bedeutsames Wissen versammelt, schließt Gewissen­losigkeit eigentlich verfügbares Wissen von der Versammlung aus. Zweck der Gewissenlosigkeit ist es, parteiische Entscheidungen zu ermöglichen, die ohne den Ausschluss verfügbaren Wissens nicht zustande kämen.

Bei der Gewissenlosigkeit kommen Abwehrmechanismen zum Zuge: Abwertung, Affektisolierung, Verdrängung, Verleugnung, Rationalisierung, Rechtfertigung, Intellektuali­sierung, Projektion. Sie werden eingesetzt um das unlieb­same Wissen aus dem Bewusstsein zu entfernen oder um sein Stimmrecht bei der Versammlung abzuschwächen.

Beispielhaft gewissenlos durch Ausschluss verfügbaren Wissens handelte Adolf Hitler. Hitlers Mutter wurde während ihrer Krebserkrankung durch den jüdischen Arzt Dr. Eduard Bloch betreut. Hitler war ihm dafür so dankbar, dass er ihm rechtzeitig die Flucht aus Deutschland ermöglichte. Durch seine Erfahrungen mit Bloch wusste er also, dass das Merkmal Jude keinesfalls eine begleitende Schlechtigkeit anzeigt. Hätte Hitler gewissenhaft gehandelt, hätte er genau dieses Wissen nicht aus seiner Entscheidungsfindung ausschließen dürfen. Hätte er es zugelassen, wäre der Welt ein Großteil seiner Verbrechen erspart geblieben; oder sogar alle.

2. Verankerung

Gewissenhaftigkeit dient stets der Abwehr eines Schadens. Im Prinzip kann daher selbst die Entscheidung, ob das Gartenhäuschen links oder rechts vom Birnbaum aufzustellen ist, eine sorgfältige Abwägung des Für und Wider in Gang setzen, die sämtliches Wissen zu Rate zieht, über das der Häuschenbauer verfügt; dann nämlich, wenn zu befürchten ist, dass eine falsche Gartenhäuschenposition anderen schaden könnte. In der Regel tritt das Gewissen aber erst bei Entscheidungen größerer Tragweite auf den Plan. Das liegt an der seelischen Ebene, in der es verankert ist: dem Selbst.

Verbundenheiten

Das Individuum (lateinisch in- = un- und dividere = teilen, trennen) ist unteilbar. Individuell heißt zugleich aber auch unabtrennbar. Wer beide Bedeutungen unauflöslich miteinander vereint, hat sein Ego verstanden. Wer sein Ego verstanden hat, steht in sich selbst. Er selbst ist auch der andere.

Das Gewissen ist keine Instanz des Egos, also der separaten Person. Es ist vielmehr in tieferen Schichten der Seele verankert, dort wo die separate Person in das erkennende Subjekt übergeht; und somit in eine seelische Ebene, die Individuen untrennbar miteinander verbindet. In der allertiefsten Tiefe gibt es nur ein einziges Subjekt. Jeder ist deshalb im Grunde seines Wesens auch jeder andere. Das Gewissen wird umso unerschütterlicher, je klarer diese Einsicht gewonnen wird.

Das Gewissen wehrt Schaden ab; aber nicht in ersten Linie den der die eigene Person bedroht, sondern Schaden generell und vor allem Schaden, der andere treffen könnte. Das Gewissen ist unparteiisch. Seine Ausrichtung ist transpersonal. Es wacht darüber, dass der Mensch nicht vollends egozentrisch wird.

Bewertungen
Zwei Faktoren müssen zusammenkommen, bevor das Gewissen sich für zuständig erklärt:
  1. Die Entscheidung, um die es geht, könnte anderen schaden.
  2. Die Entscheidung, um die es geht, hat eine gewisse Tragweite.

Da die Tragweite jeder Entscheidung unterschiedlich eingeschätzt werden kann, wird der eine mit seinem Gewissen im Reinen sein, wenn er keine Morde begeht. Ein anderer wird bei jeder Möhre, die er sich aus der Schüssel nimmt, von Skrupeln geplagt. Um Gottes willen! Was, wenn jemand anderes ebenfalls Appetit darauf hat? Die Mehrzahl wird mit einem mittleren Weg zufrieden sein.

Jeder hat für sich selbst zu entscheiden, wo die Zuständigkeit seines Gewissens beginnt. Entsprechend seiner Entscheidung wird seine Lebensführung auch beim Vollzug alltäglicher Verrichtungen mehr oder weniger gewissenhaft sein. Als Ausdruck einer hohen Gewissenhaftigkeit können gelten...

3. Verwechslung

Oft wird Straf- oder Verlustangst vorschnell als schlechtes Gewissen bezeichnet. Angst ist jedoch kein reflektierter Wissensentscheid, sondern ein reflexhafter Vermei­dungsimpuls. Während das Gewissen die Ausrichtung des Handelns an eigenen Bewer­tungen bestimmt und damit die Übereinstimmung des Ich mit dem Selbst, orientiert sich Angst an der möglichen Macht äußerer Faktoren, strafend oder schädigend auf Hand­lungen der eigenen Person zu reagieren.

Je stärker das Gewissen, desto schwächer wird die Angst vor den Reaktionen der Außenwelt.

Bei den äußeren Faktoren, die Angst auslösen, handelt es sich entweder um das soziale Umfeld, oder um verinnerlichte Moralvorstellungen, die vom Umfeld vorgegeben werden. Im Vergleich zur Verankerung der Ethik im Selbst ist die Verinnerlichung einer Moral durch das Ego oberflächlich.

Strafangst oder Gewissen

Gewissen Strafangst
Das Gewissen ist im Selbst verankert. Es fragt nicht nach dem Vorteil der Person, sondern dem Zustand des Ganzen, in das die Person eingebettet ist. Oft entscheidet es zum Nachteil der Person. Das Gewissen ist holozentrisch. Strafangst ist ein Werkzeug des Egos. Sie versucht, persönliche Nachteile zu umgehen. Sie entscheidet immer zum Vorteil der Person. Strafangst ist egozentrisch.
Das Gewissen schaut nach innen. Es betreibt die Übereinstimmung des Ich mit selbstgewählten Werten. Straf- und Verlustangst schauen nach außen; dorthin, von wo aus der Person ein Nachteil entstehen könnte.
Der Gewissenhafte fürchtet unerfüllte Verantwortung. Er fürchtet, nicht mit sich selbst übereinzustimmen. Wer sich vor Strafe fürchtet, fürchtet die Außenwelt. Er fürchtet, dass Andere entdecken, dass er nicht mit ihnen übereinstimmt.
Das Gewissen geht über die Dualität von Ich und Nicht-Ich hinaus. Strafangst bleibt in der Dualität von Ich und Nicht-Ich verhaftet.

Sobald man Angst und Gewissen voneinander unterscheidet, weiß man mehr über die Struktur der Wirklichkeit. Das gesteigerte Wissen gibt dem Gewissen mehr Gewicht. Die Angst vor dem Umfeld lässt nach. Sich Angst zu beugen, statt gewissenhaft zu entscheiden, ist eine Schwäche. Bezeich­net man Angst als schlechtes Gewissen, unterstellt man Schwäche, tugendhaft zu sein. Das schwächt noch mehr.

3.1. Übergänge

In der Theorie sind Strafangst und Gewissen gut zu unterscheiden. In der Praxis sind sie oft vermischt.

Strafangst kann nützliche Funktionen erfüllen. Dort, wo ein Gewissen fehlt oder erst im Ansatz entwickelt ist, kann Strafangst Taten verhindern, die genau den Schaden nach sich zögen, den auch ein funktionierendes Gewissen vermeiden würde. Strafangst setzt aber eine hierarchische Beziehung voraus. Zwischen dem, der durch Strafandrohung eingeschüchtert wird und dem, der mit Strafe droht, besteht ein Ranggefälle. Die Anwendung der Strafangst zur Verhinderung sozial schädlicher Taten fördert die Festigung solcher Rangunterschiede und somit die Unterwerfung der einen unter andere.

Da Unterworfenen mit der Möglichkeit, frei über sich zu entscheiden auch die Verant­wortung entzogen wird, es gewissenhaft zu tun, behindert Strafangst autonome Gewissenhaftigkeit. Deshalb ist Strafangst zwar in der Lage, Taten zu verhindern, die auch das Gewissen verhindern würde, sie bahnt auf der anderen Seite aber genau das Gegenteil: Strafangst kann Taten fördern, die das Gewissen verwerfen würde. Bestes Beispiel sind Grausamkeiten im Krieg. So manche Grausamkeit wird dort verübt, weil der Täter Angst vor Strafe hat, falls er die nötige Grausamkeit vermissen lässt.

Jeremias 48, 10*:
Verflucht, wer das Werk des Herrn nachlässig vollbringt, verflucht, wer sein Schwert zurückhält vom Blut!

Das Gewissen ist immer ein eigenes Gewissen. Es ist dem eigen, der etwas weiß und aus dem Wissen heraus frei entscheiden kann. Strafangst fordert Gehorsam. Wer mit Strafe droht, versucht, den Mut, aus eigenem Wissen heraus zu entscheiden, einzu­schüchtern. Strafangst macht Menschen zu Befehlsempfängern. Befehle haben das Gewissen millionenfach außer Funktion gesetzt.

3.2. Zwei Formen der Reue

Je nachdem, wo die Trennlinie zwischen Gewissensbiss und Strafangst liegt, kann es zwei Varianten der Reue geben.

Abwehr oder Gewissen
Das Gewissen ist kein Instrument der Strafe. Es dient nicht dazu, Schuldige zu quälen. Seine Aufgabe liegt darin, bestmögliche Entschei­dungen zu treffen. Wer dem unerfahrenen Menschen, der er einst gewesen ist, Schuld vorwirft, handelt nicht gewissenhaft. Er drückt sich vor der Verantwortung, die er heute übernehmen kann.

Ein schlechtes Gewissen ist keins, das Sünden von früher bestraft, sondern eins, das sich heute nicht um die Vermeidung neuer Sünden bemüht; oder darum, den Schaden begangener wiedergut­zumachen.

Umgangssprachlich wird Reue als schlechtes Gewissen bezeichnet. Das ist verwirrend... oder ein Zeichen dafür, dass man das eigene Gewissen nicht wirklich angenommen hat. Wer Reue spürt, weil er den Schaden anderer leichtfertig in Kauf nahm, hat eigentlich ein gutes Gewissen. Es erfüllt nämlich seinen Zweck. Es funktioniert. Was sollte daran schlecht sein?

Bei Reue vom schlechten Gewissen zu sprechen und seine Bisse als Strafe zu sehen, deutet darauf hin, dass der Sprecher nicht aus sich selbst, sondern aus seinem Ego heraus spricht. Reue ist keine Strafe. Sie ist ein inner­seelisches Korrektiv, das die Person daran erinnert, dass sie nicht über dem Selbst und seinen Werturteilen steht. Reue ermuntert die Person in derber Freundlichkeit, im Umgang mit Wichtigem gewissenhaft zu sein; und sich damit treu zu bleiben.

Die Substanz des Selbst ist Erkenntnis. Wer Erkanntes ver­untreut, bricht mit sich selbst.
3.3. Angst und Integrität

Werden Gewissenbiss und Strafangst gegenüber­gestellt, heißt das nicht, dass sich der Mensch nicht vor dem Biss des Gewissens fürchtet. Obwohl er es aber tut, sind die Furcht vor dem beißenden Gewissen und die Angst vor Strafe von außen verschieden.

Das Gewissen ist ein Wächter des Selbst. Es überprüft, ob das Individuum mit sich im Reinen ist. Im Reinen mit sich ist der Mensch nur dann, wenn er zu dem steht, was er weiß. Veruntreut er sein Wissen, veruntreut er sich selbst. In der Reue, gewissenlos gehandelt zu haben, bereut der Mensch, sich untreu zu sein. Er bereut, die Integrität seiner selbst zu verfehlen. Gewissenhaft schaut der Mensch nach dem, was er ist.

Strafangst dient dem Schutz der Person, das Gewissen dient der Integrität ihrer selbst. Es verhindert, dass die Person die Wesensgleichheit aller vergisst.

Strafangst ist eine Erfahrung der Person. In der Strafangst fürchtet sie, durch eine Instanz jenseits ihrer selbst geschädigt zu werden: durch die Justiz, den betrogenen Partner, den Vorgesetzten, durch Mächtige im Land oder im Himmel. In der Strafangst hat der Mensch sein Selbst vergessen. Er schaut nach dem, was er gewinnen oder verlieren kann.

4. Fehler der Vergangenheit

Viele machen sich Vorwürfe. Sie glauben, in der Vergangen­heit falsch entschieden zu haben. Sie tun das, sobald sie davon ausgehen, dass sie unter den Folgen falscher Ent­scheidungen von damals leiden. Sich Entscheidungen vorzu­werfen, die man früher für richtig hielt, macht aber nur wenig Sinn.

Statt dass der erfahrene Mensch von heute Ver­antwortung für sich übernimmt, weist er dem Unerfahrenen von damals Schuld an jetzigen Missständen zu.

Warum das wenig nützt...

Reue und Vorwurf

Hat man heute erkannt, dass man gestern gewissenlos war, kann man sich dafür Vorwürfe machen... und man kann es bereuen. Oft wird beides miteinander gleichgesetzt, weil es nur schwer voneinander zu unterschieden ist. Und doch: Genau betrachtet gibt es Unterschiede.

Nur selten gibt es bei schwierigen Entscheid­ungen keine Zweifel an dem, was man schließlich tut. Letztlich kann eine Entscheidung aber nur getroffen werden, wenn nach der Verrechnung des Für und Wider ein Für übrigbleibt.

Da jede Entscheidung Folgen hat, deren Kenntnis die Balance zwischen dem, was man aus Erfahrung weiß und dem, was man bislang gedacht hat, verschiebt, kann die Verrechnung kurze Zeit nach der Entscheidung ein Wider ergeben. Trotzdem war sie nicht falsch, sondern folgerichtig. Sie hat den Weg Richtung Erkenntnis gebahnt. Mit der neuen Erkenntnis kann man sich nun gewissenhaft anders entscheiden.

Was können Sie tun, wenn Sie mit Entscheidungen von früher hadern?

4.1. Entscheidungsfreiheit

Der Mensch tut immer, was er für richtig hält. Was er für richtig hält, hängt von dem ab, was er weiß und was er glaubt. So hat es eben geheißen. Kann das stimmen? Hieße das nicht, dass der Mensch keine Entscheidungsfreiheit hat? Dass er wie ein Roboter von dem gesteuert wird, was er weiß oder glaubt? Und dass er folglich für keine Entschei­dung verantwortlich ist, die er unter dem Diktat seines jeweiligen Urteils trifft?

Das heißt es nicht. Der Mensch hat die Freiheit, sein Wissen zu steigern und er hat die Freiheit, bloßen Glauben in Frage zu stellen. Er kann sich bemühen, vom Sachverhalt, der zur Entscheidung ansteht, auch jene Aspekte zu sehen, die er zum eigenen Vorteil lieber vergäße. Er kann darauf achten, dass er verfügbares Wissen nicht aus der Versammlung verdrängt. Er kann fehlendes Wissen gezielt ergänzen. Es ist daher folgerichtig, dass die Wirklichkeit den Menschen für das, was er tut, zur Verantwortung zieht.

Gewissenlose Menschenfreundlichkeit

Gewissenhafte Entscheidungen sind oft zum Vorteil anderer. Das heißt aber nicht, dass überall dort, wo der eine zum Vorteil anderer entscheidet, ein tüchtiges Gewissen am Werke wäre. Nicht selten wird das Gute für andere bloß getan, weil sich der Täter als Wohltäter gefällt oder weil er vom Ruf, einer zu sein, andere Vorteile erhofft; zum Beispiel den Dank der Begüns­tigten. So kann Selbstbezogenheit Gewissenhaftigkeit vortäuschen, obwohl in Wirklichkeit andere Motive im Vordergrund stehen. Wird dabei ein Schaden Dritter fahrlässig in Kauf genommen, besteht der Verdacht, dass es so ist.

4.2. Eingeständnis und Wiedergutmachung

Es liegt in der Logik der Sache: Auch das Wissen, gewissenlos gehandelt zu haben, wird leicht zum Opfer neuer Gewissenlosigkeit. Es wird nicht eingestanden und folglich seinerseits aus der Versammlung des Wissens verdrängt. Das schafft Spannungen, die seelischem Wohlbefinden im Wege stehen.

Wohlgemerkt

Ein Eingeständnis ist kein Vorwurf. Ein Vorwurf unterstellt die Pflicht, gewissenhaft zu sein. Gibt es sie tatsächlich? Wenn ja: Wem gegenüber? Sicher ist hingegen, dass es Folgen hat, das Gewissen zu übergehen. Ohne die Übereinstimmung mit dem Gewissen, kommt man nicht mit sich ins Reine.

Der erste Schritt mit dem Gewissen ins Reine zu kommen, liegt daher im Eingeständnis, bei der fraglichen Entscheidung dergestalt parteiisch gewesen zu sein, dass man es selbst für unredlich hält. Von dort aus führen zwei Etappen zur Klärung.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.