Die buddhistische Ontologie verwendet den Begriff Dukkha. Damit bezeichnet sie eines von drei Wesensmerkmalen des menschlichen Erlebens, die für dessen Qualität maßgeblich sind.
Dukkha (Pali - दुक्ख, Sanskrit - duḥkha दुःख = unangenehm) bezeichnet die Tatsache, dass die innerweltlichen Erfahrungen des persönlichen Ich nie zu abschließender Befriedigung führen. Dukkha entspringt unmittelbar der Abspaltung des Ich vom Nicht-Ich. Solange sich das Ich als separate Instanz begreift, die der Welt gegenübersteht, bleibt seinem Erleben ein Gefühl des Unbehagens, der Unsicherheit und des Unfriedens eingewoben, das durch Erfolge nur vorübergehend aufgehoben werden kann und durch Misserfolge vertieft zu werden droht. Das Dasein als separates Ich ist unentrinnbar mit Leid behaftet.
Entropie
Entropie bezeichnet die thermodynamische Tatsache, dass jeder Prozess, der in einem geordneten System stattfindet, die Ordnung in diesem System vermindert. Jeder lebendige Organismus ist eine komplexe Struktur, deren Komplexität physikalischen Kräften ausgesetzt ist, die auf eine Verminderung und letztlich Beseitigung ihrer Komplexität hinwirken. Leben ist ein Phänomen, das überhaupt nur dort existiert, wo es Widrigkeiten begegnet, gegen deren schädlichen Einfluss es sich behauptet.
Die Konfrontation mit Widrigkeiten ist Leiden an sich. Leben ist die Begegnung von Widrigkeiten unter denen das Lebendige leidet. Es ist der Versuch, widerstrebenden Kräften Freiräume abzuringen. Wird eine Widrigkeit überwunden, erlebt das Individuum Freude oder Glück. Es wird vom Einfluss der Widrigkeit befreit.
Das Leid bleibt solange ausgesetzt, bis das Leben seinem Wesen gemäß der nächsten Widrigkeit begegnet. Dabei ist die Konfrontation mit Widrigkeiten kein Zufall, der das Lebendige von außen trifft, sondern ein Wesensmerkmal des Lebens an sich. Leid ist nicht exogen, sondern endogen. Das Motiv allen Lebens ist Freiheit. Auf dem Weg dorthin nimmt es Leiden in Kauf.
Die Auffassung des Ich als separate Instanz definiert es als Teil in einem Feld. Als solches Teil ist es Kräften des Feldes ausgesetzt, auf die es nur begrenzt Einfluss nehmen kann. Dem Wesen des abgespaltenen Ich ist daher eine passive Komponente eingewoben; und damit eine Komponente, die es dazu verurteilt zu leiden. Passiv entstammt dem lateinischen Verb pati = erdulden, erleiden.
Richtig ist, dass Leid Anlass ist, etwas zu tun, damit der Leidende sein Leid überwindet. Sinnvoll ist, auf lange Sicht Glück, Freude und Gelassenheit anzustreben; und dabei die eigene Fähigkeit zur Problemlösung zu schulen. Wer Leid aber als bloßen Störfall betrachtet, der eigentlich nicht sein müsste oder nicht sein sollte, der also eigentlich keinen Wert hat, der benutzt voreilig problematische Methoden zu seiner Beseitigung. Viel Leid geht dadurch ungenutzt verloren. Es trägt nicht dazu bei, es nachhaltig zu überwinden. Es wird nicht zur Etappe auf dem Weg zu einem Ziel. Es bleibt ein Refrain, der sich wiederholt... und ein Verlust, der neues Leid erzeugt.
Der Zusammenhang zwischen den Existenzbedingungen des Menschen und seinem Leid ist so grundlegend, dass es Sinn macht, ihn hervorzuheben.
... also ...
Zu existieren heißt, als etwas Zusammengesetztes in die Raumzeit hinauszuragen. In die Raumzeit hinauszuragen heißt, in einen Zeitraum hineinzuragen und dort der Vergänglichkeit ausgesetzt zu sein. Da alles Zusammengesetzte von der Zeit in seine Bestandteile zerlegt wird, steuert alles Zusammengesetzte auf seine Vernichtung zu. Zeit heißt Zerteilung. In der Zeit sind Konstrukte voneinander abgeteilt und werden zugleich in ihre Bestandteile zerlegt.
Vom Wesen der Zeit
Wo ist Zeit? Dort, wo Zusammengesetztes in Teile zerfällt. Zeit ist kein Faktor, der einem Raum unabhängig von dessen Inhalt inneliegt, sondern Ausdruck der Tatsache, dass Zusammengesetztes nur vorübergehend erscheint. Zeit wird durch Ungespaltenes hervorgerufen, sobald sich das Ungespaltene als Zusammengesetztes vorstellt. Wo sich Ungespaltenes nicht als etwas Zusammengesetztes vorstellt, ist es zeitlos. Das Diesseits ist eine Vorstellung des Jenseits, die es betrachten kann.
Die Wirklichkeit ordnet dem Wohl des Individuums nicht mehr Bedeutung zu, als dass sie Kräfte in sein Wesen eingewoben hat, die danach trachten, es zu sichern. Ansonsten überlässt sie es dem Spiel der Mächte; und sobald es darin untergeht, nimmt sie seinen Untergang ohne einzugreifen hin.
Während die Wirklichkeit dem Wohl des Einzelnen nur marginal Beachtung schenkt, ist dasselbe Wohl in dessen Augen von überragender Bedeutung. Letztendlich ist alles, was der Einzelne tut, darauf ausgerichtet, sein Wohl zu sichern; also zu verhindern, dass er leidet. So kann jedes Leid als Signal dafür verstanden werden, dass der Einzelne etwas tun sollte, um seine Lage zu verbessern.
Dem entsprechend ist Leid kein objektiver Tatbestand, der sich in der äußeren Wirklichkeit befände, sondern eine Qualität des persönlichen Bewusstseins, die sich in der Regel zwar auf äußere Umstände bezieht, aber erst dann zum Vorschein kommt, wenn den Umständen eine maßgebliche Bedeutung zugeschrieben wird, die dem individuellen Interesse des Leidenden derart widerspricht, dass er dann darunter leidet.
Johanna hat gestern erfahren, dass Tobias fremdgeht. Sie zerfleischt sich in Eifersucht. Moritz hat gestern erfahren, dass Nora mit Thomas im Bett war. Er weiß, dass das Herz nicht immer treu bleibt, und lässt los.
Egozentrik und Mitgefühl
Zum Glück verurteilt die subjektive Überbewertung des eigenen Wohls den Einzelnen nicht dazu, als einsames Raubtier durch die Steppe zu streifen. Zu den Möglichkeiten, die ihm die Natur verliehen hat, gehört auch die, zur wechselseitigen Förderung des individuellen Wohlergehens, Bündnisse einzugehen. Daher steht jedem der Weg zu Solidarität, Freundschaft und Liebe offen. Wer klug ist, geht ihn.
Die Einsamkeit des unglücklichen Raubtiers beruht auf einer Fehlinterpretation der Wirklichkeit. Wer glaubt, er existiere nur als separates Individuum, empfindet Mitgefühl als Selbstgefährdung. Wer einsieht, dass er als separates Individuum zwar erscheint, tatsächlich aber Ausdruck einer umfassenden Einheit ist, kann in der Gewissheit leben, dass das Wohl jedes anderen auch sein eigenes ist.
Auch Schmerz ist eine Bewusstseinsqualität. Üblich ist, ihn als ein körperliches Phänomen zu betrachten, dessen Ausmaß dem Ausmaß einer Schädigung somatischer Strukturen entspricht. Das allein kann es nicht sein:
Die Intensität des Schmerzempfindens hängt davon ab, worauf das Bewusstsein ausgerichtet ist. Indem das Bewusstsein auf etwas fokussiert wird, weist man dem fokussierten Inhalt Bedeutung zu. Je mehr Bedeutung man anderen Inhalten zuweist, desto weniger Bedeutung kommt im selben Moment der eigenen Unversehrtheit zu. Schmerz entspricht nicht nur dem körperlichen Schaden, sondern auch der Bedeutung, die man ihm beimisst.
Der Zusammenhang zwischen Bewertung und Leid ist bei seelischem Leid besonders deutlich.
Der gemeinsame Nenner aller Formen des Leids ist die Bedeutung, die man der eigenen Person zuweist. Kommt man sich wichtig vor, scheint auch ein Schaden, der einem zustößt, bedeutsam zu sein. Wenn nicht, nimmt man so manches gelassen hin.
Das Selbstwertgefühl entspricht einer summarischen Bewertung des persönlichen Daseins. Das persönliche Ich ist stets von der Befürchtung bedroht, minderwertig, unterlegen oder ungenügend zu sein. Zur Überprüfung seines Wertes vergleicht es sich: mit anderen oder mit dem Idealbild, das es von sich selber hat. Daraus entsteht eine bewusste oder eine unterschwellige Unzufriedenheit, die immer neue Anlässe findet, zutage zu treten. Um dem Gefühl der Minderwertigkeit abzuhelfen, kann man heilsame oder problematische Methoden verwenden.
Beim Einsatz heilsamer Methoden kommt es zur Abschwächung des Minderwertigkeitsgefühls. Zu den heilsamen Methoden zählen...
Beim Einsatz problematischer Methoden wird das Minderwertigkeitsgefühl kurzfristig abgeschwächt. Langfristig wird es verstärkt. Zu den problematischen Methoden zählen...
Zwei Wege, Leid zu lindern
Erfolg | Entbindung |
Erfolge der Person verbessern deren Position im physikalischen und sozialen Umfeld. | Die Entbindung des Selbst aus der Identifikation mit der Person befreit das Selbst von der Angst, hinfällig zu sein. |
Ich bin mächtiger geworden. Vorerst brauche ich mein Ende nicht zu fürchten. | Ich erkenne, dass ich frei bin. Es gibt kein Ende, das ich befürchten müsste. |
Zwei Prinzipien | |
Macht über die Welt | Freiheit von der Welt |
Reichtum führt zur Gier, wenn er den Glauben verstärkt, die Welt besiegen zu können. Wissen führt zur Freiheit, wenn es die Erkenntnis bringt, nicht siegen zu müssen.
Selbst die oben genannten heilsamen Methoden können das Leid am persönlichen Sosein nicht endgültig überwinden. Das liegt an der Vergänglichkeit, der alles Zusammengesetzte und damit auch jede Person unterworfen ist. Klar: Keine Verbesserung der persönlichen Lebenslage befreit die Person aus der grundsätzlichen Begrenztheit des persönlichen Daseins an sich. Persönliche Erfolge finden in der Raumzeit statt, führen aber nicht aus sie heraus. Die endgültige Überwindung des Leidens am persönlichen Dasein ist Aufgabe spiritueller Praktiken. Vom Daseinsschmerz kann nur die Einsicht befreien, dass das Wesen der Person nicht in ihr endet.
Das zentrale Anliegen der Spiritualität ist die Des-Identifikation des Selbst vom persönlichen Ich, also die Preisgabe des Glaubens, erstrangig etwas Zusammengesetztes in der Raumzeit zu sein, das dort als Partikel und Pol einer Dualität sein Wesen erfüllt.
Das des-identifizierte Selbst ruht in der Gewissheit, kein Teil der Welt zu sein. Es hat die Vorstellung aufgegeben, Ich und nur Ich zu sein. Es weiß, dass das Ich aus dem Selbst hervorgeht und es als dieses Selbst kein Teil ist, dem etwas anderes widrig gegenüberstünde. Es betrachtet das Leiden des Ich am Dasein als eine Erscheinung, die Ausdruck seiner abgründigen Vollständigkeit ist. Das absolute Selbst erfährt Leid indem es sich darüber erhebt.