Anatta · Nicht-Ich · Uneigenständigkeit


  1. Begriffe
  2. Gegensätzliche Instanz oder erkennendes Prinzip
  3. Groß und Klein
  4. Befreiung von Leid
Was mich vom Jetzt trennt, ist die Idee, dass ich ihm nahe bin.

Menschliche Vorstellungen sind Inhalte der Wirklichkeit, aber die Wirklichkeit ist kein Inhalt unserer Vorstellungen. Unsere Vorstellungen können Bilder entwerfen, die der Wirklichkeit ähneln. Sie entsprechen der Wirklichkeit aber nur soweit unsere Vorstellungskraft reicht.

Niemand hat ein separates Selbst. Ich bin nicht nur ich. Alles, was es gibt, ist auch das, was es nicht ist. Eine bestimmte Person zu sein, ist eine Erfahrung, die der Geist macht, indem er einen Lebensweg abtastet, der sich über eine Zeitspanne erstreckt. Die Person ist keine Instanz, sondern eine Rolle, die gespielt wird.

Das erwachte Selbst ist ein Nicht-Etwas, das nicht glaubt, dieses oder jenes Ich zu sein.

1. Begriffe

Anatta (Pali अनत्त) bzw. Anatman (Sanskrit अनात्मन्) ist gemäß der buddhistischen Ontologie eines der drei Wesensmerkmale der Wirklichkeit. Die beiden anderen sind Anicca und Dukkha. Anicca kann als Vergänglichkeit, Dukkha als Leid übersetzt werden. Gemäß dem Buddhismus sind alle Erscheinungen vergänglich, leidbehaftet und ichleer. Diese Erkenntnis vollständig zu verinnerlichen, entspreche der Verwirklichung des Nibbana (Pali - निब्बन), eines Zustands der völligen Befreiung von allem Leid, das durch Verblendung, also Fehlinterpretation der Wirklichkeit, verursacht wird.

Nibbana (Sanskrit: Nirwana) heißt Verlöschen. Beim Übergang ins Nibbana erlischt der Versuch, vor sich selbst eine persönliche Eigenständigkeit zu behaupten, die der Wirklichkeit nicht entspricht. Nibbana taucht auf, wenn die Vorrangigkeit des persönlichen Interesses nicht nur taktisch verleugnet, sondern als Folge der Erkenntnis seiner tatsächlichen Bedeutung faktisch verworfen wird.

Die Vorsilbe An- verneint. Atman bzw. Atta heißt Einzelseele, individuelles Ich. An-Atman heißt kein individuelles Ich. Der Buddhismus betont, dass es keine individuelle Einzelseele gibt, die als eigenständige Instanz all dem gegenübersteht, was sie selbst nicht ist. Anatta wird daher auch durch den Begriff Ichlosigkeit übersetzt. Anatta benennt die Uneigenständigkeit aller objektivierbaren Sachverhalte. Dazu gehört auch die Person, die man im Spiegel zu Gesicht bekommt und deren Gedanken, Impulse und Gefühle als vergängliche Inhalte des Bewusstseins erkennbar werden.

2. Gegensätzliche Instanz oder erkennendes Prinzip

Der Begriff Ich kann auf zweierlei Art verstanden werden.

2 Moses 3, 14:
Gott entgegnete dem Moses: "Ich bin, der ich bin!"

Gott ist kein Teil. Da Herrschaft die Dominanz eines Teiles über andere Teile ist, führt der Begriff Allmacht in die Irre. Allmacht ist eine Vorstellung des menschlichen Geistes. Sie resultiert aus der Lebensangst sich als separate Instanzen definierender Teile, die ihr Heil nicht in der Befreiung aus irreführenden Vorstellungen sehen, sondern in der Herrschaft über andere.

Die separate Instanz, die davon ausgeht, dass ihr Wesen von anderem kategorisch abgegrenzt werden kann, kann als Person bzw. relatives Selbst bezeichnet werden. Das erkennende Prinzip entspricht dem absoluten Selbst, das das eine Selbst aller Erscheinungen ist.

Unterscheidet man begrifflich zwischen den beiden Definitionen des Ich, wird das Konzept des Anatta verstehbar. Ein separates Ich, das unabhängig vom Nicht-Ich existiert, gibt es nicht. Jede Person geht unabtrennbar aus dem Kontext hervor, in den sie zeitlebens eingewoben ist. Die Person erscheint als Blatt eines Baums, ohne dessen Wurzel sie nicht sein kann. Die Wurzel greift in einen Boden, der sich ins Universum verästelt.

Das persönliche Ich erscheint nur als ein relatives Gegenüber des Nicht-Ich. Es wird ebenso vom Nicht-Ich mitbestimmt wie es selbst Einfluss auf das Nicht-Ich hat. Eine Grenze, die das eine vom anderen abtrennt, ist nicht erkennbar. Persönliches Ich und Nicht-Ich sind gemeinsam Welt.

Mitbestimmung

Wenn es heißt, das persönliche Ich habe ebenso Einfluss auf das Nicht-Ich wie es umgekehrt durch dieses mitbestimmt wird, ist zu beachten, dass der Begriff ebenso nicht quantitativ aufzufassen ist; zumindest nicht pauschal. In der Summe wird das persönliche Ich ungleich mehr vom Nicht-Ich mitbestimmt als umgekehrt. Alles, was es erlebt oder bewirkt, wird ihm durch das Nicht-Ich ermöglicht; und das nicht nur, weil das Nicht-Ich dem Ich Objekte zur Verfügung stellt, auf die es einwirken kann, sondern weil das Nicht-Ich Grundlage aller Fähigkeiten des persönlichen Ich ist, überhaupt etwas zu bewirken.

Nur punktuell kann das Verhältnis umgekehrt sein. Wenn ich ein Unkraut aus dem Beet entferne, ist mein Einfluss auf das Unkraut größer als dessen Einfluss auf mich. Trotzdem bestimmt die Pflanze über mich mit. Ihre Präsenz löst in mir ein Verhalten aus, das mein Dasein entscheidend beeinflusst. Wer steuert an dieser Stelle tatsächlich den Fortgang der Wirklichkeit? Zwei Aussagen sind gleichermaßen gültig:

Als Personen überschätzen wir, was wir in unserem Leben alles zu bestimmen hätten. Dabei sind wir winzige Module, deren individuelles Mitbestimmungsrecht sich auf einen Horizont beschränkt hinter dem sich ein unendliches Kraftfeld erstreckt, aus dem heraus unser Schicksal geschmiedet wird.

2.1. Anhaftung

Der Buddhismus spricht von Anhaftung. In der psychologischen Nomenklatur entspricht das der Abhängigkeit. Beide Begriffe bezeichnen eine psychologische Gebundenheit; also einen Mangel an innerer Freiheit. Die Ursache einer Anhaftung ist eine Vorstellung, ein mentales Konstrukt, das man für wahr hält und an dem man in der Folge festhält. Der Abhängige lebt in der irrtümlichen Vorstellung, bestimmte äußere Bedingungen seien für sein Wohlbefinden unverzichtbar. Er meint: Ohne dass ich dies oder das bekomme, kann es mir nicht gutgehen. Er verliert seine Freiheit, weil er glaubt, dies oder jenes tun zu müssen, um die Bedingungen zu erfüllen, die er für notwendig hält.

In der Tat gibt es eine Reihe von Bedingungen, die für das leibliche Wohl unabdingbar sind: Luft, Nahrung, Wärme etc. Anhaftungen beruhen jedoch auf Trugbildern, die ihrerseits mit der Illusion verbunden sind, das seelische Wohlbefinden bestehe daraus, als Person möglichst viel Erfolg in der Welt zu haben. Tatsächlich hängt das seelische Wohlbefinden aber weniger von Bedingungen ab, als vielmehr von der Bedeutung, die man ihnen zuschreibt. Die Bedeutung, die man äußeren Bedingungen zuschreibt, hängt von inneren Ausrichtungen ab: in der Summe vom Selbst- und Weltbild. Je mehr Irrtümer ins Selbst- und Weltbild einfließen, desto abhängiger ist man. Je mehr Wahres man aufnimmt, desto freier wird man.

Bedeutung

Die Person, also das relative Selbst, befindet sich in der Raumzeit. Die Raumzeit befindet sich im absoluten Selbst. Wenn das so ist, erklärt es, warum das Leben des Einzelnen Bedeutung hat, obwohl seine Bedeutung in der Raumzeit gegen Null geht.

Im normalen, also egozentrischen Funktionsmodus, weist die Person partiellen Elementen der Wirklichkeit eine dominante Bedeutung zu; Elementen, die dem entsprechen, was sie für ihren Vorteil hält. Dadurch kommt es zu einer Verzerrung der Realitätsdeutung, die vom Ego bestenfalls im Ansatz, im Regelfall gar nicht wahrgenommen wird.

Diskussionen über Richtig und Falsch werden in der Folge oft emotional geführt. Die Emotion, wörtlich die Herausbewegung, zeigt an, wie nachdrücklich das Individuum ausrückt, um sein Interesse durchzusetzen. Im Gewand von Meinungen werden persönliche Interessen als angeblich allgemeingültige Aussagen über die Welt maskiert.

Der Mensch glaubt, zu seinem Glück fehle ihm etwas. Tatsächlich hat er zu viel. Irrtümliche Verknüpfungen zwischen äußeren Bedingungen und der eigenen Befindlichkeit als illusionär zu erkennen, ist die Grundlage seelischer Reifung; gleichermaßen in Psychotherapie und Spiritualität. Wer das Glück nicht mehr in bedingten Erfolgen sucht, die er erringen könnte, findet es im unbedingten Sein. Glück ist die Erkenntnis, dass Freiheit unbedingt ist. Sie ist der einzig mögiche Sinn, der mit der Wirklichkeit übereinstimmen kann. Glück und Freiheit sind eins.

Die primäre Anhaftung, an der das Konzept des Anatta ansetzt, ist die Vorstellung, der separaten Person entspreche ein separates Selbst, das, wie der Körper, einer konkreten Form entspricht. Im normalen Funktionsmodus des Bewusstseins haftet das Ich unreflektiert an dieser Idee. Es hält sie für selbstverständlich wahr und gestaltet von der vermeintlichen Selbstverständlichkeit aus seinen Bezug zur Wirklichkeit. Resultat sind die Abhängigkeiten von äußeren und damit wechselhaften Bedingungen, die das Ich in Angst und Unruhe versetzen. Die Angst wiederum verführt das Ich dazu, sich erst recht in der egozentrischen Burg zu verschanzen. Der Glaube des Ich, es selbst zu sein, verurteilt es, in dem Bild gefangen zu bleiben, das es von sich hat.

Wer oder was

Wer ich bin, ist klar, aber unwesentlich. Als Wer bin ich die Person, die mit diesem Körper bestückt auf der Bühne des Lebens zugange ist. Mehr zählt, was ich bin. Was ich bin, liegt jenseits von dem, der ich bin. Der Der ist ein Fall von vielen. Das Was liegt allem zugrunde.

2.2. Leid und Identifikation

Das persönliche Ich, also das relative Selbst, ist einem dynamischen Erfahrungsfeld ausgesetzt, in dem sein Bestand ständig infrage gestellt wird. Daher kennt es Angst, Gier und Hass.

Das absolute Selbst kann sich nichts einverleiben, weil ihm bereits alles angehört. Da ihm alles angehört, wird es durch nichts bedroht. Da es durch nichts bedroht wird, wird es weder von Angst, Gier noch Hass bestimmt. Es erfährt solche Qualitäten nur soweit es sich mit einem relativen Subjekt identifiziert. Das persönliche Ich kann das Wesen des absoluten Selbst nur soweit erkennen, wie es die Identifikation mit sich selbst aufhebt und dadurch Angst, Hass und Begierde hinter sich lässt.

Es selbst ist immer nur das, was sich selbst genügt. Was es selbst ist, erhebt keinen Anspruch auf etwas, das außerhalb liegt. Was es selbst ist, hat keinen Bedarf bewundert oder angebetet zu werden. Es ist kein Körper, weil ein Körper etwas braucht.

Da das persönliche Ich als solches ständiger Bedrohung ausgesetzt ist, misstraut es instinktiv allem, was es nicht ist. Solange es davon ausgeht, nicht absolutes Selbst zu sein, misstraut es auch diesem. Die dualistische Weltsicht, von der das persönliche Ich primär ausgeht, verhindert, dass es sich seinem wahren Selbst anvertraut. In der Meditation verhindert das Misstrauen die endgültige Vertiefung.

2.3. Sein und Nichtsein
Auch wenn das Sein ein ewiges Bemühen ist, etwas zu sein, wird es immer ein Nichtsein bleiben.

Das Absolute liegt jenseits von Sein und Nichtsein. Das Sein ist bereits Pol und Gegensatz zum Nichtsein. Das Absolute geht dem voraus, was es sein kann. Sein und Nichtsein sind insofern dasselbe, als sie Erscheinungsformen des absoluten Selbst sind. Damit etwas sein kann, muss etwas abgezogen werden. Nichts kann sein, ohne dass etwas anderes nicht ist.

Betrachten wir eine Skulptur. Eine bestimmte Skulptur existiert nur, wenn all das vom Rohling entfernt wurde, was nicht da sein darf, damit die Skulptur in Erscheinung tritt. Gleiches gilt für farbiges Licht. Eine Farbe tritt nur in Erscheinung, wenn die komplementären Wellenlängen darin fehlen.

Dualismen

Das Absolute ist die Matrix aus der das Relative auftaucht. Relativ, nämlich bezogen auf sein Gegenteil, ist alles Duale. Primäre Dualismen sind z. B.:

Ein konkretes Ich, das sich selbst umfasst, kann nicht der Wirklichkeit entsprechen, weil seine Erscheinung von dem abhängt, was es nicht ist. Das verwirklichte Ich erscheint, wenn die Wirklichkeit das Nicht-Ich von ihm abzieht. Sobald die Wirklichkeit ihm alles gibt, wird das Ich im Ganzen aufgelöst.

Unersättlichkeit

Man kann das Ego dafür schelten, dass es schier unersättlich ist und immer größer werden will. Vielleicht ist seine Unersättlichkeit aber nicht nur Beleg seiner Eitelkeit, sondern auch die Triebfeder dafür, dass es eines Tages über das Große hinweg und im Absoluten aufgehen will.

3. Groß und Klein

Die Unterscheidung zwischen Groß und Klein ist eine Verkennung des Unbedingten. Das Unbedingte liegt Großem zugrunde und geht daher darüber hinaus. Die Formel Gott ist groß verkennt das Absolute, weil sie vom Großen das Kleine abtrennt und damit beides verkleinert. Besser als das Unbedingte für groß zu halten, ist seine Präsenz in allem anzuerkennen. Zur Anerkennung der Präsenz des Unbedingten führt kein Wissen über das Absolute, sondern die Erkenntnis des wahren Wesens des Bedingten. Wer das Bedingte als das annimmt, was es ist, anerkennt das Unbedingte. Es schützt ihn, sich im Bedingten zu verirren.

Vom Erwachen und Verstehen

Die geringe Bedeutung der Person anzuerkennen, heißt, die große Bedeutung zu sehen, die dem Geringem im Kleinen zukommt. Die Bedeutung zu sehen, die dem Kleinen tatsächlich zukommt, ist die Grundlage eines unerschütterlichen Selbstwertgefühls. Wer die Bedeutung des Kleinen im eigenen Dasein verkennt, verschwendet das Leben auf der Suche nach etwas Großem, das ihm nicht zukommt.

4. Befreiung von Leid

Als Person ist man das, was man war. Als man selbst ist man das, was man sein wird.

Das absolute Selbst verweist auf das Erkannte; und zwar nicht in einem konkurrierenden Sinne, indem es Ich und Nicht-Ich als jeweils unabhängige Einheiten auffasst, die miteinander rivalisieren. Es ist Erkennen an sich. Ichlosigkeit heißt, dass das persönliche Ich nicht mit seinem Selbst identisch ist. Das persönliche Ich entsteht aus dem absolutem Selbst. Das absolute Selbst des Ich besteht aber nicht aus der Person, die beim Gespräch mit einem Du ich sagt.

Auf dem Weg zur Befreiung von seelischem Leid, gilt es zu erkennen: Ich bin nicht das, als was ich erscheine. Ich bin das, was die Erscheinung hervorbringt. Sobald ich mehr bin als Erscheinung, bin ich nicht Ich. Ich bin jenseits von mir.

Missverständnis
Die Verheißung einer sogenannten völligen Befreiung vom Leid, die durch die uneingeschränkte Erkenntnis der Uneigenständigkeit aller weltlichen Erscheinungen erreichbar ist, kann missverstanden werden. Tatsächlich ist es nicht so, dass der Erkennende dem Leid des Daseins nicht mehr zu begegnen hätte. Zahnschmerzen tun weiterhin weh. Der Verlust einer geliebten Person ruft Trauer hervor. Zurückweisungen sind unerfreulich. Salmonellen führen zu Durchfall und Übelkeit.

Befreit wird der Erkennende jedoch von jenem Leid, das er sich bis dahin durch seine egozentrische Sichtweise auf die Wirklichkeit selbst zufügt. Das unumgängliche, also existenzielle Leid, das zum Dasein, also zur Erscheinung an einem Ort, unentrinnbar gehört, wird weiterhin erfahren, ohne jedoch durch das verengte Selbstbild des Egos dramatisiert zu werden. An einem Ort zu erscheinen, heißt die Gebundenheit an den Ort zu erleiden. Was an Leid darüber hinausgeht, ist überflüssig.

Je deutlicher das Ich erkennt, dass es als Abgespaltenes im Modus dualer Erscheinungen zwar vorübergehend existiert und daher auch bittere Erfahrungen macht, dass es aber nur im absoluten Selbst wirklich ist, desto mehr fällt die Vernichtungsangst von ihm ab, die den meisten seelischen Störungen zugrunde liegt.

Was für ein Segen, wenn ich nicht mehr glaube, ein bedrohter Teil zu sein, der sich zur Abwehr der Bedrohung auf Gedeih und Verderb verbessern, bewahren, beschneiden, beschuldigen, vergrößern, verkleinern, anpassen, belehren, ermahnen und bereichern muss. Was für ein Segen, wenn ich sagen kann: Ich bin, was ich bin. Und das zu sein, ist in Ordnung.

4.1. Preisgaben

Die Preisgabe egozentrischer Interessen taucht als gemeinsamer Nenner verschiedener religiöser Traditionen auf. Das Ego ist im Interesse der biologischen Existenzsicherung der Person so konstruiert, dass es sich für außerordentlich wichtig hält, obwohl es in Wirklichkeit kaum wichtig sein kann. Durch seinen Glauben an die eigene Wichtigkeit verengt es den Blick auf sein persönliches Interesse und bleibt im Horizont von Angst und Gier gefangen. Dieser Gefangenschaft abzuhelfen ist Aufgabe der Religion. Religion zielt darauf ab, den Einzelnen aus der Gefangenschaft in seiner persönlichen Existenz zu befreien, indem sie seinen Blick auf das Ganze ausrichtet.

Die dualistische und die monistische Religionsauffassung gehen dabei verschiedene Wege. Der Dualismus glaubt an die eschatologische Existenz der Person. Daher predigt er eine taktische Abkehr von egozentrischen Motiven, um das verzichtbereite Ego für ein vorgestelltes Paradies zu qualifizieren. Da er die Idee des eigenständigen Egos aber nicht aufgibt, bleibt die Egozentrik trotz taktischer Abkehr erhalten und führt zu seelischen Verwerfungen.

Die monistische Religionsauffassung geht davon aus, dass es ein eigenständiges Ego abseits des Absoluten nicht gibt. Sie predigt daher keinen taktischen Verzicht, um den Zorn des Absoluten auf sein Gegenüber abzuwenden. Sie baut darauf, dass die Einsicht in das tatsächliche Wesen der Wirklichkeit genügt, um den Drang der Person, sich über ihre wahre Bedeutung hinaus zu erhöhen, aufzulösen.

Dualismus bedarf eines Glaubens, der durch den Satz Du sollst nicht an das Ego appelliert. Mystik sucht Einsicht jenseits aller Sätze. Dualistischer Glaube macht an der Person halt. Mystik überschreitet sie. Dualismus versucht die Quadratur des Kreises. Er will dem Absoluten begegnen. Monismus geht davon aus, dass es jenseits des Absoluten nichts gibt, das ihm begegnen könnte.

Alternative Sichtweisen

Konventionell Anatta
Die Person ist ihr eigenes Selbst. Die Person hat kein separates Selbst.
Es ist wichtig, dass ich mich nicht wichtig nehme. Es gibt kein Ich, als dass wichtig wäre, was es für wichtig hielte.
Selbstlosigkeit muss erzwungen werden Ich-Freiheit ergibt sich. Die Freiheit des Ich ist die Freiheit von der Vorstellung nur ich zu sein.

Das Ziel der Religion ist die Rückkehr in einen prä-existenten Zustand. Existenz ist das Hinausragen in ein polares Erfahrungsfeld. Dort begegnet der Existierende als egozentrische Partei Elementen, die er dem Nicht-Ich zurechnet. Als Partei versucht er, auf diese Elemente im eigenen Interesse einzuwirken. Durch die absichtliche Einwirkung auf anderes wird das Ich in seine Abspaltung vom Ganzen fixiert. Religion versucht, die Abspaltung vom Ganzen aufzuheben. Wäre das Absolute Partei, wäre es nicht absolut.

4.2. Glück

Glück ist ein Leben im Einklang mit der Bedeutung, die man hat. In der Regel messen wir unserer Person eine Bedeutung zu, die ihr objektiv betrachtet nicht zukommt. Wir machen uns wichtig, um der Gefahr zu entgehen, als Unwichtiges von der Wirklichkeit übergangen zu werden. Wir leben egozentrisch. Das führt zu einem chronischen Konflikt mit der Wirklichkeit, der uns daran hindert, mit ihr übereinzustimmen.

Tatsächlich kommt alle Bedeutung der Wahrheit zu. Bedeutung hat das, was in Wirklichkeit so ist, wie es ist. Bedeutung und Wirklichkeit sind eins. Dass dem Individuum weniger Bedeutung zukommt, als es selbst in der Regel glaubt, heißt nicht, dass es keine hätte. Seine tatsächliche Bedeutung verweist aber nicht auf den persönlichen Rang, den es für sich erstreitet, sondern entspricht der Wahrheit, die es erkennt und bezeugt. Wenn es Wahrheit erkennt und sie als sein Selbst bezeugt, kann es glücklich sein.

Vorstellungen können mehr oder weniger der Wahrheit entsprechen. Eine Vorstellung, die nicht für alle gut ist, ist für alle schlecht. Richtige Vorstellungen führen zum Glück, falsche in den Untergang.

Person, Wahrheit und Wohlbefinden

Die Person ist ein biologisches Programm, das darauf ausgerichtet ist, egozentrisch zu sein. Daher entscheidet sich die Person gegen die Wahrheit, sobald sie glaubt, es sei zu ihrem Vorteil. Nur wer erkennt, dass es zu seinem Vorteil ist, seinen persönlichen Vorteil in den Hintergrund zu stellen, hat eine Chance, frei zu wählen und über den Horizont seiner persönlichen Interessen hinauszugehen.

Warum wird der Mensch nicht glücklich, wenn er sich ausschließlich um sein persönliches Glück sorgt? Weil der Einzelne zu unwichtig ist, als dass er in der Besorgung seines Vorteils Erfüllung finden könnte. Warum kann der Einzelne überhaupt Erfüllung finden? Weil er Ausdruck dessen ist, was über ihn hinausgeht. Nur wenn das Streben über die eigene Person hinausgeht, kann die Person mit sich und der Welt im Reinen sein. Mit dem Konzept des Anatta kann der Geist sich endgültig von der Idee befreien, die er als Ich über sich selbst entworfen hat. Der Geist ist frei, wenn die Idee, die er von sich hat nicht mehr über ihm steht.