Stolz geht wie die Stelze auf die indogermanische Wurzel stel- = stehen machen, aufstellen zurück, der unschwer erkennbar auch das Verb stellen entspringt. Die weitere sprachliche Verwandtschaft des Begriffs Stolz ist breit gefächert. Sie erstreckt sich über sämtliche Ableitungen des Verbs stehen, das seinerseits auf die indoeuropäische Wurzel st[h]ā- zurückzuführen ist. Ohne dass es größerer Erklärungen bedürfte, sind Sinn und Klang des gleichen Gedankens aus folgenden Wörtern herauszuhören: Stadt, Stätte, Stuhl, Gestade, stet, stur, Gestell, Stab, stemmen, stauen.
Indem sich der stolze Mensch eine hervorragende Rolle zuschreibt, dämpft er seine Lebensangst. Wenn ich doch so wichtig bin, sollte mir eigentlich nichts passieren.
Im Französischen gibt es zwei Begriffe, die das Bedeutungsspektrum des Stolzes abdecken: orgueil und fierté. Orgueil kann auf das althochdeutsche urguol = bemerkenswert, hervorragend zurückgeführt werden. Fierté entspringt dem lateinischen Adjektiv ferus = ungezähmt, wild und dem lateinischen Verb fidere = glauben, vertrauen.
Die französischen Entsprechungen fokussieren zwei Bedeutungsfacetten des Stolzes:
Stolz im Sinne von fierté betont das Selbstvertrauen, über das der, der auf seine Fähigkeiten stolz ist, verfügt. Mit Hinweis auf das, was er ist oder kann, bewertet sich der Stolze positiv. Wer auf sich selbst vertraut, wer an sich glaubt, lässt sich nicht so leicht einschüchtern. Er ist ungezähmt. Er ist wild. Das heißt: Seine ursprüngliche Kraft ist ungebrochen. Sie ist nicht durch die Angst vor anderen gedämpft.
Eine enge psychologische Verbindung besteht zwischen dem Stolz und dem Ehrgefühl. Wenn es heißt: Ich bin zu stolz, um zu..., dann sträube ich mich, mich zu einer Tat herabzulassen, die mir unehrenhaft erschiene.
Stolz ist eine wichtige Triebkraft bei der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit. Dementsprechend taucht die Wurzel stehen auch im Eigenschaftswort eigenständig auf. Auf dem Weg aus der völligen Abhängigkeit des Säuglingsalters hin zur selbstbewussten Selbständigkeit eines gesunden Erwachsenen hat die Natur den Erwerb einer typisch menschlichen Eigenschaft vorgesehen: sich aufzustellen, da zu stehen und aufrecht durch die Welt zu gehen. Wir wissen, dass es Kinder mit erheblichem Stolz erfüllt, wenn ihnen der aufrechte Gang ein erstes Mal gelingt. Dabei wird ihnen vom Umfeld in der Regel begeistert applaudiert. Dafür, dass es nun stehen kann, bekommt das Kind von Menschen, die seine Selbständigkeit begrüßen, Bestätigung. Wir hören es: Bestätigung soll den Stolz auf das Erreichte stützen. Stützen heißt zum Stehen bringen.
Die Fähigkeit, selbständig zu stehen, kann als symbolische Etappe auf einem langen Weg betrachtet werden. Mit dem Erwerb einer jeden neuen Fertigkeit stellt sich das Kind unter Seinesgleichen; oder es gelingt ihm sogar, andere zu überragen. Dabei spielt der Stolz auf das Erreichte als angenehme und damit begehrenswerte Gefühlsqualität eine wesentliche Rolle. Stolz ist eine Komponente des Selbstwertgefühls.
Nützliche und übertriebene Betonungen
Man kennt sie: Eltern, die sich nach jedem Strich, den ihr Nachwuchs auf einem Blatt Papier hinterlässt, vor Begeisterung erdrosseln, sodass Auktionshäuser in Übersee glauben, der Welt sei ein neuer Caravaggio geschenkt.
Um die Lust des Kindes auf weitere Fortschritte anzuregen, kann es förderlich sein, seinen Stolz auf bislang Vollbrachtes zu steigern; und ihm dabei mehr Lob als Dünger zu spendieren, als es ein Kunstkenner vor der dritten Tasse Kaffee für angebracht hält. Es ist richtig: Stolz kann eine wichtige Funktion erfüllen. Er kann helfen, um von unten etwas aufzubauen. Lassen wir einen solchen Stolz getrost gewähren. Und je jünger das Kind ist, desto dicker kann man bei der Stimulation dieses Stolzes auftragen, ohne dass sich die Bauchspeicheldrüse entzündet.
Die übertriebene Belobigung durchschnittlicher Leistungen kann aber auch jene Facette des Stolzes füttern, die weniger ungezähmtem Selbstvertrauen entspricht, und umso mehr einem idealisierten Selbstbild, dessen Glanz nur beizubehalten ist, wenn man sich angewöhnt, hochmütig auf andere herabzublicken. Ein solcher Stolz ist eine Sackgasse. Er vergiftet das Miteinander. Er hebt nicht von unten nach oben. Er macht das Unten bloß glauben, bereits oben zu sein. Tatsächlich ist das Unten nur oben, wenn es nie aus dem Auge verliert, dass es unten bleibt, obwohl es oben ist.
Die bisherige Untersuchung hat bestätigt, was wir bereits wussten: Wie wohl fast allem im Leben ist auch der nützlichen Seite des Stolzes eine dunkle zugeordnet. Über stet und stur hat der Stolz etwas mit Versteifung zu tun. Da Stolz einem erhabenen Selbstwertgefühl entspricht, neigt der Mensch dazu, sich daran festzuhalten. Da der aufrecht Stehende nicht nur steht, sondern sich durch das Stehen nach oben erhebt und damit besser erkennbar wird, kann er nach dem Gefühl des Stolzes süchtig werden. Daher macht er dreierlei:
Die narzisstische Persönlichkeit ist der typische Repräsentant dieser Dynamik. Der narzisstische Mensch ist stolz auf seine Fähigkeiten oder Eigenschaften. Nur selten genügt ihm jedoch die Anerkennung, die er sich selber zollt. Er verlangt die Bestätigung seines besonderen Wertes durch andere; und zwar in Wort und Tat. Bekommt er nicht das, was er haben will, greift er zu drastischen Mitteln. Er wertet andere ab, entweder zur Strafe für die Verweigerung des narzisstischen Tributs oder um verborgene Zweifel an seinem Selbstwert abzuwehren.
Stolz hat etwas mit Kontrasten und Anerkennung zu tun.
Solange sich der Einzelne als Person begreift, kann er von dort aus stolz darauf sein, was er in der Gemeinschaft anderer darstellt. Stolz ist er relativ zu dem, was im beschränkten Rahmen sozialer Vergleiche als hochrangig gilt.
Um sich seines positiven Urteils über den eigenen Selbstwert sicher zu sein, ist er darauf angewiesen, dass sein Urteil von anderen geteilt wird. Er will von anderen die Bestätigung, dass sein Stolz berechtigt ist. Bereits darin liegt ein Keim des Widerspruchs. Wer auf Bestätigung angewiesen ist, ist keineswegs so selbständig, wie es sein Stolz ihn gerne glauben machen würde.