Anicca (Pali - अनिच्चा) bzw. Anitya (Sanskrit - अनित्य) gehört gemäß der buddhistischen Ontologie zu den drei Wesensmerkmalen der Wirklichkeit, die auf der Suche nach Befreiung aus dem Käfig der Ichbezogenheit besonders zu beachten sind.
Ebenso wie im Begriff Anatta findet man in Anicca die Vorsilbe An-. Sie drückt eine Verneinung aus. Nicca bzw. nitya heißt fortgesetzt, immerwährend. Anicca heißt nicht fortgesetzt, also vergänglich.
Da alle Objekte der Wirklichkeit vergänglich sind, ist jeder, der sein Glück in der Bindung zu Objekten sucht, dazu verurteilt, den Verlust seines Glücks zu erleben; oder es nie zu erreichen. Das gilt insbesondere für die Bindung an das persönliche Ich, also die Identifikation mit der eigenen Person; aber auch für die Bindung an alles, was als begehrenswert empfunden wird, was als Objekt besessen oder als Erfahrung erlebt werden kann. Die Bindung an Objekte und spezifische Erfahrungsmuster führt in einen Kreislauf von Erfahrungen, die unweigerlich mit Verlust und Leid durchsetzt sind.
Die ostasiatische Philosophie spricht vom Samsara (Sanskrit - संसार, verwandt mit samsarati [संसरति] = fließen mit). Sie meint damit das Gewebe objektiv erkennbarer Sachverhalte, das wir als Welt bezeichnen. Das Gewebe dieser Sachverhalte ist einem unaufhaltsamen Wandel unterworfen, sodass darin kein Ziel gefunden werden kann, das endgültig gilt. Wer seine Hoffnung in Objekte der Welt verankert, wird vom Strom der Ereignisse fortgerissen. Auf der Suche nach Erlösung vom Leid und nach dauerhaftem Glück verbleibt er auf einer Wanderschaft, bei der er niemals ankommt. Er irrt in der Welt der Erscheinungen umher, ohne jemals zu sich selbst zu finden.
Eng verbunden mit der Vergänglichkeit ist die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit. Je mehr der Mensch über den unmittelbaren Horizont seiner persönlichen Interessen hinausblickt, desto größer ist die Gefahr (und die Chance), dass er all sein Tun, seine Erfolge und schließlich seine gesamte Existenz als bedeutungslos empfindet.
Die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit entspringt nicht dem Vergleich mit anderen Personen. Sie entspricht vollständiger Erkenntnis der Vergänglichkeit. Wer die Vergänglichkeit aller Erscheinungen und damit aller Sachverhalte, die der Zeit unterworfen sind, nicht nur intellektuell erkennt, sondern von der Erkenntnis in seinem Selbstverständnis existenziell getroffen und bestimmt wird, durchläuft die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit.
Definitionen
Eine Erkenntnis ist existenziell, wenn der Betrachter die Erkenntnis verinnerlicht und sie sein Selbstbild in der Folge verändert. Sie verändert die Art und Weise, wie er als Person in der Folge existiert.
Die Frage nach der Bedeutung der Person wird dabei nicht nur relativ beantwortet. Sie wird im Grundsatz verneint. Wer seine Person für bedeutungslos hält, geht nicht davon aus, dass sie weniger Wert ist als andere. Er erfährt ihre Existenz als bloße Erscheinung. Beim Minderwertigkeitsgefühl bleibt die Illusion einer potenziellen Großartigkeit des Egos erhalten. Die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit hebt sie auf.
Die vollständige Erfahrung der Bedeutungslosigkeit der Person entspricht der Einsicht in Anatta. Anatta heißt: Es gibt kein Ich, das als eigenständige Instanz die Person begründet. Das Ich als Gegensatz zum Nicht-Ich ist Komponente einer Polarität, in der das Ganze als Gespaltenes in Erscheinung tritt; ohne in seiner Essenz tatsächlich gespalten zu sein. Eine Welle, die es nicht mehr gibt, ist eine Möglichkeit des Ozeans, in Erscheinung zu treten.
Vorsicht
Der Begriff Bedeutungslosigkeit kann in die Irre führen; nämlich dann, wenn man ihn auf das Individuum statt auf die Person anwendet. Person wird hier als endliche Erscheinung in der Raumzeit aufgefasst. Die Person ist die Summe der Rollen, die sie vorübergehend anderen Personen gegenüber spielt. Das Individuum reicht als Unaufgeteiltes über die Raumzeit hinaus und geht nahtlos in das Absolute über.
Postuliert man jenseits der Zeit ein absolutes Sein, das man der endlichen Existenz der Person gegenüberstellt, riskiert man jedoch deren tatsächliches Erleben abzuwerten. Man denkt: Das Wahre liegt jenseits dessen, was ich jetzt erlebe. Das Hier-und-Jetzt ist bloß die Bühne eines Jammertals. Warum sollte ich es noch beachten?
Allzu leicht lässt man sich dann vom tatsächlich Erlebten ablenken. Man misst ihm nur noch die Bedeutung eines Trittbretts bei, das dazu dient, sich auf dem Weg zum Wahren selbst zu überwinden. Legion sind die Verirrten, die ihre Individualität hier und jetzt geringschätzen und stattdessen nach einer Belohnung Ausschau halten, die sie für die Geringschätzung ihrer selbst vom Absoluten erwarten.
Die Verirrung verhindert, wer sich zweierlei klar macht:
Wer vom Zeitlosen keinen Lohn für Selbstverachtung erwartet, kann Vergängliches wertschätzen, bis er ins Zeitlose übergegangen ist.
Oben wird die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit sowohl als Gefahr als auch als Chance bezeichnet. Sie ist Gefahr, weil sie den Erfahrenden in eine so tiefe Depression stürzen kann, dass er meint, er sei nichts. Man spricht vom nihilistischen Wahn (lateinisch nihil = nichts). Beim nihilistischen Wahn bleibt die Identifikation des Ich mit der Person erhalten. Der wahnhaft Depressive macht sich zum Opfer eines Vergleichs. Er vergleicht seine Person mit dem, was sie vermeintlich sein sollte, und wertet sie ab.
Die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit ist Chance, wenn sie die einseitige Identifikation mit der Person überwindet, und sie dem Erfahrenden die Bedeutungslosigkeit seiner persönlichen Interessen vor dem Hintergrund des Absoluten vor Augen führt. Sie ist Chance, wenn er den Mut hat, die Bindung an sein Ego aufzugeben; um das absolute Sein als neues Selbstbild anzunehmen. Dann erkennt er, dass sein Dabeisein (lateinisch Interesse) die Grenzen der Person überschreitet und, dass er an etwas Größerem beteiligt ist.
Beteiligung
Sich an etwas zu beteiligen heißt, sich dem Feld als Teil hinzuzufügen, in das man eintritt. Dabei ist das Feld stets größer als der Teil, der man als Partikel darin ist.
Teil eines bestimmten Feldes zu sein heißt, den besonderen Kräften ausgesetzt zu sein, die innerhalb des Feldes wirken. Und es heißt, das Kraftfeld durch die eigene Gegenwart zu ändern. Da die Kräfte, denen man sich durch den Beitritt aussetzt, nicht vollständig ausgeglichen werden können, wird jede Mitgliedschaft durch einen Verlust an Selbstbestimmung begleitet. Wer mitmacht, schränkt sich ein, indem er sich in etwas Größeres einfügt, und er erweitert sich, indem er sich ein Feld eröffnet, in dem er sich entfalten kann. Wer Mitglied eines Feldes ist, kann über das mitbestimmen, was im Feld geschieht.
Die Einsicht in ihre Vergänglichkeit erhöht die Bedeutung, die der Person im Fluss des Vergänglichen zukommt, indem sie Ansprüche beschränkt, die deren Rolle nicht angemessen sind. Wer die Vergänglichkeit der Person anerkennt, verlässt ihre Mitte und kann sie von dort aus besser steuern.
Leben ist eine Dynamik, die darauf abzielt, sich entgegen widriger Umstände selbst zu erhalten. Es ist ein selbstbewahrender Prozess. Da Leben zugleich auf materielle Strukturen zugreift, die dem Gesetz der Entropie, also der unaufhaltsamen Vergänglichkeit unterworfen sind, leistet es der Vergänglichkeit Widerstand. Dieser Widerstand ist bereits Grundmerkmal vorbewussten Lebens...
Der Widerstand gegen die Vergänglichkeit wendet mit dem Fortschritt der Arten immer aufwändigere Strategien an, sodass die Phylogenese als Entwicklungsgeschichte wirksamer Abwehrmuster gegen die Vergänglichkeit verstanden werden kann.
Sublimation
Nach Wolfgang Amadeus' Tod war er in der Erinnerung der Nachwelt immer noch lebendig. So sagt man; obwohl Erinnerung als Lebendigkeit bereits metaphorisch gemeint ist. Und Hand aufs Herz: Nachdem der Letzte gestorben war, der Wolfgang Amadeus persönlich kannte, war er auch in niemandes Gedächtnis mehr präsent.
Wolfgang Amadeus hinterließ jedoch ein Werk, dass so schnell nicht in Vergessenheit gerät. Etwas von ihm ist bislang der Vergänglichkeit entronnen. Es begründet den Ruhm seines Erschaffers.
Ruhm und rufen sind sprachlich verwandt. Berühmt ist, wessen Name allerorten oder noch lange Zeit genannt und ausgerufen wird.
Die Bewältigung archaischer Triebe und Ängste durch Kreativität bezeichnet die Psychologie als Sublimation. Freud ging davon aus, dass Sublimation eine wesentliche Triebfeder ist, die kulturelle Prozesse befeuert. Er hatte Recht. Im Hintergrund des menschlichen Schaffensdrangs ist das Motiv zu erkennen, der Vergänglichkeit zu entgehen, indem man etwas hinterlässt, das die Nachwelt mit dem Namen des Verstorbenen verknüpft.
Opfer der Vergänglichkeit zu werden, ist als allzeit drohendes Unheil jedem Leben stets präsent. Es überrascht daher nicht, dass die Angst davor ein zentrales Motiv des seelischen Erlebens ist und ein großer Teil dieses Erlebens ausdrücklich oder verdeckt mit der Abwehr oder Verleugnung der Vergänglichkeit beschäftigt ist.
Einerseits verhindert die Abwehr der Vergänglichkeit das Leid des sofortigen Untergangs, andererseits ist sie selbst Quelle ständigen Leids; dort nämlich, wo sie überwertig wird, unverhältnismäßig viele Ressourcen verbraucht und heilsame Entwicklungen blockiert. Das Leben vieler Menschen wird durch Verhaltensmuster überschattet, die einen überschießenden Widerstand gegen die Vergänglichkeit zum Ausdruck bringen. Das meiste, was in der Psychopathologie Rang und Namen hat, kommt dabei vor.
Ängste, Sorgen und Befürchtungen stellen konkrete Gefahren in den Vordergrund des Bewusstseins, die das Ende bedeuten könnten.
Zwangserkrankte versuchen Gefahren durch Rituale und Kontrollen abzuwehren. Sie sammeln Gegenstände, die sie irgendwann gegen Gefahren verwenden könnten. Sie halten starr an Regeln, Traditionen und Meinungen fest, weil jeder Wandel der Vergänglichkeit die Tür öffnen könnte. Sie grübeln unentwegt über irgendetwas nach, was mit der Stabilität des persönlichen Daseins in Verbindung steht.
Depressive Menschen vermeiden expansive Impulse, weil jedes Hinausgreifen über enge Grenzen hinweg mit den Gefahren verbunden ist, die die Vergänglichkeit mit sich bringt. Der Depressive fürchtet Verluste so stark, dass er sich nicht zu bewegen wagt. Er stellt sich tot um dem Tod zu entgehen.
Suchtmittel helfen die Schrecken der Vergänglichkeit zu verdrängen; bei stoffgebundenen Süchten indem sie die Wahrnehmung betäuben, bei nicht-stoffgebundenen Süchten indem sie die Aufmerksamkeit von gefürchteten Tatsachen ablenken.
Die meisten Psychotiker sind paranoid. Überall wittern sie Gefahren, die Leib und Leben bedrohen. Sie versuchen, sich diesen Gefahren durch komplizierte Manöver zu entziehen.
>Wer nicht schläft, bleibt wach und damit wachsam. Statt sich anzuvertrauen, beschäftigt er sich mit der Abwehr drohender Gefahren.
Der kleine Bruder des Todes
Schlaflos zu sein heißt, alarmiert zu sein. Es heißt, nicht zu vertrauen und loszulassen. Wer schläft, vertraut darauf, dass um ihn herum nichts vorgeht, was er zu bekämpfen hätte. All'arme! heißt italienisch zu den Waffen. Ist das Bewusstsein alarmiert, wird es zu einer Waffe, die der Welt des Wandels zu widerstehen versucht.
Wach sein heißt, die Welt zu überwachen. Wer wach ist, statt zu schlafen, hält nach Gefahren Ausschau, die er im Auge behalten will. Zwei stehen im Vordergrund. Beide haben mit der Vergänglichkeit zu tun:
Tiefschlaf ist ein zeitloser Zustand. Vom subjektiven Zeiterleben her gesehen erfolgt das, was beim Erwachen und beim Einschlafen geschieht, im selben Augenblick. Widerstrebt man dem, was morgen zu erwarten ist, kann es sein, dass man nachts wachliegt, um sich durch Zeit zum Unerwünschten auf Distanz zu bringen. Tief zu schlafen heißt, die Vergänglichkeit zu akzeptieren. Tiefschlaf ist Vergangensein auf Zeit. Im Schlaf vergeht die Zeit wie im Fluge. Mancher, der partout nicht einschläft, fürchtet das. Obwohl es wehtut, liegt er lieber wach, als sich im Tiefschlaf zu verlieren. Ich denke! Also bin ich! Wo bin ich aber, wenn ich nicht mehr denke?
Wir haben gesehen: Anicca hat mit dem Zugriff des Lebens auf materielle Strukturen zu tun. Insoweit das Leben körperlich ist, ist es der Vergänglichkeit unterworfen. Neben überschießenden Abwehrmustern zur Verhinderung oder Verleugnung der Vergänglichkeit, die sich zu manifesten psychischen Erkrankungen ausformen, hat der Mensch die Religion entdeckt. Leitmotiv der Religion ist die Überwindung der Vergänglichkeit.
Unterschiedliche Strategien
Verleugnen | Verhindern | Überwinden |
Der Süchtige legt den Schwerpunkt auf die Verleugnung der Vergänglichkeit. Er verdrängt die Angst davor mit psychoaktiven Substanzen oder durch Verhaltenssüchte aus dem Bewusstsein. Dabei verdrängt er auch, dass seine Strategie die Vergänglichkeit oft sogar noch fördert. | Bei Angst- und Zwangsstörungen steht die Verhinderung zeitnaher Vergänglichkeit im Vordergrund. Was Angst- und Zwangspatienten tun, schafft die Vergänglichkeit zwar nicht aus der Welt, kann ihre Wirkung aber verzögern. | Der spirituelle Mensch will die Vergänglichkeit nicht hinausschieben. Zuweilen nimmt er ihren vorzeitigen Eintritt sogar in Kauf. Sein Ziel ist es, die Vergänglichkeit grundsätzlich zu überwinden oder die Angst davor zu verlieren. Dabei lernt er, sie bewusst zu akzeptieren und ihre gute Seite für sich zu nutzen. |
Je nach weltanschaulichem Grundkonzept schlagen Religionen drei verschiedene Strategien vor, wie die Vergänglichkeit zu überwinden ist.
Schon in der Steinzeit wurden die Körper der Toten beerdigt und mit Grabbeigaben für das Jenseits versehen. Die Beisetzung verzögerte die Zersetzung des Körpers, weil er im Grab davor geschützt war, von Tieren gefressen zu werden. Um sie für ein Leben in einer unvergänglichen Welt zu bewahren, wurden Körper mumifiziert. Pharaonen türmten Millionen Tonnen Gestein zu Pyramiden auf, um die Zerstörung ihrer einbalsamierten Leiber zu verhindern.
Christentum und Islam legen den Schwerpunkt darauf, sich den Platz in einem ewigen Paradies zu verdienen. Dazu gilt es, dem Gott, der den Platz vergeben kann, zu gehorchen und seine Gebote zu befolgen. Nicht für den Körper wird Ewigkeit erhofft, sondern für die persönliche Seele als dessen transzendente Entsprechung.
Mystik geht davon aus, dass der Wesenskern des Einzelnen, dessen Person der Vergänglichkeit unterliegen mag, von je her an etwas Zeitlosem teilhat. Mystische Techniken, allen voran die spirituelle Meditation, zielen darauf ab, den Glauben an die Teilhabe durch persönliche Einsicht zu bestätigen. Die Mystik versucht nicht die Vergänglichkeit selbst zu überwinden, sondern die Angst davor. Sie setzt voraus, dass Vergänglichkeit nur auf einer Ebene der Wirklichkeit existiert, auf einer anderen aber nicht. Sie setzt darauf, dass die Erkenntnis der wahren Struktur der Wirklichkeit die Angst vor der Vergänglichkeit aufhebt.
Die buddhistische Tradition stellt die Vergänglichkeit neben der Leidbehaftung (Dukkha) und der Ich-Losigkeit (Anatta) in den Vordergrund der Betrachtung. Sie erklärt pathologisches Leid als Folge einer irrtümlichen Identifikation des Individuums mit vergänglichen Erscheinungen.
Zur Behebung des Leids empfiehlt sie, die Identifikation mit egozentrischen Vorstellungen über das eigene Wesen zu lösen. Die wesentliche Methode, die sie dazu anwendet, entspricht der der mystischen Religion: die kontemplative oder meditative Einsicht in die tiefere Struktur der Wirklichkeit.
Erfolge die Einsicht, erkenne das Individuum, dass sein Wesenskern nicht an egozentrische Strukturen gebunden, sondern in der sogenannten Buddha-Natur verankert ist.
Buddha heißt der Erwachte. Gemäß buddhistischer Ontologie ist die Buddha-Natur reine Bewusstheit, die der Vergänglichkeit materiell basierter Erscheinungen entbunden ist. Habe das Individuum den zeitlosen Seinsgrund der Wirklichkeit entdeckt, bekomme es Zugang zum sogenannten Nirvana, einem Zustand, in dem alle egozentrischen Begierden erloschen sind, die es bis dahin den Formen psychopathologisch beschreibbarer Leidenserfahrungen ausgeliefert hatten.
Abwehrstrategien gegen die Angst vor Leben und Tod
Psychopathologisch | Spirituell |
Identifikation mit der Person bleibt erhalten. | Identifikation mit der Person wird aufgegeben. |
Ich und Nicht-Ich sind zwei. | Ich und Nicht-Ich sind eins. |
Die Welt ist die duale Ebene der Wirklichkeit. Sie ist nachgeordnet, weil die Zwei nach der Eins kommt. Die Zwei kommt aber nur auf der dualen Ebene nach der Eins. Auf der non-dualen ist sie in der Eins enthalten.
Um die Angst vor der Vergänglichkeit zu überwinden, gilt es, sich die Vergänglichkeit aller Erscheinungen, die im Bewusstsein auftauchen, beharrlich vor Augen zu führen. Das kann während der Meditation geschehen, aber auch außerhalb davon.
Indem man sich klar macht, dass es sich bei Gedanken und Gefühlen nur um vorübergehende Erscheinungen handelt, lernt man, unbefangen mit ihnen umzugehen. Man misst ihnen keine überwertige Bedeutung mehr bei, durch die man sich unter Druck setzt. Sobald man Gedanken und Gefühle unbefangen wahrnimmt, erkennt man Zusammenhänge, die dazwischen bestehen, und man erkennt, welcher Platz ihnen im Kontext der Biographie zukommt.
Das führt zu einem innerseelischen Klärungsprozess und einer Steigerung des Selbstbewusstseins. Zu erkennen, dass man selbst keins dieser objektivierbaren Ereignisse ist, befreit von der Sorge, gemeinsam damit der Vergänglichkeit aller Objekte unterworfen zu sein. Dem entspricht zuletzt die Einsicht in Anatta: Was tatsächlich ist, existiert nicht als objektivierbares Etwas, dessen Untergang zu befürchten wäre. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Objekte endlich sind, Erkenntnis aber nicht.
Im Alltag ist der unbefangene Umgang mit der Vergänglichkeit des Objektiven ein nützliches Werkzeug um unangenehme Erfahrungen zu überstehen. Taucht ein unangehmenes Gefühl auf, von dem man überwältigt zu werden droht, gewinnt man die Oberhand, wenn man das Gefühl als vorübergehende Erscheinung erkennt, das der Vergänglichkeit unterworfen ist. Was tatsächlich ist und auf Dauer Bedeutung hat, bleibt sowieso bestehen.