Zeit geht auf die indoeuropäische Wurzel dā[i] = teilen, zerschneiden, zerreißen zurück. Zeit führt dazu, dass Bestehendes auseinanderbricht und sich Bindungen lösen. Eigentlich heißt Zeit Auflösung. Sie löst das Ganze in den Fächer seiner Aspekte auf. Was sich auflöst, setzt aber auch Teile frei, die sich zu Neuem verbinden. Zeit spielt mit Strukturen. Sie testet aus, was am besten wozu passt. Je mehr etwas zueinanderpasst, desto stabiler wird die Verbindung. Was stattfindet, hat die Stelle gefunden, an der es zum Stehen kommt. Es fügt sich an die Stelle der Raumzeit ein, an der es unverrückbar wird.
Zeit ist ein Synonym des Wandels. Man sagt, dass Zeit fließt oder vergeht. Tatsächlich nimmt man Zeit nicht unmittelbar wahr. Man sieht nichts fließen oder vergehen, was man als Zeit bezeichnen könnte. Vielmehr deutet man die Veränderlichkeit von Objekten oder Ereignisse als ein Werk der Zeit; so als sei sie eine Kraft, die von außen auf Objekte einwirkt, diese zerstört, verwandelt oder neu erschafft.
Man denke sich einen Raum ohne Inhalt. Wann ist dort jetzt? Wann ist dort heute, gestern oder morgen? Wenn es zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keinen Unterschied gibt, gäbe es nichts, was man als Zeit bezeichnen könnte.
Was uns als Zeitfluss erscheint, ist die Veränderlichkeit unserer Person und der übrigen Objekte im Raum. Als Personen liegen wir samt den Objekten in einer ewigen Gegenwart. Dort verändert sich etwas.
Erkennbar verändert werden Objekte durch physikalische Kräfte, die von innen oder außen auf sie einwirken. Herauszufinden, ob das Gefüge physikalischer Kräfte so ineinander verwoben ist, dass sich Zeit als sekundäres Phänomen daraus ergibt oder ob Zeit über den Kräften steht und deren Wesen mitbestimmt, ist eine Aufgabe, an der sich so mancher Physiker den Kopf zerbricht.
Unumkehrbarkeit
Zeit trennt radikaler als Raum. Gewiss: Es ist aufwändig, von Gelsenkirchen nach Chabarowsk zu gelangen und schier unmöglich, Exoplaneten zu besuchen; aber eben nur schier unmöglich, nicht absolut unmöglich. Wenn man den Ingenieuren Zeit lässt, könnte die Reise zu Exoplaneten machbar werden.
Egal wie lange die Ingenieure aber tüfteln: Sie werden keine Möglichkeit finden, durch die Zeit zu reisen. Damit etwas ins Gestern zurückkehrt, müsste das Gestern des Universums wiederhergestellt werden. Alles was existiert, ist Ausdruck eines Ganzen, das sich zu jedem Zeitpunkt so und genauso aufgeteilt hat, wie es dann als Aufgeteiltes vorliegt. Jedes Teil muss dort sein, wo es ist, weil es das übrige Universum exakt ergänzt.
Während das objektive Wesen der Zeit hinter Quantenmechanik, Relativität und Stringtheorie verborgen liegt, erscheint das subjektive als Präsenz und komplexe Vollzugsdynamik des Bewusstseins. Die Gegenwart des physikalischen Universums samt seinen wechselnden Zuständen und die Präsenz des Beobachters, der sie zur Kenntnis nimmt, sind miteinander verschmolzen. Aus seiner Präsenz heraus erkennt sich der Beobachter als einen Prozess, dem er unterworfen ist und auf den er einwirken kann. Der individuelle Umgang mit dem Phänomen der Zeit bestimmt das Erleben in kaum zu überschätzender Weise.
Das Bewusstsein unterteilt die Zeit in drei Kategorien: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es erlebt Zeit als unaufhaltsam fließend, als ein Kontinuum, das von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft fließt. Es spricht von Zeiträumen, deren Inhalt aus Strukturen und Ereignissen besteht. Tatsächlich wahrnehmbar sind Inhalte aber nur im absoluten Jetzt; welches keineswegs fließt, sondern der stehende Raum ist, in dem sich alles ereignet. Vergangenheit und Zukunft sind dem Bewusstsein nicht präsent. Alles was es davon hat, sind Vorstellungen:
Sowohl die Reflektion des Vergangenen als auch der Entwurf von Zukunft gehört zum spezifisch menschlichen Dasein. Der Hinwendung zum faktisch Erlebbaren, also dem Da des Hier-und-Jetzt, kommt besondere Bedeutung zu. Da das faktisch Erlebbare oft zu fürchten ist und sein Wert meist unterschätzt wird, wird die Hinwendung nur mangelhaft vollzogen. Statt wahrgenommen wird sich etwas vorgestellt. Und das Vorgestellte versperrt den Blick auf das, was als wahr angenommen werden könnte. Vorstellungen können Modelle sein; oder Sichtschutz. Modelle erhellen. Sichtschutz verdunkelt.
Zeit spielt im menschlichen Erleben eine große Rolle. Viele seiner Erlebnisweisen sind Folge von Ausrichtungen und Verhaltensmustern, die der Einzelne der Zeit gegenüber einnimmt. Dementsprechend werden bestimmte Ausrichtungen von spezifischen psychiatrischen Problemen begleitet. Dabei sind zwei grundsätzliche Ausrichtungen erkennbar, die ihrerseits in typische Muster unterteilt werden können:
Zeitbezogene Erlebnisweisen mit hohem Problempotenzial
Ausrichtung auf die Vergangenheit | Ausrichtung auf die Zukunft |
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Der Blick in die Vergangenheit kann lehrreich sein. Indem man Zusammenhänge zwischen früheren Entscheidungen und heutigen Resultaten untersucht, lernt man dazu.
Nicht immer dient der Blick auf Vergangenes aber dem Erkenntnisgewinn. Oft ist er ein Ausweichmanöver vor den Unbilden der Wirklichkeit. Dann lehrt er nicht, sondern schafft Probleme. Besondere Problemquellen sind pathologische Reue, Hadern und Verklärung.
Reue ist nützlich. Bei der Umsetzung ethischer und moralischer Grundsätze spielt sie eine wichtige Rolle. Sich der Reue zu stellen, führt beim Verstoß gegen Grundsätze zur Heilung. Durchlebte Reue führt zur Entlastung von Schuldgefühlen. Ist Reue durchlebt, wird das Gemüt wieder heiter.
Reue kann aber auch pathologisch entarten. So mancher hört einfach nicht auf, sich Vorwürfe zu machen. Obwohl es schier unmöglich ist, niemals eine Entscheidung zu treffen, die man im Nachhinein lieber nicht getroffen hätte, will sich so mancher Sünder nicht verzeihen. Der Unerbittlichkeit des unablässigen Selbstvorwurfs können verschiedene Motive zu Grunde liegen:
Wenn man sich selbst ständig Vorwürfe macht, kommt man anderen zuvor. So schützt man sich vor deren Kritik und stiftet sie dazu an, tatsächliche Schuld zu relativieren. Endlose Anklagen gegen sich selbst dienen nicht echter Reue. Sie wehren die Angst vor einem Verlust der Zugehörigkeit ab.
Das Selbstbild ist so perfektionistisch, dass Unzulänglichkeit nicht akzeptiert werden kann. Dann kann Vorwurf ein Wetterleuchten der Eitelkeit sein; und Ausdruck eines narzisstischen Strebens nach Überlegenheit.
Statt sich den Folgen einer problematischen Entscheidung im Hier-und-Jetzt problemlösend zuzuwenden, wendet man sich der Ursache zu; obwohl man sie sowieso nicht beseitigen kann. Statt sich verantwortlich mit der Problemlösung zu befassen, zeigt man mit dem Finger auf eine imaginäre Instanz: die Person, die man zwar war, die man, so wie sie war, aber nicht mehr ist.
Hadern geht auf indoeuropäisch kat[u] = Kampf zurück. Während man bei der Reue Schuld annimmt, wird bei der Klage über früheres Verhalten anderer oder beim Hadern mit dem Schicksal Schuld äußeren Ursachen zugeordnet. Legion sind jene, die Missstände ihres aktuellen Daseins auf tatsächliche oder vermeintliche Verfehlungen zurückführen, die sich andere früher zuschulden kommen ließen. Das Motiv hinter solcherart Hadern mit der Vergangenheit ist klar: Indem man andere zu Schuldigen erklärt...
hat man ein allseits passendes Mittel zu Hand, Selbstwertzweifel aus dem Weg zu räumen: An mir liegt es nicht, dass ich nicht mehr erreicht habe. Was hätte aus mir werden können, wenn andere mich nicht daran gehindert hätten?
Auch die Verklärung der Vergangenheit ist oft Ausweichmanöver. Ist die gegenwärtige Lage schwierig - und wann ist sie das nicht? -, kann man sich tätiger Stellungnahme entziehen, indem man sich einem goldenen Zeitalter zuwendet, in dem alles besser war.
Hans-Ottos Leben war im Siebenbürgen der dreißiger Jahre verheißungsvoll. Nach Krieg, Vertreibung und Flucht fand er sich jedoch in der real existierenden Bundesrepublik wieder. Als die Dinge in der Diaspora ernüchternd waren, kreiste Hans-Ottos Denken bittersüß um das gelobte Land. Je mehr er daran dachte, desto mehr übersah er die Chancen in der Diaspora. Je mehr er deren Chancen übersah, desto süßer erschien ihm das Verlorene.
Die siebziger Jahre waren Udos Ding. Dreißig Jahre später sieht er so aus, als hätten die Ingenieure entgegen der physikalischen Unmöglichkeit doch noch eine Zeitmaschine gebaut. Udo lebt so, als habe er sich von Woodstock direkt in die Gegenwart gebeamt; oder umgekehrt. Während sich Udo 'ne Tüte dreht und noch mal Stairways to Heaven auflegt, kümmern sich Monika, Angelika, Sabine und das Jugendamt um seine drei Kinder.
Übrigens: Als gelobtes Land kann ein Stück Erde gelten, das zu besitzen sich jemand in den Kopf gesetzt hat. Viel öfter wird aber die ideale Partnerschaft als ein solches Land betrachtet, was dazu führt, dass reale Chancen nicht ergriffen und reale Partnerschaften nicht behütet werden.
Die pathologische Ausrichtung auf die Zukunft ist weiter verbreitet als die auf die Vergangenheit. Das ist verständlich. Die Vergangenheit ist leidlich bekannt, die Zukunft liegt im Dunkeln. Wie die Leinwand eines Kinos als Projektionsfläche unwirklicher Filmsequenzen dient, so dient das Dunkel der Zukunft als Leinwand für die Hologramme der menschlichen Phantasie.
Das macht die Vergangenheit nicht. Vor ihr ist man sicher. Es mag sein, dass man von Sünden der Vergangenheit eingeholt wird, die Strafe für solche Sünden wird jedoch in der Gegenwart vollstreckt oder dräut in der Zukunft, die daher als Schauplatz alles Befürchteten zu fürchten ist.
Während die Macht der Vergangenheit die Tendenz hat, nachzulassen, rückt die der Zukunft heran. Das führt dazu, dass der Zukunft mehr Aufmerksamkeit zusteht, als dem, was gewesen ist. Im Umgang mit den Verheißungen und Bedrohungen der Zukunft gibt es eine defensive und zwei offensive Strategien. Defensiv ist die Sorge, offensiv sind Ungeduld und Ehrgeiz. Die defensive Strategie versucht Nachteile zu verhindern, die offensiven trachten nach dem Vorteil.
Zwei Wege im Umgang mit Zukunft
Defensiv | Offensiv |
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Angst ist ursprünglicher als Gier; denn Letztere geht aus Ersterer hervor. Gier ist eine Abwehrmaßnahme gegen das Grundgefühl der Angst. Wer viel an sich reißt, glaubt sich durch seine Beute sicher. Da Angst das menschliche Gemüt bei jeder Gelegenheit befallen kann, kreist das Denken vieler um Gefahren, die sich zu verwirklichen drohen. Ohne Zweifel: Es macht Sinn, sich mit zukünftigen Gefahren zu befassen. Sorgt man nicht vor, kann das übel enden. Das Gift liegt aber in der Dosis. Genügend Vorsorge ist nützlich. Zu viel davon schadet.
Die überwertige Beschäftigung mit möglichen Gefahren der Zukunft ist ein wesentliches Element häufiger psychiatrischer Erkrankungen:
Auch der Hypochonder kann hier eingeordnet werden. Auch er ist überwertig mit Gefahren befasst, die in der Zukunft auf ihn warten. Zwar glaubt er, dass der gefährliche Prozess bereits im Gange ist - eine schwere Krankheit, die die Ärzte nicht entdecken -, vor allem glaubt er aber, dass das dicke Ende erst noch kommt.
Der abhängigen Persönlichkeit mag die Sorge um die Zukunft nicht ständig durch den Kopf gehen, aber auch ihr Muster ist letztendlich davon geprägt. Unbesorgt lebt sie nur solange, wie ihr der Rockzipfel ihres Beschützers nicht aus den Händen rutscht. Passiert das doch, verzögert sie jeden Schritt, der in eine ungewisse Zukunft führen könnte.
Ungeduld ist meist ein Werk der Gier. Der Ungeduldige will etwas haben; und zwar sofort. Er überlegt nicht lange, sondern drängt auf ein Ziel zu. Da er nur wenig überlegt, ist die Zielsetzung seiner Impulse von außen leicht beeinflussbar. Außerdem achtet er beim Vorwärtsdrängen wenig darauf, was ihn der blinde Zugriff auf das Begehrte kosten kann. So provoziert der Ungeduldige Probleme, die nicht nur andere, sondern erst recht ihn selbst belasten; was seine Ungeduld schürt, möglichst schnell viel Gutes zu bekommen.
Das typische Krankheitsbild der impulsgesteuerten Offensive im Umgang mit der Zukunft ist die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). In einem Zeitalter, das dem Einzelnen durch tausend Kanäle vor Augen führt, was eine geglückte Biographie alles haben und erreichen sollte und die zugleich die Botschaft sendet, dass jeder blöd ist, der es nicht tut, ist die Befreiung aus der eigenen Begehrlichkeit eine besondere Aufgabe. Um sich der Suggestion zu entziehen, bedarf es der Bereitschaft, eigene Wege zu gehen.
Zwei offensive Strategien
Ungeduld | Ehrgeiz |
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Ist man dem Joch der Begehrlichkeit soweit entronnen, dass man Erfolg nicht von jetzt auf gleich verlangt, kann man die Zukunft strategisch planen. Das zu tun ist anzuraten, aber nicht so weit, dass man die Gegenwart stets nur als Trittbrett betrachtet, von wo aus man in eine glorreiche Zukunft springt.
Während sich der Ungeduldige ständig unter Druck setzt, weil er es eilig hat, hat der Ehrgeizige die Chance, Schritt für Schritt zu gehen; wenn es ihm gelingt, das Ziel nicht grundsätzlich höher zu bewerten als den Weg dorthin.
Hoffnung hat aber auch eine tragische Seite. So mancher lässt sich zu lange von ihren Versprechungen in Sicherheit wiegen; bis er erkennt, dass die Hoffnung oft trügt. Bevor man Hoffnung erst zuletzt sterben lässt, sollte man rechtzeitig prüfen, ob man sie nicht besser aufgibt und stattdessen etwas tut.
Hoffnung kann Ansporn sein oder Beruhigungspille. Mal nützt sie. Mal schadet sie.
Die Zeit macht dem Menschen schwer zu schaffen. Durch ein dreifaches Un setzt sie seinem Willen Widerstand entgegen.
Die bisherige Untersuchung hat gezeigt: Im Umgang mit den drei Kategorien der Zeit - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - kann es durch unangemessene Ausrichtungen zu psychischen Problemen kommen. Die pathogene Dynamik solcher Vorgänge kann näher betrachtet werden.
Die Vergangenheit hat erheblichen Einfluss auf das seelische Befinden; zum einen, weil man in Erfahrungen festhängt, die man nicht hinter sich lässt, zum anderen, weil man sich an Sichtweisen klammert, die man nicht hinter sich lassen will.
Neurotische Erkrankungen wurden durch vergangene Ereignisse verursacht. So sagt man zurecht; wenn man das Substrat der neurotischen Erkrankung als Bündel irriger Vorstellungen auffasst, das früher entstand und bis dato besteht.
Genau besehen wird neurotisches Leid aber nicht durch die Vergangenheit verursacht, sondern durch Spuren, die sie in der Psyche hinterließ. Die eigentliche Ursache neurotischen Leids liegt in der Gegenwart. Wäre es anders, könnte man es nicht beheben. Nur das Jetzt ist wirklich und kann wahrgenommen werden. Nur das Jetzt ist zugänglich. Nur ins Jetzt kann steuernd eingegriffen werden. Vergangenes entzieht sich unserem Einfluss völlig. Zukünftige Entwicklungen können nur beeinflusst werden, wenn man sich der Gegenwart zuwendet und dort Weichen stellt. Bei den Ursachen neurotischen Leids, die man in der Gegenwart findet, handelt es sich um irreführende Vorstellungen über die Wirklichkeit, die früher entstanden sind.
Entstehungsmechanismen neurotischer Krankheiten
Erfahrungen bahnen zukünftige Reaktionsweisen. Wer die Erfahrung macht, dass man Suppe nicht mit der Gabel in den Mund bekommt, greift zum Löffel. Das ist sinnvoll. Wer in der Schule ungerecht behandelt wird, macht die Erfahrung, dass lernen unangenehm sein kann. Das kann zu schädlichen Vorstellungen führen.
Erfahrungen lösen oft unangenehme Gefühle aus. Unangenehme Gefühle heißen unangenehm, weil man sie nicht annehmen will. Statt es zu tun, versucht man auszuweichen. Die Erfahrung wird dadurch nicht zu Ende geführt. Man verbraucht Energie, um sie aufzuhalten.
Jederzeit erprobt die Psyche Strategien zur Problembewältigung. Das Ziel ist die Befriedigung ihrer Bedürfnisse und die Vermeidung von Gefahren. Erscheint eine Strategie erfolgreich, wird das Muster abgespeichert. Tritt eine Situation auf, die an Ähnliches aus der Vergangenheit erinnert, werden Muster angewandt, die früher passten. Man handelt aus Erfahrung.
Im Laufe der Zeit ändern sich sowohl die Bedürfnisse als auch die Gegenwart, auf die sie treffen. Neue Situationen sind niemals gleich, sondern allenfalls so ähnlich wie vergangene. Gespeicherte Verhaltensmuster sind oft überholt. Das führt zur Entstehung von Symptomen; oder zur Erprobung neuer Muster.
Je zufälliger eine Erfahrung ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie einschränkt.
Verstrickende Erfahrungen bergen die Gefahr, dass man in der Folge korrigierende Erfahrungen vermeidet.
Erfahrungen haben nicht alle den gleichen Wert. Meist sind sie nützlich. Oft führen sie aber in die Irre. Erfahrungen können drei Kategorien zugeordnet werden.
Klärende Erfahrungen vermitteln Erkenntnisse über die Regeln der Realität. Zu den Regeln der Realität gehören die Naturgesetze, aber auch die psychosozialen Regeln der Gemeinschaft.
Zu den naturgesetzlichen Regeln gehört, dass man Suppe besser mit Löffeln isst; oder aber, dass man sich verletzen kann, wenn man in fallende Messer greift.
Hinter zufälligen Erfahrungen steht keine erkennbare Regel. Trotzdem können sie Lebensläufe bestimmen.
Verstrickende Erfahrungen gehen aus zufälligen hervor. Verstrickende Erfahrungen vermitteln keine Erkenntnisse über tatsächliche Regeln der Realität. Vielmehr führen sie dazu, dass man Regeln zu erkennen glaubt, wo keine sind, und sich durch die Reaktion auf vermeintliche Regeln tiefer im Irrtum verstrickt.
Trifft sie einen Mann, der es gut mit ihr meint, vermeidet sie die Bindung. Zu groß ist die Furcht, dass er ihren vermeintlichen Unwert erkennt und sie folglich verstößt.
Wer als Schüler für einen Beitrag vom Lehrer gedemütigt wurde, schließt aus Erfahrung, dass es gefährlich ist, das Wort zu ergreifen. Wenn er es in Zukunft tun muss, fängt er vor Angst an zu stottern. Weil er sein Stottern als demütigend empfindet, wird sein Glaube an eine irrige Regel verstärkt. Er glaubt: Das Beste ist es, sich duckes zu halten.
Verstrickende Erfahrungen fesseln den Menschen an eine überholte Vergangenheit. Es gelingt ihm nicht, in die Gegenwart zu kommen. Statt die Vergangenheit als unveränderlich zu akzeptieren und sie damit hinter sich zu lassen, hängt er in scheinbar unveränderlichen Folgen fest, deren Unveränderlichkeit bloß eingebildet ist.
Vermeidungen entstehen als Reaktion auf unangenehme Erfahrungen. Das Unangenehme an vielen Erfahrungen sind die Erkenntnisse, die sie mit sich bringen; Erkenntnisse, die man gar nicht haben will.
Erfahrungen vermitteln Einblicke in die Struktur der Wirklichkeit. Der Mensch stellt sich aber nur selten vorurteilsfrei der Wirklichkeit. Stattdessen klammert er sich an seinem Selbst- und Weltbild fest, weil er sich darin sicher fühlt.
Unangenehm erscheinen Erfahrungen, wenn die Erkenntnisse, die sie vermitteln, am Weltbild rütteln oder erwünschte Aspekte des Selbstbilds infrage stellen. Um die Verunsicherung zu verhindern, setzt der Vermeider Abwehrmechanismen ein. Sein Motto lautet: Das Unangenehme ist unannehmbar. Was ich geworden bin, ist eine Burg, die ich nicht verlasse. Ich bin nicht, was weiter wird, sondern was bereits feststeht. Ziel der Abwehrmechanismen ist zweierlei...
zu verhindern, dass ihn die gefürchtete Erfahrung samt ihrer unerbetenen Erkenntnis erreicht.
weitere Erfahrungen zu vermeiden, die die gleiche Botschaft in sich tragen.
Erfahrung, Gefühle und Widerstand
Erfahrungen setzen sich aus zwei Teilen zusammen: dem Ereignis und der seelischen Reaktion darauf. Läuft die Reaktion ungehindert ab, werden Welt- und Selbstbild durch die Erfahrung erweitert. Bricht der Ablauf vorzeitig ab, wird die Korrektur verhindert. Während man am Ablauf des Ereignisses oft nichts ändern kann, ist die Reaktion darauf durch Abwehrmechanismen zu steuern. Je mehr man sich gegen eine Korrektur seiner Vorstellungen sträubt, desto mehr stört die Abwehr den spontanen Ablauf der Erfahrung.
Der erlebbare Faktor, durch den korrigierende Erkenntnisse vermittelt werden, sind Gefühle.
Viele Vermeidungsstrategien setzen hier an. Um die gefürchtete Erkenntnis zu vermeiden, hindern sie Gefühle daran, auf die Psyche einzuwirken. Dabei werden unerwünschte Gefühle ausgeblendet, rationalisiert, umgedeutet, dem äußeren Ereignis zugeschrieben oder verleugnet.
Nur selten ist man mit der Achtsamkeit in der Gegenwart; obwohl doch alle Wirklichkeit nur hier zu finden ist. Zu oft erscheint die Gegenwart bedeutungslos; oder man hält sie für so beschämend, beängstigend oder unerfreulich, dass man lieber in die virtuelle Welt beliebiger Vorstellungen flüchtet.
Statt wahrzunehmen, was gegenwärtig und damit im Grunde unausweichlich ist, weicht man folglich in Gedankenketten aus. In der Vorstellung entwirft man schöne Modelle: von sich selbst und dem Leben, das man gerne führen würde. Während Zeit faktisch nur als Gegenwart erlebbar ist, hantiert man im Geiste mit ihren übrigen Aspekten herum; nicht aber, um aus Vergangenem etwas zu lernen oder ernsthaft etwas für die Zukunft vorzubereiten, sondern um dem eigentlich Unausweichlichen auszuweichen.
Jedes Sosein geht im Dasein auf. Mein Sosein ist das Ich-bin. Das Dasein ist das Es-ist. Jedem Sosein liegt Dasein zugrunde, in dem es sein Sosein durchläuft.
Sosein ohne Dasein gibt es nicht. Dasein ohne Sosein ist der Ursprung aller Dinge.
Fast die Hälfte seiner Kraft verwendet der Mensch dafür, sich gegen Erfahrungen zu sträuben, die das Leben ihm gerade verpassen will. Genauso viel geht für die Sorge drauf, in der Zukunft so zu leben, wie es seinen Wünschen entspricht. Nur wenig bleibt übrig, um dorthin zu schauen, wo er ist und wahrzunehmen, was das Leben momentan tatsächlich ausmacht.
Hätte man keine Zukunftsplanung im Kopf, wäre man kein Mensch. Im Gegensatz zum Schaf entwirft der Mensch Zukunft und steuert darauf zu. Er versucht, für das eigentlich Unvorhersehbare vorzusorgen.
Das Schaf frisst Gras, solange es wächst. Wenn der Winter kommt, hungert es eben. Der Mensch macht es wie das Murmeltier. Er legt Vorräte für die Zukunft an. Wir wissen nicht, ob das Murmeltier an seine Zukunft denkt, oder ob es im Überfluss instinktiv sammelt. Die Wahrscheinlichkeit ist aber groß, dass es von Instinkten gesteuert ist. Könnte es bewusst an die Zukunft denken, fände es Wege, uns Botschaften zu senden.
Dass der Mensch seine Zukunft plant, macht ihn zum Menschen. Will er die Unvorhersehbarkeit der Zukunft aber völlig bannen, wird er zur Mündel seiner Pläne, Sorgen und Ängste. Genauso, wie man sich selbst aus dem Blick verliert, wenn man sich gegen die Lehren der Vergangenheit sträubt, verliert man sich, wenn man einmal gefasste Ziele verfolgt, ohne zu prüfen, was das Ansteuern der Ziele mit einem macht.
Hans wurde niemals ernst genommen. Indem er reich wurde, wollte er zeigen, was für ein Kerl in ihm steckt. Nach dem zweiten Herzinfarkt kam er in der Reha zur Besinnung.
Zukunftsentwürfe schaffen Probleme, wenn sie die Gegenwart im Interesse späterer Gewinne missachten. Genauso riskant wie die Verausgabung in unermüdlicher Offensive ist ständiger Kampf gegen mögliche Gefahr. Wer jede Handlungsmöglichkeit für bedenklich hält, füllt die Gegenwart mit steter Sorge. Zwar will der Besorgte zukünftige Nachteile vermeiden, übermäßige Vermeidung bringt meist aber Nachteile ein, die man nur vermeiden kann, wenn man etwas riskiert.
Sich aus der Verstrickung in Unerledigtes zu lösen, ist ein Bestandteil jeder Heilung. Unerledigtes kann in Erfahrungen bestehen, gegen deren Abschluss man sich sträubt. Hier liegt der Schwerpunkt darin, zuzulassen.
Oft ist Unerledigtes an Gegenstände oder Personen gebunden; dann, wenn die Gegenstände oder Personen zu vergangenen Zeiten gehören, man sich von ihnen aber nicht trennen will. Hier liegt der Ansatz darin, loszulassen. Zulassen und Loslassen gehen fließend ineinander über.
Ziel jeder Psychotherapie ist es, unangemessene Strategien zur Problemlösung durch geeignete zu ersetzen. Tatsächlich ist es nicht die Vergangenheit, unter der man leidet. Es ist die Gegenwart, in der man überholte Muster praktiziert, statt ganz präsent zu sein. Die Vergangenheit hat nur soweit Belang, wie man Verhaltensmuster, die früher angemessen waren, zum eigenen Schaden beibehält. Überholte Verhaltensmuster entsprechen Welt- und Selbstbildern, denen wichtige Aspekte fehlen; jene, die man nicht wahrhaben will.
Trennen oder Vermengen
Oft schreiben wir das Gefühl, mit dem wir auf ein Ereignis reagieren, einseitig dem Ereignis zu; so als gehöre das Gefühl zum Ereignis und nicht zu uns selbst.
Diese Sichtweise fördert Verstrickung und Selbstverlust. Vielmehr als Wirkung anderer sind Gefühle Reaktionen unserer selbst. Nur wenn wir sie als das betrachten, nehmen wir sie an. Und erst wenn wir sie annehmen, bleibt die Kraft des Gefühls nicht abgespalten und macht etwas mit uns, sondern geht auf uns über und wird zu uns.
Ärger geht auf indoeuropäisch ergh = beben zurück. Sich ärgern heißt eigentlich: Ich habe mich zum Beben gebracht.
Der zentrale Ansatz zur Heilung liegt darin, den Widerstand gegen unangenehme Wahrheiten aufzugeben. Dazu gilt es, sich Gefühle, die entsprechende Erkenntnisse mit sich bringen, uneingeschränkt einzugestehen.
Erlebt man das Schamgefühl nach einer Demütigung ungehindert, statt es durch Wut auf den Täter abzuwehren, erkennt man, wie abhängig man von der Bestätigung durch andere ist. Sobald man sich das eingesteht, ist man auf dem Weg der Besserung.
Erfahrungen, die bis zu ihrem Ende durchlebt werden, aktualisieren Verhaltensmuster und werden von der Psyche zu den Akten gelegt. Psychische Energie, die bis dahin zwecks Abwehr gefürchteter Erkenntnisse abgespalten war, wendet sich gebündelt der Gegenwart zu.
Vielen fällt es schwer, Gegenstände wegzuwerfen; obwohl deren Nutzwert ernsthaft infrage steht. Schnell wird das Argument herbeigeholt, dass die verschlissene Hose, Omas Geburtstagsgeschenk von 1972 oder das ausrangierte Kofferradio mit Langwellenempfang später noch einmal zu gebrauchen sind. Zuweilen trifft das zu.
Jeder Gegenstand ist ein Werkzeug zum Schutz vor zukünftigen Gefahren. Gewappnet zu sein, macht Sinn. Jeder Gegenstand ist aber auch Ballast, den man mit sich herumschleppt und den die Psyche bewusst oder unbewusst zu verwalten hat. Drei Dinge kosten den Besitzer Energie:
Was kann man tun?
Was bei Gegenständen Aufräumen und Weggeben ist, ist bei Personen die Auflösung oder Lockerung von Beziehungen. Wie das Weggeben von Gegenständen, hat die Ablösung aus überkommenen Beziehungen oder Beziehungsmustern mit Trennungsangst zu tun. Was heilsame Trennungen verhindert, ist auch hier die Furcht vor Trauer, Reue und den Gefahren des Lebens.
Eigentlich empfindet Sabine für Sascha nur noch wenig. Dabei war es anfangs doch so schön. Wenn sie aber ginge, müsste sie sich von der Hoffnung lösen, dass es wieder werden könnte, wie es einmal war.
Längst hätte Tim das Elternhaus verlassen können. Es gäbe aber keinen Weg zurück. Beim Blick in die Ungewissheit der Zukunft steigt ein banges Gefühl in ihm auf.
Seit Erwins Tod kümmert sich Mathilde wie eine Glucke um Marcel. Dabei überragt das Kind sie um Kopfeshöhe und bewirbt sich um einen Sitz im Stadtrat.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Ob es um Personen oder Gegenstände geht, in beiden Fällen heißt das Thema: Loslassen. Dabei kann man vollständig oder teilweise loslassen.
Bei Gegenständen hat man meist darüber zu entscheiden, ob man sie vollständig loslässt oder nicht, ob man sie nämlich wegwirft, weggibt oder für sich behält. Allerdings können auch Gegenstände teilweise losgelassen werden; wenn man zum Beispiel den schleichenden Verfall eines alten Autos nur noch mit halber Kraft verhindert. Teilweise loszulassen hat bei Beziehungen von vornherein die größere Bedeutung; zumindest solange man die Beziehung beigehalten will.
Das dynamische Wesen der Subjekt-Subjekt-Beziehung bringt es mit sich, dass jedes Festhalten von vornherein ein Loslassen ist.
Der Unterschied zwischen dem Loslassen eines Gegenstandes und dem eines Menschen liegt in der Beziehungsstruktur:
Besonders wenn einer B mit A verwechselt, gilt es für den anderen nicht nur loszulassen. Er muss sich aus dem Zugriff losreißen.
Zu entscheiden, ob, wann und wie man eine Person loslässt, ist weitreichender als die gleiche Entscheidung bei Gegenständen. Zwischenmenschliche Beziehungen haben immer widersprüchliche Aspekte. Während Besitzverhältnisse statisch und normierbar sind, sind Beziehungen dynamisch, plural und individuell. Im Regelfall besitzt man einen Gegenstand allein. In Beziehung zu einem anderen steht man aber nie ausschließlich. Selbst wenn der andere zu keinem Dritten in Beziehung steht, hat er eine Beziehung zu sich selbst.
Leitlinien für das Loslassen innerhalb zwischenmenschlicher Bindungen kann man daher nur mit Vorsicht formulieren:
Jede Trennung ist eine individuelle Entscheidung, für die eine Mischung aus Mut, Abwägung, Aussprache und Verantwortungsbereitschaft erforderlich ist.
Bei Trennungen sollte man soweit möglich die Verantwortung für den eigenen Schritt nicht dem Gegenüber zuschreiben. Nicht: Ich trenne mich, weil Du zu viele Fehler hast. Sondern: Ich trenne mich, weil ich mit unserer Beziehung nicht klarkomme.
Sind von Trennungen Dritte betroffen, zum Beispiel Kinder, sind deren Interessen zu beachten.
Vollständige Trennungen verhindert man am besten, indem man teilweise Ablösungen zulässt.
Der Mut, sich vollständig zu trennen, wird oft durch die Abwertung des Anderen erkauft. Für alle Beteiligten ist es besser, darauf zu verzichten.
Im Regelfall ist es besser, vollständige Beziehungsabbrüche zu vermeiden und die Beziehungsqualität stattdessen an aktuelle Bedürfnisse und Bedingungen anzupassen.
Erst wenn kein Kompromiss zu finden ist und einem der Beteiligten aus dem Fortbestehen der Beziehung in jedweder Form Schaden droht, ist ein vollständiger Beziehungsabbruch zu bevorzugen.