Entfremdung erlebt, wer Vertrautheit nicht zulassen kann. Vertrautheit ist eine Folge von Vertrauen. Man kann der Welt misstrauen oder sich selbst.
Das Begriffspaar Depersonalisation und Derealisation beschreibt Erlebnisweisen mit veränderter Wahrnehmung; entweder der eigenen Person oder der umgebenden Umwelt. Die lateinische Vorsilbe de- (= ent-) zeigt an, dass etwas verloren gegangen ist.
Beim Verlorenen handelt es sich nicht um ein geformtes Element des Wahrnehmungsfeldes, sondern um eine formlose Qualität, die in der Regel überhaupt erst wahrgenommen wird, wenn sie verlorengeht: der Wirklichkeitscharakter. Das Depersonalisationssyndrom und das Derealisationssyndrom sind eng miteinander verwandt. Sie gehen fließend ineinander über.
In der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) werden die Syndrome unter F48 abgebucht und somit dem Sammelbecken der anderen neurotischen Störungen zugeordnet. Dazu gehört eine uneinheitliche Gruppe seelischer Erlebnisweisen, die andernorts keine Heimat fand.
Andere neurotische Störungen gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO
Name | ICD |
Neurasthenie
Der Begriff Neurasthenie geht auf Griechisch neuron (νευρον) = Nerv und asthenes (ασθενης) = schwach zurück. Er meint Nervenschwäche. Unter Neurasthenie versteht man ein unspezifisches Syndrom mit rascher subjektiver Erschöpfbarkeit psychischer und körperlicher Funktionen. |
F48.0 |
Depersonalisation und Derealisation | F48.1 |
Sonstige neurotische Störungen
|
F48.8 |
Neurotische Störung, nicht näher bezeichnet | F48.9 |
Als deutsche Sammelbezeichnung beider Syndrome kann der Begriff Entfremdungserlebnis verwendet werden.
Beim Depersonalisationssyndrom erlebt der Kranke sich selbst verändert. Sein Körper und/oder seine innerseelischen Befindlichkeiten - Gefühle, Impulse, Denkabläufe - erscheinen ihm unwirklich, entrückt, losgelöst, entseelt, automatisiert oder mit einer schwer benennbaren Qualität behaftet, die vom eigentlich Erwarteten abweicht; zum Beispiel: wie in Watte gepackt. Auch Gedächtnisinhalte können betroffen sein. Der Kranke erinnert sich an biographische Ereignisse, als ob er nicht dabei gewesen wäre.
Im Gegensatz zu wahnhaften Veränderungen der Selbstwahrnehmungen deuten die Kranken die veränderte Selbstwahrnehmung als irreal. Sie haben nicht den Eindruck, jetzt endlich wahrzunehmen, wie sie wirklich sind. Sie gehen vielmehr davon aus, dass ihre Wahrnehmung gestört ist und sie nicht mehr in der Lage sind, die Wirklichkeit so zu erfassen, wie es sein sollte.
Beim Derealisationssyndrom bezieht sich das gleiche Phänomen auf die Außenwelt. Sie erscheint unwirklich, fassadär, entrückt. Auch hier betrifft die Veränderung die Wirklichkeit als Ganzes; während die Eigenschaften aller Einzelelemente - wie deren Größe, Form und Farbe - korrekt wahrgenommen werden.
Isolierte Entfremdungserlebnisse als psychiatrische Syndrome sind selten. Meist treten sie vor dem 20. Lebensjahr auf, teils plötzlich, teils schleichend, teils episodisch. Zu den Auslösern gehören emotionale Belastungen, Panikattacken oder Drogenkonsum. Oft sind konkrete Auslöser nicht zu benennen.
Darüber hinaus kommen Entfremdungserlebnisse als Teilaspekte anderer Erkrankungen vor.
Veränderte Selbst- und Weltwahrnehmung
Depersonalisation Derealisation |
Mit meiner Wahrnehmung stimmt etwas nicht. |
Trance Besessenheit |
Jetzt bin ich nicht ich selbst. |
Rausch | Meine Wahrnehmung ist verändert, aber ich weiß, woher es kommt. |
Wahn | Endlich erkenne ich, wie die Dinge wirklich sind. |
Aha-Erlebnis | Plötzliches Erkennen eines verborgenen Motivs, das bislang die Qualität des Verhaltens bestimmt hat. |
Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Während das psychiatrische Syndrom mit echtem Krankheitswert selten ist, hat fast jeder schon Erfahrungen mit Erlebnisweisen gemacht, die Depersonalisation bzw. Derealisation in manchem ähneln: nachdem er Alkohol getrunken hat oder Drogen einnahm.
Die veränderte Wahrnehmung im Alkohol- oder Drogenrausch - zum Beispiel unter Cannabis oder Opiaten - betrifft ebenfalls den formlosen Aspekt der Wirklichkeitserfahrung als Ganzes. Während die Wirklichkeit bei der Derealisation aber unwirklich, befremdlich oder entrückt erscheint, wird sie im Rausch meist vereinfacht, leibhaftig, zugehörig und intensiv erlebt.
So kommt es, dass die veränderte Wirklichkeitserfahrung des Rauschs bewusst herbeigeführt und die Depersonalisation im Gegensatz dazu als befremdlich gefürchtet wird.
Mit der Einordnung der Entfremdungserlebnisse tut sich die Psychiatrie schwer. Während die ICD-10 sie nicht den dissoziativen Störungen zuordnet, macht die amerikanische Klassifikation DSM-III genau das.
Stattdessen führt die ICD-10 unter F44.3 Trance- und Besessenheitszustände an, bei denen es zu einem Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung komme. Zugleich betont sie, dass es sich nur dann um einen Besessenheitszustand handelt, wenn er ungewollt ist und außerhalb von religiösen oder kulturell akzeptierten Situationen vorkommt.
Der unsystematische Gebrauch unscharf definierter Begriffe zur Einordnung von unterschiedlichen Wirklichkeitserfahrungen spiegelt ein grundsätzliches Problem wider: In der Wirklichkeitserfahrung begegnet das Bewusstsein formlosen Grundlagen der Realität, zu deren unverrückbarem Wesen es gehört, begrifflich nicht fassbar zu sein.
Das Déjà-vu bzw. Déjà-vécu (französisch: schon einmal gesehen bzw. erlebt). Dabei hat der Betroffene das Gefühl, ein aktuelles Erlebnis schon einmal erlebt zu haben, obwohl das nicht zutreffen kann.
Die "Erinnerung" ist suggestibel. Im Rahmen eines psychologischen Tests wurden Versuchspersonen in Fotos einer Ballonfahrt hineinretuschiert, an der sie angeblich in ihrer Kindheit teilgenommen hatten. Erstaunlich viele beschrieben Details der Fahrt... obwohl diese nie stattfand.
Negative Erinnerungstäuschung: Der Betroffene kann sich nicht an ein Erlebnis erinnern, obwohl er daran teilnahm und es bedeutsam für ihn gewesen sein musste. Es handelt sich also nicht um ein bloßes Vergessen belangloser Ereignisse, sondern um die Folge einer Verdrängung.
Psychodynamisch können Entfremdungserlebnisse als Folge der Abspaltung (Dissoziation) übermäßig belastender Emotionen gedeutet werden. So scheint die Annahme plausibel, dass gefürchtete Gefühle und Impulse aus dem Bewusstsein abgespalten werden, um ein bestimmtes Selbst- oder Weltbild aufrechtzuerhalten.
Wahrscheinlich werden Gefühle im Vorfeld der Entfremdung aber nicht nur abgespalten, sondern auch durch andere Abwehrmechanismen (Verdrängung, Verleugnung, Affektisolierung) entkräftet.
Jennifer wurde von ihrem betrunkenen Vater sexuell belästigt. Ihre kindliche Psyche sieht keine Möglichkeit, den unpassenden Aspekt der Vater-Tochter-Beziehung in ihr Selbst- und Vaterbild zu integrieren. Die aufkommenden Emotionen - Angst, Ekel, Wut, Scham - werden zwecks Beibehaltung des bisherigen Konzepts entwirklicht: Ich brauche mich nicht zu fürchten. Ich bin die behütete Tochter meines Vaters.
Jens hat beim Kiffen einen Horrortrip erlebt. Im Rausch kam es ihm vor, als habe sich sein Darm in eine Schlange verwandelt, die ihn von innen her auffraß, während seine Glieder zu Brei zerfielen. Nachdem das Entsetzen abgeklungen war, erlebte er die Wirklichkeit entrückt und seine Sinne wie betäubt.
Um sich vor gefürchteten Erlebnisqualitäten in Sicherheit zu bringen, hat das Bewusstsein verschiedene Möglichkeiten:
Durch die zuletzt genannte Strategie kommt es zum Derealisations- bzw. Depersonalisationssyndrom.
Das Fürchterliche ist umso fürchterlicher, je näher es uns kommt. Selbst schlangenförmige Unterleibsparasiten mit Gliedmaßen-Verbreiungseffekt erschrecken uns wenig, wenn ihnen die Möglichkeit fehlt, ihren Heimatplaneten im Sternbild Orion zu verlassen. Die Abwehrstrategie der Entfremdungssyndrome beruht dementsprechend darauf, zum Gefürchteten Distanz zu schaffen. Läge der Heimatplanet der grässlichen Aliens nicht im Orion, sondern im Mittelmeer, hätte man zwei Möglichkeiten: entweder den Alienplaneten wegzubeamen oder sich selbst.
Glücklicherweise ist die Bedrohung durch Aliens zu vernachlässigen. Tatsächlicher Schrecken entstammt anderen Quellen:
Entsprechend der beiden Quellen des tatsächlich Erschreckenden, kann das Bewusstsein zwei Arten von Sicherheitsabstand schaffen.
Da Gefühle reaktiv mit Ereignissen verbunden sind, und damit nicht immer klar zu entscheiden ist, ob der Schrecken von innen oder von außen kommt, gehen Derealisation und Depersonalisation oft fließend ineinander über.
Neben dem Gefühl, selbstbestimmt zu sein, ist das der Zugehörigkeit eines der beiden Grundbedingungen des seelischen Wohlbefindens. Die Abwehrstrategie der Entfremdung hat daher Nebenwirkungen. Sie hilft, gefürchtete Gefühle auf Distanz zu halten.
Das Distanzgefühl, das die Entfremdung bewirkt, bedeutet jedoch ein neues Unbehagen; und zwar umso mehr, je größer das Zugehörigkeitsbedürfnis des Betroffenen ist.
Der Begriff trauen geht auf das indoeuropäische deru = Baum zurück. Zur gleichen Wortgruppe gehören das deutsche Treue sowie die englischen Wörter tree = Baum und truth = Wahrheit. Treue heißt: fest wie ein Baum zu etwas stehen. Der englische Begriff für Wahrheit benennt deren Unverrückbarkeit. Wie ein Baum bleibt Wahrheit dort verwurzelt, wo sie steht.
Die deutsche Sprache hat die indoeuropäische Wurzel deru nicht zur Bezeichnung des Baums übernommen. In der Endsilbe von Wacholder, Flieder und Holunder taucht sie aber auch im Deutschen auf. Der Wacholder ist ein "Wacholbaum".
Trauen heißt eigentlich fest werden. Vertrauen festigt Bindung. Mit jemandem vertraulich zu sein heißt: nahen Umgang zu pflegen; weil man darauf vertraut, dass der andere nicht untreu wird. Treu ist, wer zur Wahrheit einer Beziehung steht. Die Wahrheit einer Beziehung ist das, als was sie deklariert ist.
Die Beziehung zwischen Vater und Kind ist nicht als sexuell deklariert. Der Vater wird dem Kind untreu, wenn er es sexuell missbraucht. Das Kind kann dem Vater nicht mehr trauen.
Das Fehlen der Vertrautheit im Rahmen der Entfremdungserlebnisse zeigt einen Mangel an Vertrauen an. Dabei misstraut der Betroffene entweder der Welt bzw. individuell bedeutsamen Elementen des Weltausschnitts, den er erfährt, oder der Art, wie er selbst die Wirklichkeit wahrnimmt. Er misstraut aber nicht offen. Dass er misstraut, ist ihm nicht bewusst; vielleicht, weil er glaubt, sich erklärtes Misstrauen nicht leisten zu können. Denn: Misstrauen ist aktive Distanz in Beziehung. Wer misstraut, hält aktiv Abstand ein.
Weil das Zugehörigkeitsbedürfnis grundlegend ist, ist die Abwehrstrategie der dissoziativen Entfremdung schwerer als andere Abwehrstrategien zu ertragen. Sie führt zu einem eigenständigen Krankheitserleben mit großem Leidensdruck.
Die normale Wirklichkeitserfahrung ist von einem gewissen Grad an Entfremdung geprägt. Emotionen zu entkräften, und damit deren Bedeutung für anstehende Entscheidungen abzuschwächen sowie Wirkliches zu ignorieren, sind alltägliche Strategien der Psyche im Kampf um den Erhalt ihres jeweiligen Weltbilds. Je mehr Gefühle im Laufe der Zeit entkräftet werden, desto mehr entfernt sich das wahrgenommene Bild von der Wirklichkeit.
Beim Gesunden entsteht die Entfremdung so schleichend, dass sie als Normalität empfunden wird und das Bewusstsein sie spontan nicht als Störung ausmacht. Daher kann man nur soweit vom Gesunden sprechen, wie man die geistige Verfassung der Normalität bereits als gesund definiert. Erst bei gezieltem Hinsehen erkennt der normale Mensch die eigene Entfremdung als...
Das manifeste Entfremdungserlebnis kann als Folge dissoziativer Prozesse gedeutet werden, die sich nicht wie beim Normalfall unterschwellig schleichend entwickeln, sondern radikal und plötzlich, sodass der Verlust des Eingebettetseins unübersehbar wird.
Persönlichkeitsentwicklungen folgen vielfältigen Wegen. Die Integration gefürchteter Erlebnisse kann auf unterschiedliche Weise abgewehrt werden. Je nachdem, welche Abwehrmethode zum Zuge kommt, treten Entfremdungserlebnisse auf; oder sie tun es nicht.
Denkbare Verläufe
Ausgangslage | Auswirkung |
Die Erfahrung wird von einem störenden Gefühl begleitet. Die Person erinnert sich kognitiv an die Erfahrung, ignoriert aber das zugehörige Gefühl. | Affektisolierung: Die übrige Wirklichkeitserfahrung bleibt unberührt. |
Die konkrete Erfahrung als Ganzes erscheint inakzeptabel. Die Person schneidet sie selektiv aus ihrem Erinnerungskontinuum aus. | Verdrängung: Die übrige Wirklichkeitserfahrung bleibt unberührt. |
Die Erfahrung erscheint so unannehmbar, dass nur die sofortige Abspaltung des Wirklichkeitscharakters Beruhigung verschafft. | Das Entfremdungserleben folgt dem Ereignis unmittelbar. |
Zunächst gelingen Verdrängung oder Affektisolierung. Im Laufe der Entwicklung kommt es zu einer erneuten Konfrontation mit den abgewehrten Inhalten. Da die bisherigen Abwehrstrategien versagen, wehrt die Person das Gefürchtete zunächst durch Entfremdung ab. Dann gibt es zwei Möglichkeiten:
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Es kommt zu einem vorübergehenden Entfremdungserlebnis. |
Die abgespaltenen Inhalte drängen ins Bewusstsein. Der Betroffene sträubt sich gegen eine Integration. Er findet auf Dauer keine Möglichkeit, die abgespaltenen Inhalte durch Verdrängung oder Affektisolierung zu umgehen. | Es kommt zu einen chronischen Entfremdungserleben. Auf Dauer ist eine hohe dissoziative Aktivität nötig, um das Selbstbild vor den gefürchteten Inhalten zu schützen. |
Eine spezifische medikamentöse Behandlung des Entfremdungserlebens ist nicht hinreichend belegt. Immerhin berichten Aliyev et al. im Journal of clinical psychopharmacology von positiven Ergebnissen durch Lamotrigin. Treten die Symptome im Rahmen von Depressionen, Psychosen oder anderen seelischen Erkrankungen auf, können Antidepressiva oder Antipsychotika hilfreich oder gar problemlösend sein.
Auch physiotherapeutische Methoden können Erleichterung schaffen: Massagen, Entspannungsbäder, Fangopackungen oder ähnliches... Physiotherapeutische Anwendungen basieren auf unmittelbaren Berührungen zwischen Patient und äußerer Wirklichkeit. Je angenehmer die Berührungen empfunden werden, desto größer kann ihr Beitrag dazu sein, die Lücke zwischen dem Patienten und seinem Erleben der Realität zu verkleinern.
Der Schwerpunkt bei der Behandlung der Depersonalisation bzw. der Derealisation liegt in der psychotherapeutischen Aufarbeitung. Dabei können alle Methoden angewendet werden, die zu einer Einbindung abgewehrter Emotionen ins Selbstbild beitragen. Da klinisch bedeutsame Entfremdungssyndrome im Vergleich zu anderen seelischen Störungen selten sind, sind Studien, die eine verlässliche Wirksamkeit spezifischer psychotherapeutischer Ansätze nachweisen, kaum zu finden. Das heißt nicht, dass es keinen Weg aus der Unwirklichkeit zurück ins Vertraute gäbe. Allerdings muss in der Therapie das ursprünglich Gefürchtete zunächst identifiziert und dann integriert werden. Das kann ein langer Weg sein.
Folgt man der amerikanischen Auffassung und fasst Entfremdungserlebnisse als dissoziative Störungen auf, ergeben sich daraus die spezifischen Möglichkeiten der Selbsthilfe, die sich auch bei anderen dissoziativen Störungen als hilfreich erweisen.