Ansatzpunkte psychiatrischer Behandlung


  1. Ebenen des Daseins
  2. Therapeutische Methoden

1. Ebenen des Daseins

Die psychiatrische Therapie kann auf allen Ebenen des Individuums und seiner Einbet­tung ins Umfeld ansetzen. Je nachdem, welche Ebene sie fokussiert, wendet sie ver­schiedene Heilmittel an. Folgende Tabelle gibt einen Überblick:


Therapeutische Ansatzpunkte
Grund­ebene Unter­teilungen Therapie­ansatz
Soziales Umfeld Beruf, soziale Absicherung Sozial­psychiatrie
Familie, Partner­schaft Paartherapie,
Systemische Familien­therapie
Indi­viduum Körper Psycho­pharmaka,
EKT, MKT
Verhalten Klassische Verhaltens­therapie,
Psycho­edukation
Bewusstsein, Selbstbild, relatives Selbst, Selbst­wertgefühl Aufdeckende Verfahren:
Kognitive Komponente der Verhaltens­therapie,
Tiefen­psychologie,
Psycho­analyse,
Aufdeckende Verfahren der humanis­tischen Psychologie (Gestalt­therapie, Trans­aktionale Analyse, Psychodrama),
Meditation
Trans­personale Ebene Absolutes Selbst Spiri­tualität, Meditation

2. Therapeutische Methoden

Die verschiedenen Ebenen des Daseins und die ihnen zugeordneten Therapiemethoden sind theoretisch gut zu unterscheiden. Faktisch sind die Ebenen ineinander verzahnt. In der Praxis wird in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Kombination verschiedener Ansätze angewandt. Außerdem ist zu bedenken, dass viele Therapiemethoden ihrer­seits bereits eine Mischung anderer Ansätze beinhalten. Das gilt zum Beispiel für die systemischen Therapien und die kognitive Verhaltenstherapie (KVT), die sowohl am Verhalten als auch am Bewusstsein der Beteiligten ansetzen.

2.1. Sozialpsychiatrie

Viele psychiatrische Symptome werden wesentlich durch äußere Lebensbedingungen mitbedingt. Das gilt vor allem für Ängste, Depressionen, Suchterkrankungen, Schlafstö­rungen, Burnout- oder Boreout-Syndrome. Es gilt aber auch für Psychosen, deren aktueller Symp­tomdruck durch ungünstige Umfeldfaktoren verstärkt werden kann.

Andere Erkrankungen werden zwar nicht durch Umfeldfaktoren verursacht, sie führen jedoch ihrerseits zu einem sozialpsychiatrischen Handlungsbedarf. Zu nennen sind: Demenzerkrankungen, Autismus und andere schwerwiegende Entwicklungsstörungen sowie angeborene Minderbegabungen. Selbst bei Persönlichkeitsstörungen können soz­ialtherapeutische Therapiekomponenten angezeigt sein.

Pathogene Umfeldfaktoren

Alles, was die Kompensationsmechanismen einer Person überfordert, kann zu einem pathogenen, also einem krankmachenden, Umfeldfaktor werden:

Die wesentliche Methode der Sozialpsychiatrie ist die konkrete Unterstützung bei der alltagspraktischen Be­wältigung der genannten Probleme. Die höchste Kom­petenz liegt dabei in den Händen von Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Die notwendige Hilfe kann ambulant gewährt werden oder quasi stationär in einem sozial­therapeutischen oder schützenden Wohnheim. Zu den ambulanten Hilfen zählen:

Schwerpunkte

Problematisches Verhalten wichtiger Bezugspersonen kann sowohl systemisch, einzelpsychotherapeutisch als auch sozialpsychiatrisch Thema werden. Ist eine Patientin mit dem aggressiven Verhalten eines Partners konfrontiert...

  • wäre die Vermittlung eines Platzes im Frauenhaus oder Hilfestellung beim Erwirken einer einstweiligen Verfügung bei Gericht ein sozialpsychiatrischer Ansatz.
  • ginge man systemisch vor, sobald man versucht, das aggressive Verhalten des Partners durch Paargespräche zu beheben.

  • könnten in einer Einzelpsychotherapie (bzw. KVT) unbewusste Hemmungen aufgedeckt und funktionale Verhaltensweisen gesunder Abgrenzung erarbeitet werden.
2.2. Systemische Therapie

Nicht nur das soziale Umfeld kann Quelle pathogener Kräfte sein, sondern auch das persönliche. Zum per­sönlichen Umfeld gehören: Freundeskreis, Partner und Familie. Hier setzen systemische Therapie­formen an.

Anders als bei nicht-systemischen Therapien werden Bezugs­personen bei der systemischen Therapie unmittelbar in den therapeutischen Pro­zess einbezogen. Es werden Paar- oder Familiengespräche durchgeführt. Zielsetzungen systemischer Ansätze sind zunächst:

  1. die Verbesserung der Kommunikation zwischen dem Patienten und seinen Bezugspersonen
  2. die Entwicklung funktionaler Verhaltensweisen aller Mitglieder des Beziehungssystems

Beiläufig kommt es dabei auch zu aufdeckenden Effekten, also zu Erkenntnissen der Beteiligten bezüglich ihrer persönlichen innerseelischen Dynamik. Solche Erkenntnisse verändern das Selbstbild der Beteiligten und das veränderte Selbstbild wirkt seinerseits auf die Kommunikationsstruktur des gesamten Systems ein.

2.3. Somatische (biologische) Therapieansätze

Therapieformen, die unmittelbar am Körper ansetzen, gehören zur biologischen Psych­iatrie. Die wichtigsten Methoden sind...

Vor allem bei der Behandlung akuter Psychosen und schwerer Depressionen sind biolo­gische Ansätze kaum wegzudenken. Breite Anwendung finden Psychopharmaka auch bei der Behandlung von Angst- und Zwangserkrankungen, bei Bipolaren Störungen, Demenzerkrankungen und beim Suchtmittelentzug.

2.4. Psychoedukation

Die Psychoedukation informiert den Patienten über das Wesen seiner Erkrankung. Dabei steht das Ziel im Vordergrund, den Patienten zu funktionalen Verhaltensweisen im Umgang mit der Erkrankung zu befähigen. Damit ist die Psychoedukation eigentlich den verhaltenstherapeutischen Maßnahmen zuzurechnen.

2.5. Klassische Verhaltenstherapie

Als Klassische Verhaltenstherapie bezeichnet man rein übende Verfahren, die ausschließlich auf das Verhalten fokussieren, ohne darunterliegende kognitive Prozesse zu betrachten. Verhalten ist dabei all das, was das Individuum tut, um das Umfeld in seinem Sinne zu beeinflussen.

Verhalten ist Form. Als sich verhaltende Instanz formt sich die Person entsprechend der Ziele, die sie durch das Verhalten verfolgt. Sie formt sich so, dass sie wie ein Schlüssel zu der Wirklichkeit passt, die sie durchqueren will.

Verhalten wird immer durch den Körper verwirklicht. Für die Existenz paranormaler Einflussmöglichkeiten, zum Beispiel Telekinese oder Telepathie, gibt es keine wissenschaftlichen Nachweise. Zum Verhalten gehören:

Da Verhalten dazu dient, das Umfeld im Sinne des Individuums zu beeinflussen, kann es erfolgreich oder erfolglos sein. Hier setzt die Verhaltenstherapie an. Statt von erfolg­reichem oder erfolglosem Verhalten spricht sie von funktionalem bzw. dysfunktionalem Verhalten. Dabei geht sie davon aus, dass erfolgloses Verhalten die bestimmende Ursache seelischer Erkrankungen ist und erfolgreiches zum Verschwinden psychiatri­scher Symptome führt. Oft hat sie damit Recht.

Zu Beginn ihrer Entwicklung vertraute die Verhaltenstherapie darauf, dass es genügt, funktionale Verhaltensweisen einzuüben, um psychische Symptome zu überwinden. Bei einfachen Problemkonstellationen - zum Beispiel einer Spinnenphobie - trifft das oft zu. Da die Mehrzahl psychiatrischer Probleme aber komplex ist, kam die Klassische Verhaltenstherapie an ihre Grenzen. Unter dem Namen Kognitive Verhaltenstherapie hat sich heute eine Fortentwicklung etabliert, die Bewusstseinsprozesse durch Betrach­tung der kognitiven Hintergründe dysfunktionalen Verhaltens ausdrücklich miteinbezieht. Die Effektivität verhaltenstherapeutischer Maßnahmen wurde dadurch erhöht und ihr Themenspektrum auf komplexe psychiatrische Konstellationen erweitert.

2.6. Aufdeckende Verfahren

Das erste aufdeckende Verfahren, das als spezielle Psychotherapiemethode entworfen wurde, war die Psychoanalyse. Sie kann als Mutter der aufdeckenden Verfahren gel­ten. Grundidee aufdeckender Verfahren ist die Vorstellung, dass psychische Symptome Resultat unbewusster oder unverstandener innerseelischer Prozesse sind. Indem Unbewusstes aufgedeckt, also bewusst gemacht und dadurch verstehbar wird, kommt es zur Veränderung des Selbstbilds, woraus sich dann funktionale Verhaltensweisen ergeben.

Die Klassische Psychoanalyse litt unter der Festlegung auf theoretische Konzepte, die Freud für alle Analytiker verbindlich machen wollte. Dazu gehören die herausragende Bedeutung...

Aus dem Widerspruch gegen Freuds einseitige Interpreta­tionen entstand eine Vielzahl therapeutischer Schulen und schließlich ein aufdecken­der Ansatz, der unter dem Namen Tiefenpsychologische Psychotherapie das aufdeck­ende Grundprinzip schulübergreifend anwendet.

Viele Methoden der Humanistischen Psychologie (Gestalttherapie, Psychodrama, Transaktionsanalyse) vertrauen ebenfalls in großem Maße aufdeckenden Effekten. Auch deren Erkenntnisse sind in das Spektrum der tiefenpsychologischen Ansätze eingeflossen.

Verhaltenstherapie (VT) und Psychotherapie (PT)
Zwei ungleiche Brüder

Obwohl verhaltenstherapeutische und aufdeckende Ansätze in der Praxis oft kombiniert werden, entsprechen beide kategorisch verschiedenen Mustern. Beide streben Wohlbefinden an. Aber...

Verhaltenstherapie steuert auf das zu, was bewirkt werden soll. Psychotherapie deckt auf, was wirkt. Verhaltenstherapie formt den objektivierbaren Pol des Patienten. Psychotherapie zeigt dem formlosen Pol wie der objektivierte funktioniert.

Verhaltenstherapie Psychotherapie
Die Verhaltenstherapie sieht den Patienten als Rollenspieler, der durch sein Verhalten Wirkungen erzielt. Sind die Wirkungen zum Vorteil der Person, nennt sie sie funktional. Sie übt gezielt nützliches Verhalten ein. Aufdeckende Therapie versucht, das relativen Selbst der Person zu erkennen, das hinter ihrem Verhalten verborgen liegt. Sie versucht zu ergründen, wie das Verhalten aus dem Selbstbild entsteht.
Der Begriff funktional zeigt an, dass die Verhaltenstherapie den Patienten als Mechanismus betrachtet, der durch Anpassung optimiert werden kann. Der Begriff aufdeckend zeigt an, dass das Selbst des Patienten freigelegt, aber nicht angepasst werden soll.
Verhaltenstherapie richtet das Sosein der Person an der Wirkung aus, die erzielt werden soll. Aufdeckende Verfahren richten den Patienten nicht an konkreter Wirkung aus. Sie decken auf, was ungeachtet erwünschter Wirkungen gegeben ist.
Verhaltenstherapie greift in den Lauf der Dinge ein. Psychotherapie setzt Identitäten frei. Sie sieht, versteht und nimmt an. Sie vertraut darauf, dass Selbsterkenntnis Prozesse in Gang setzt, die zu erfolgreichem Handeln führen.
Zielführende Fragen
  • Was muss ich tun, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen?
  • Wie muss ich sein, um Vorteile zu erlangen?
  • Was muss ich tun, um so und so zu werden?
  • Was geht in meinem Inneren vor?
  • Wie bin ich tatsächlich?
  • Was sind meine Motive?
  • Wie kommt es dazu, dass ich mich so und so verhalte?
  • Entspricht das, was ich gerne wäre, dem, was ich tatsächlich bin?
  • Welche Ansichten über die Wirklichkeit hindern mich daran, mich wohlzufühlen?

2.7. Transpersonale Ansätze

Alle bisher genannten therapeutischen Ansätze haben eins gemeinsam: Sie fokussieren die als separate Einheit gedachte Person und versuchen, deren Funktionsweise zu be­einflussen. Dem steht ein anderer gedanklicher Ansatz gegenüber; der, dass seelische Erkrankungen durch die übermäßige Einengung des Bewusstseins auf persönliche Belange wesentlich mitverursacht werden.

Was diesem Gedanken logisch entspringt, ist eine transpersonale Betrachtung des Selbst und der Versuch, seelische Erkrankungen gerade dadurch zu heilen, dass die Bedeutung der Person zum Wohle ihres Selbst relativiert wird. Damit mündet die Psychiatrie in die Themenwelt der Spiritualität.

Tatsächlich ist dieser therapeutische Absatz nicht neu. Genau betrachtet ist er der älteste überhaupt. Meditations- und Kontemplationsmethoden, die nicht ausdrücklich auf die Begegnung mit einer Gottesperson abzielen, sind im Grunde aufdeckende Thera­pieverfahren. Sie versuchen die Dynamik des relativen Selbst zu erkennen und durch Des-identifikation eine Übereinstimmung mit dem absoluten Selbst zu verwirklichen. Ihre Kernmethode, absichtslose Achtsamkeit nach innen, wird zunehmend als wesent­licher Hebel seelischer Gesundung erkannt.