Erziehung


  1. Begriffsbestimmung
    1. 1.1. Erziehung oder Fürsorge
  2. Funktionen der Erziehung
    1. 2.1. Förderung des Erzogenen
    2. 2.2. Anpassung des Erzogenen
      1. 2.2.1. Anpassung an die Strukturen des Umfelds
      2. 2.2.2. Anpassung die Bedürfnisse des Erziehers
  3. Ausgangspunkt
  4. Risiken
    1. 4.1. Fehlende Voraussicht
    2. 4.2. Fehlendes Fachwissen
    3. 4.3. Fehlende Selbsterkenntnis
    4. 4.4. Überschätzte Formbarkeit
  5. Hierarchie und Wertschätzung
    1. 5.1. Gewalt
    2. 5.2. Vermeintliche Fürsorge
    3. 5.3. Erziehung und Erfahrung
  6. Alternativen
    1. 6.1. Vorbild
    2. 6.2. Kommunikation
    3. 6.3. Selbstverteidigung
Die bloße Ausrichtung des Erzogenen an kulturellen Normen, die vom Umfeld vorgegeben werden, ist Missbrauch. Erziehung ist nur dann kein Missbrauch, wenn sie am Kind nicht zieht, sondern es ermutigt, seiner Individualität gemäß zum eigenen Vorteil zu handeln.

Seien Sie klug

Verlangen Sie von Ihrem Kind keinen Dank dafür, dass Sie es versorgten. Seien Sie dem Schicksal dafür dankbar, dass Sie es versorgen durften. Als Gläubiger ärgert man sich über vermeintlich unbeglichene Schuld. Dank ist der Weg in den Himmel.

1. Begriffsbestimmung

Erziehen setzt sich aus dem Verb ziehen und der Vorsilbe er- zusammen. Der Sinn des Verbs ist unmittelbar verständlich. Der Sinn der Vorsilbe lässt sich anhand einiger Beispiele beleuchten:

Die Beispiele zeigen die Funktion der Vorsilbe er-. Er- benennt Vorgänge, die bestimmte Veränderungen bewirken. Sie weist sowohl auf den Vorgang als auch auf dessen Ziel in der Zukunft hin. Die spezifische Qualität der Veränderung wird durch den nachfolgenden Bestandteil des Wortes definiert.

Bei der Erziehung setzen Zugkräfte an...

  1. die von außen auf den Erzogenen einwirken.
  2. die die Absicht verfolgen, dessen Entwicklung auf vorherbestimmte Ziele hinzulenken.
1.1. Erziehung oder Fürsorge

Nicht alles, was Eltern im Umgang mit Kindern tun, ist Erziehung. Ein großer Teil davon ist Fürsorge.

Zwei Umgangsarten

Gärtnerei oder Landschaftspflege... Der Gärtner geht von seinen Bedürfnissen aus. Er beschneidet die Bäume im Garten so, dass der Ertrag, der ihm zufällt, wächst. Der Landschaftspfleger verschafft Bäumen den Platz, der ihrem Wesen entspricht. Der eine ist an sich selbst interessiert, der andere an dem, womit er umgeht.

2. Funktionen der Erziehung

Die Mehrzahl der Erzieher handelt im Glauben, Erziehung diene grundsätzlich dem Wohl des Erzogenen. Oft ist das so. Oft ist es zumindest die Absicht derer, die erziehen.

Wenig beachtet wird die Tatsache, dass Erziehung ebenso oft nicht am Wohl des Erzogenen ausgerichtet ist, sondern an dem der Erzieher; oder des Umfelds, dessen Teil der Erzieher ist. Erzieher formen Schutzbefohlene dergestalt, dass deren Verhalten mit den Interessen des Erziehers übereinstimmt. Dazu sagen sie: Das ist alles nur zu deinem Besten. Später wirst du mir dankbar sein.

Tatsächlich dient Erziehung zwei unterschiedlichen Motiven deren Zielsetzung sich teils ergänzt, teils widerspricht:

  1. der Förderung des Erzogenen
  2. der Anpassung, Eingrenzung und Beherrschung, also der Formung des Erzogenen

Die fördernde Absicht steht auf der Seite des Schutzbefohlenen, die formende steht ihm gegenüber.

2.1. Förderung des Erzogenen

Fördern ist eine Steigerungsform des Adverbs fort. Fort geht auf das mittel­hochdeutsche vort = vorwärts zurück. Fördern heißt somit nach vorne bringen.

Dient Erziehung unmittelbar dem Wohl des Erzogenen, bringt sie dessen Eigendynamik nach vorne. Sie...

2.2. Anpassung des Erzogenen

Die Anpassung des Erzogenen an Bedürfnisse, Erwartungen und Strukturen, die nicht unmittelbar in ihm selbst verankert sind, lässt sich zwei Bereichen zuordnen:

  1. Anpassung an soziale, kulturelle und politische Strukturen
  2. Anpassung an individuelle Erwartungen und Bedürfnisse der Erzieher
Traditionen I
Traditionen wurzeln in alten Zeiten. Sonst wären sie keine Tradition. In prähistorischen Zeiten waren Gruppen Kampfgemeinschaften, deren Überleben vom Zusammenhalt abhing. Deshalb sind alte Traditionen meist militärisch organisiert. Die Unterordnung des Einzelnen unter kollektive Interessen dominiert. Wo es in Wüste und Savanne ums Überleben geht, bleibt die Idee individueller Selbstbestimmung in ihrem Saatkorn stecken. Sie keimt erst aus, wenn die Angst, die Gehorsam erzwingt, überwunden werden kann.
2.2.1. Anpassung an die Strukturen des Umfelds

Kaum jemand wird in eine Welt geboren, in der er nur sich selbst und seinen Eltern begegnet. Das Leben findet in einem Umfeld statt, das durch soziale, kulturelle und politische Strukturen reich gegliedert ist. Die Strukturen dieses Umfelds sind dem Neugeborenen unbekannt.

Kenntnis oder Unterordnung

Eltern können Kindern Kenntnisse über kulturelle Muster und soziale Regeln vermitteln. Oder sie können darauf dringen, dass sich das Kind solchen Mustern und Regeln unterwirft.

Gewiss: Auch wenn der Erzieher sich um eine Anpassung des Erzogenen an vorgegebene Strukturen nicht kümmert, wird der Erzogene diesen Strukturen durch die spontane Aktivität seiner Impulse begegnen. Notgedrungen wird er sich in der Folge von selbst an die Außenwelt anpassen;... oder gegebenenfalls Schaden nehmen.

Meist übernehmen Erzieher hier Verantwortung. Sie weisen vorsorglich auf Strukturen hin und üben Druck auf den Erzogenen aus, damit dieser die Strukturen für sich nutzt und beachtet.

Traditionen II
Kulturelle Traditionen legen Wert darauf, die spontane Entwicklungsdynamik des Einzelnen zugunsten einer Anpassung an traditionelle Weltanschauungen einzuschränken. Diese Vorgabe ist es, die es entsprechenden Welt­anschauungen ermöglicht, sich als Tradition zu verfestigen.

Zum Wesen ausgeformter Traditionen gehört meist zweierlei:

  1. Sie messen dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen wenig Bedeutung zu.
  2. Sie legen großen Wert darauf, Kinder möglichst frühzeitig und umfassend im Interesse der Tradition zu prägen.

Weltanschauungen, die dem Wesen des Individuums gerecht werden, sind grundsätzlich defensiv. Sie versuchen niemals, sich anderen aufzuzwingen. Sie entwerten niemanden, der ihre Richtigkeit bezweifelt. Ist eine Weltanschauung der Meinung, dass sie zweifelsfrei richtig ist, ist sie wahrscheinlich falsch.

Grundregeln

  1. Je unreifer eine Tradition ist, desto lauter pocht sie auf den Respekt vor sich selbst.

  2. Je falscher eine Weltanschauung ist, desto aggressiver wird sie durch ihre Anhänger verbreitet.

2.2.2. Anpassung an die Bedürfnisse des Erziehers

Erzieher nehmen oft an, in ihrer Funktion als Erzieher seien sie selbstlose Beschützer und Lenker ihrer Schutzbefohlenen. Dementsprechend sind viele über deren mangelnde Dankbarkeit verärgert. Tatsächlich ist Erziehung aber kaum je selbstlos. Tatsächlich ist Erziehung eine komplexe interpersonelle Interaktion. Tatsächlich tritt jeder Erzieher mit Erwartungen und Bedürfnissen an den Erzogenen heran, deren Erfüllung er im eigenen Interesse und keineswegs in dem des Erzogenen fordert. Da viele Erzieher sich ihrer Motive nur wenig bewusst sind, verwechseln sie Eigennutz mit Pflichterfüllung und fordern für den Eigennutz noch Dankbarkeit.

Funktionen der Erziehung

Förderung Formung
Anpassung an das soziale Umfeld Anpassung an die Bedürfnisse des Erziehers
Schafft Raum für die Impulse des Geförderten Grenzt Impulse des Erzogenen im Interesse des Umfelds ein.
Legt den Schwerpunkt auf Selbst­bestimmung Legt den Schwer­punkt auf Zuge­hörigkeit Legt den Schwer­punkt auf Unter­ordnung
Tue, was mit Dir überein­stimmt. Tue, was passt. Tue, was ich will.

3. Ausgangspunkt

Erziehung ist absichtliche Einwirkung auf die Entwicklungs­dynamik eines anderen. Insofern sich Erziehung nicht nur in der Beherrschung des Anderen erschöpft, denkt sie dessen Vorteil mit. Ausgangspunkt jeder wohlmeinenden Erziehung ist die Annahme, dass der Erzieher in der Lage ist, die Entwicklung des Erzogenen zu dessen Vorteil zu steuern.

Erziehung findet im Jetzt statt. Zugleich ist sie stets auf die Zukunft gerichtet. Sie soll den Erzogenen befähigen, in der Zukunft erfolgreicher zu sein, als er es ohne Eingriff von außen wäre.

Erfolgreiche Erziehung im Interesse des Erzogenen setzt voraus, dass der Erzieher...

  1. weiß, welchen Lebensbedingungen der Erzogene in der Zukunft begegnen wird.
  2. weiß, welche Erziehungsmaßnahme den Erzogenen so beeinflusst, dass er zukünftige Bedingungen besser meistern kann.
  3. sein eigenes Interesse von dem des Erzogenen unterscheidet.
Ich-Grenzen-Störung
Kaum jemand ist in der Lage, vollständig zwischen sich und den anderen zu unterscheiden. Oft kommt es zu projektiven Identifikationen, die das Zusammenleben durch verdeckte Machtkämpfe überschatten. Eine wesentliche Ursache solcher Störungen sind pädagogische Einflüsse durch Erzieher, die nicht in der Lage sind, ihr Eigen­interesse zu erkennen. Statt zu sagen: Das ist zu meinem Vorteil, halten sie die Erzogenen dazu an, Denkmuster als Introjekte zu verinnerlichen, die nicht dem Erzogenen dienen, sondern dem Erzieher oder dem weltanschaulichen Kontext, dem dessen Denkmuster entspringen.

4. Risiken

Erziehung ist gefährlich. Missratene Erziehung stürzt Menschen ins Unglück, zerrüttet Familien, fördert Drogenkonsum, Menschenverachtung und Gottlosigkeit, entzweit Nationen und Kulturkreise und führt zum Bau von Konzentrationslagern.

Während kaum jemand bezweifelt, dass man sich sachkundig macht, bevor man den PC mit einer Steckkarte aufrüstet, geht der Mensch gemeinhin davon aus, dass dem Gehirn werdender Eltern die Fähigkeit förderlicher Erziehung beim Zeugungsakt ebenso zuverlässig eingeflößt wird, wie das Sperma der Gebärmutter. Das ist ein Trugschluss.

Vier Problemfelder sind als Ursachen schädlicher Erziehung auszumachen:

  1. fehlende Voraussicht
  2. fehlendes Fachwissen
  3. fehlende Selbsterkenntnis
  4. Überschätzung der gezielten Formbarkeit des Menschen
Viele werden auf etwas vorbereitet, was nie eintritt.

Auf viele wirken Kräfte ein, die nicht oder gar das Gegenteil von dem bewirken, was sie bewirken sollen.

Viele sind Erziehern ausgeliefert, deren Augen ständig offenstehen und doch nicht sehen.

Man muss nicht glauben, dass man nach Gutdünken gesunde Persönlichkeiten formen kann. In jedem Menschen gibt es eine Kraft, die sich aus guten Gründen gegen das Erzogenwerden wehrt.
4.1. Fehlende Voraussicht

Erziehung formt für die Zukunft. Wie aber wird sie werden? Welchen Problemen wird das Kind später begegnen? Hier zeigt sich ein Problem. Je schneller die Entwicklung der Menschheit voranschreitet, desto schwerer ist es, Bedingungen vorherzusagen, auf die der Erzogene vorbereitet werden soll.

Zum Glück gibt es aber auch Verhaltensmuster, deren Nutzwert wohl niemals überholt sein wird: Achtsamkeit, Sorgfalt, Nachsicht, Ausdauer, Beharrlichkeit, Verlässlichkeit, Großzügigkeit, Rechtschaffenheit und die Treue zu sich selbst. Eltern, die ihren Kindern solche Muster anempfehlen, liegen damit selten falsch.

Eines der wirksamsten Mittel, Kindern verlässlich wertvolle Verhaltens­muster anzuempfehlen, ist es, sie selbst zu praktizieren.

4.2. Fehlendes Fachwissen

Selbst wenn der Erzieher mit seiner Einschätzung der künftigen Bedingungen richtigliegt, ist keineswegs sicher, dass er Erziehungsmaßnahmen kennt, die die individuelle Entwicklung seines Zöglings entsprechend bahnen.

Je nachdem, wie man es macht, kann der Versuch, ein Kind zur Sorgfalt zu erziehen, das Gegenteil bewirken. Wer ständig auf solidarisches Verhalten pocht, züchtet womöglich einen Widerwillen gegen Gemeinschaftlichkeit heran.

Unerwünschte Nebenwirkungen

Aus jemandem einen guten Menschen machen zu wollen, ist riskant. Wer es versucht, maßt sich das Recht an, über einen anderen zu bestimmen und unterstellt, dass der ohne Eingriff schlecht ist. Zur Logik der Verbesserung gehört, dass sich der Verbesserer für etwas Besseres hält. Er setzt den Anderen herab. Aus vielen, die zum Guten erzogen werden sollten, wurde gerade deshalb etwas Böses. Das Böse vieler, die man zum Guten zwingen will, ist ein missglückter Versuch, die eigene Würde zu retten.

4.3. Fehlende Selbsterkenntnis

Der größte Schaden kopflosen Erziehens entspringt dem mangelnden Selbst­bewusstsein der Erzieher. Der weltanschauliche Horizont vieler Erzieher ist seinerseits Resultat verinnerlichter Erziehungsbotschaften, über die der Himmel bittere Tränen weint.

So kommt es, dass Erzieher versuchen, Kindern Muster aufzuzwingen, deren Berechtigung sie einzig daraus abzuleiten scheinen, dass man ihnen einst die gleichen Muster aufgezwungen hat. Die Unterwerfung der eigenen Kinder dient dann der Rechtfertigung des eigenen Unterworfenseins.

Ermahnung oder Respekt
Den meisten geht es wie Aristoteles (Nikomachische Ethik: Buch II, Kapitel 1, Satz 5). Sie betrachten den Menschen als Objekt und glauben, er sei Person. Deshalb glauben sie auch, man könne ihn von außen zur Tugend zwingen. Absichtlich formender Einfluss von außen erzeugt jedoch keine Tugend, sondern Gehorsam. Gehorsam ist ein Kalkül, das den bloßen Eigennutz im Auge behält. Tatsächliche Tugend ist ein spontanes Gutsein von innen heraus.

Im dualistischen Wirklichkeitsmodell ist Moral ein bipolares Regelwerk. Dem Du sollst steht das Du sollst nicht gegenüber. Das Modell übersieht das Individuum bzw. ordnet es der Regel unter. Damit formuliert Moral allgemeine Leitlinien, sie wird in vielen Fällen der Wirklichkeit aber nicht gerecht.

Auch für Aristoteles war das Individuum ein Gegenstand; und damit ein Fall. Der Einzelne ist aber nicht nur Fall, sondern zugleich Prinzip. Aller Wert, der ihm überhaupt zugeschrieben werden kann, liegt darin, dass er genau das ist.

Die Neigung von Menschen, reaktiv zu den Absichten ihrer Erzieher ins Gegenteil zu entgleiten, mag erschrecken. Beispiele sind Nero und Seneca sowie Aristoteles und Alexander. Zugleich ist sie aber Signal. Sie erinnert daran, dass der Mensch kein Objekt ist, dem ein echtes oder vermeintliches Gutsein von außen beliebig angeformt werden kann. Die Fähigkeit des Menschen, trotz gutgemeintem Einfluss von außen ins Böse zu entgleiten, ist auch Ausdruck seiner Teilhabe am göttlichen Potenzial zur Selbstbestimmtheit. Sie ist, wenn auch ein missratender, Ausdruck der Tatsache, dass er wesenhaft mehr als Objekt ist.

Nicht die Ermahnung fördert Tugend, sondern der Respekt vor der Individualität des Einzelnen; also einer Einzigartigkeit, die Spiegelung seiner Wesensgleichheit mit dem Höchsten ist. Oberstes Prinzip im Umgang mit Kindern könnte deren Schutz vor fremder Willkür sein; ebenso wie der Schutz des Einzelnen vor kollektiver Willkür das führende Merkmal einer zivilen Gesellschaft ist.

Man irrt jedoch, sollte man glauben, die Einhaltung des obersten Prinzips wende alle Entwicklungen greifbar ins Positive. Das kann und darf sie nicht. Denn wäre sie dazu fähig, könnte sie manipulativ eingesetzt werden. Das oberste Prinzip steht über seiner Einhaltung, sodass es anerkannt, aber nicht willkürlich verwendet werden kann.

4.4. Überschätzte Formbarkeit

Gewiss: Viele vertrauen sich bereitwillig Autoritäten an. Sie richten ihr Verhalten nach deren Vorgaben aus. Solche Menschen sind durch Erziehung gut zu formen; zumindest an der Oberfläche. Denn tatsächlich werden sie nicht von außen wie Ton zu Töpfen geformt, sondern ihr Potenzial reagiert auf eine äußere Beschaffenheit. Die manipulative Potenz der Beschaffenheit beruht auf der Unkenntnis dessen, was vor sich geht.

Zwei Ebenen der Persönlichkeitsentwicklung
Vom Säugling bis zur ausgereiften Persönlichkeit ist es ein weiter Weg. Der Impuls von da nach dort bezieht Energie aus zwei Quellen:
  1. der spontanen Entwicklungsdynamik aus dem Kern der Existenz heraus
  2. der Interaktion mit dem sozialen Umfeld

Während die erste Kraftquelle im Selbst verankert ist und das tiefere Wesen des Individuums zum Ausdruck bringt, spielt sich die Interaktion mit dem Umfeld an den Oberflächen sozialer Rollenspiele ab.

Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster, die das Selbst zum Ausdruck bringen, neigen kaum zur Anpassung an die situativen Opportunitäten der egozentrischen Selbstverwaltung. Das Selbst ist, wie es ist, ohne zu fragen, was ihm das einbringt. Zum Selbst gehört ein Überschreibschutz. Es kann überdeckt, aber in seinem Wesen nicht willkürlich verändert werden.

Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster, die als Reaktion auf soziale Umstände entstehen, orientieren sich im Gegensatz dazu an der Aussicht auf Vorteile, die durch Anwendung des entsprechenden Musters zu erwarten sind. Das Ego ist Anwalt der Person. Es fragt: Was bringt es mir ein, so oder anders zu sein. Das Ego ist opportunistisch. Es nimmt die Form an, die Umständen entspricht.

Erziehung spielt sich als soziale Interaktion ab. Daher bleiben die Effekte, die sie bewirkt, meist an der Oberfläche. Tugenden, die anerzogen sind, sind oft Masken, hinter denen sich Widerspruch verbirgt.

Echte Tugenden, die mitgebracht oder von innen heraus entwickelt werden, sind stabiler als vermeintliche, die anerzogen sind.

Außerdem gehören nicht alle zum Typus derer, die ihr Heil im Vertrauen auf Autoritäten suchen und sich Zugehörigkeit spannungsarm durch Anpassung sichern. Für andere ist Selbstbestimmung wichtiger als Zugehörigkeit. Der erzieherische Eingriff von außen ist für solche Menschen ein ständiger Störfaktor, dessen notwendige Abwehr wertvolle Ressourcen verbraucht. Erziehung bewirkt bei ihnen oft paradoxe Resultate; wenn die Abwehr über das Ziel hinausschießt.

Augen, Angst und Macht

Augen können unterschiedliche Botschaften senden:

Die erste Variante entspricht der Erfahrung eines Kindes, das fürsorgliche Eltern hat. Von solchen Eltern gesehen zu werden, verheißt Sicherheit. Macht ein Kind solche Erfahrungen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es auch als Erwachsener keine überschießende Angst haben wird, wenn es ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerät.

Die zweite Variante entspricht der Erfahrung von Kindern, deren Eltern über ihren Lebensweg bestimmen wollen. Von solchen Eltern gesehen zu werden, bedeutet Gefahr: bewertet, manipuliert, bedroht und unter Druck gesetzt zu werden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Erwachsene, die ähnliches in der Kindheit erlebt haben, auf Augen mit Angst, Unsicherheit und Aggression reagieren. Nicht selten entwickeln sie eine Soziale Phobie. Fühlen sie sich im Blickfeld fremder Augenpaare, womöglich vieler zugleich, deuten sie das nicht als wohlmeinendes Interesse, sondern als Gefahr.

Fatalerweise wird die Angst des sozialphobischen Menschen nicht nur durch individual­psychologische Erfahrungen gespeist. Ihre Wucht entspringt oft dem kollektiven Unbewussten. Dort haben phylogenetische Erfahrungen unserer Spezies Spuren hinterlassen. Der Mensch ist zwar selbst zum Raubtier geworden, das seine Beute ins Blickfeld nimmt, eine Million Generationen lang war die Rollenverteilung aber eher umgekehrt: Das Raubtier sah den Affen, bevor er ihn riss. Die Angst ins Blickfeld anderer zu geraten, ist daher alt und fundamental. Betritt der Schauspieler die Bühne, wird er von hundert Augenpaaren fixiert. Sein Stammhirn erinnert sich: Es könnten Raubkatzen sein.

5. Hierarchie und Wertschätzung

Erziehungsverhältnisse sind hierarchisch. Von daher widersprechen sie über kurz oder lang der seelischen Gesundheit; die ohne Respekt vor Ebenbürtigkeit nicht auskommt. Der formende Druck von außen wirkt entlang eines Machtgefälles. Er verneint das Recht auf Selbstbestimmung, ohne das kein Mensch seelisch gesund sein kann.

Für den, der erzieht, ist es eine Herausforderung, der wachsenden Fähigkeit des Zöglings zur Selbstbestimmung nicht im Weg zu stehen. Die einen fesseln das Kind durch Verlustangst und übertriebene Vorsicht, andere aus Lust an der Macht.

Während die Hierarchie des Erziehungsverhältnisses an sich ein Schadenspotenzial in sich birgt, hat sie das erst recht, wenn der Erzieher Abwertungen einsetzt, um seinen Willen gegenüber dem Zögling durchzusetzen. Milliardenfach wurde mangelnde Folgsamkeit oder das Unvermögen des Zöglings, die Vorgaben der Erzieher zu erfüllen, mit Entwertung quittiert. Erziehung, die entwertet, ist reines Gift.

Drei elterliche Verhaltensmuster, die zu schweren Schäden führen können, sind hervorzuheben:

  1. Gewalt
  2. vermeintliche Fürsorge
  3. Ungeduld
5.1. Gewalt

Gewalt hat in der Erziehung überhaupt keinen Platz. Das heißt nicht, dass Schutzbe­fohlenen gegenüber Gewalt in bestimmten Fällen nicht doch anzuraten wäre. Das klingt paradox; aber nur, wenn man nicht unterscheidet.

Zu unterscheiden ist zwischen Erziehung und Fürsorge. Im Rahmen sinnvoller Fürsorge kann es erforderlich sein, ein Kind gegebenenfalls auch mit Gewalt davon abzuhalten, sich oder andere unmittelbar zu gefährden. Man wird weder tatenlos zuschauen, wie ein Kind trotzig die Autobahn zu überqueren versucht noch wie es übermütig von einer Brücke Autos mit Steinen bewirft.

Die Gewaltanwendung, die hier notwendig wird, hat denselben Charakter wie ein gewaltsamer Eingriff, der einen psychisch Kranken vor Eigen- oder Fremdgefährdung beschützt.

Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

5.2. Vermeintliche Fürsorge

Nicht jede Wohltat, die fürsorgliche Eltern ihren Kindern angedeihen lassen, dient tatsächlich deren Wohlergehen. Ein Zuviel an Fürsorglichkeit kann auch anderes bezwecken: den Fürsorger von der Sorge zu befreien, seiner Aufgabe etwas schuldig zu bleiben oder von der Sorge, dass das Leben die eigene Brut nicht wie rohe Eier durchs Dasein schleust und sie gegen den störenden Reiz jeder Erbse durch fünf Matratzen abschirmt.

Wer keine Sorge aushalten kann, ohne sofort etwas zu unternehmen, sollte sich überlegen, ob er wirklich Kinder haben will.

Wenn Ihr Kind Ihnen niemals Sorgen macht, sollten Sie überprüfen, ob man Ihnen im Kreissaal nicht einen Androiden untergeschoben hat.

Sogenannte Helikoptereltern, deren vermeintliche Fürsorglichkeit Kinder nahtlos überwacht und sie täglich mit Kunstdünger begießt, sorgen für ihr gutes Gewissen und die eigene Sorglosigkeit. Ob sie auch gut für ihre Kinder sorgen, ist in vielen Fällen zu bezweifeln.

Durch solcherlei Muster werden Kinder unselbständig gehalten und in eine Dankbarkeit gezwungen, die fehl am Platze ist. Das eine beschwichtigt die Verlustängste der Eltern, das andere erschwert es Kindern, den Lebensweg zu finden, der zu ihnen passt.

5.3. Erziehung und Erfahrung

Eltern haben Kindern Erfahrungen voraus. Wäre das nicht so, müssten sie gleichaltrig sein. Um dadurch zu Irrtümern verleitet zu werden, muss niemand unter neurotischer Fürsorglichkeit leiden. Es genügen Ungeduld und die Überschätzung pädagogischer Möglichkeiten. Es genügt zu übersehen, dass grundlegende Erfahrungen nicht durch Erziehung ersetzbar sind.

Gewiss: Ein wesentlicher Pluspunkt, der fürs Erziehen spricht, ist die Tatsache, dass das Rad nicht immer neu erfunden werden muss. Es macht wenig Sinn, ein Kind geöffneten Schnürsenkeln zu überlassen und zu warten, bis es die Lösung des Problems von alleine findet. Es macht auch keinen Sinn, ihm nicht von eigenen Erfahrungen zu berichten, die man mit den tausendfältigen Hürden gemacht hat, mit denen das Leben seine Insassen vor Langeweile schützt.

Dass Kulturtechniken ziemlich gut übermittelbar sind und Weisheit zumindest als beschreibende Schablone, heißt aber nicht, dass Erfahrungswege beliebig übersprungen werden können. Man muss Kindern Zeit lassen, Zeit, in der sie Stein für Stein ein eigenes Fundament bauen und womöglich dazu gezwungen sind, falsch eingebaute Steine im Nachhinein durch richtige zu ersetzen. Es ist mit einer gesunden Entwicklung unvereinbar, dass man werdenden Baumeistern Versuch und Irrtum grundsätzlich aus der Hand nimmt und das Abenteuer kreativer Entfaltung durch Leitlinien ausgefeilter Baupläne ersetzt. Jede Menschenführung führt zu Problemen, wenn sie zu viel führen will. Selbst, wenn man es noch so gut meint.

Förderpläne
Wen wundert es? Im Zeitalter der Prozessoptimierung ist auch das Kinderleben in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten. Kaum macht der Dreikäsehoch Schritte ins eigene Leben, wird er zum Objekt professioneller Entwicklungsförderung. Ver­halten wird beobachtet und dokumentiert. Teamsitzungen werden abgehalten. Berichte werden verfasst. Alles nur zum Besten des Kindes, dem optimierte Förderung schmerzhafte Erfahrungen ersparen soll. Die Absicht ist gut. Die Beachtung von Förderplänen bewirkt Gutes.

Was dabei übersehen zu werden droht, ist die Tatsache, dass seelische Entwicklungen Freiräume brauchen. Sie brauchen Freiräume, um Erfahrungen zu ermöglichen, die pädagogisch nicht zu steuern sind. Schulkarrieren und Studienpläne können gestrafft werden, um den Quotienten aus absorbiertem Know-how und verbrauch­ter Zeit von 27 : 64 auf 32 : 59 zu heben. Der Druck, dem man die Geförderten dabei aussetzt, könnte später aber Folgen haben. Römische Aquädukte und gotische Kathedralen wurden Stein auf Stein errichtet. Viele davon stehen heute noch. Gebäude, die man schnell hochzog, sind bereits zusammengebrochen.

6. Alternativen

Erziehung ist absichtlicher Eingriff von außen, der das Selbstbestimmungsrecht infrage stellt. Erziehung zieht und treibt damit an. Erziehung riskiert damit stets, schädlich zu sein. Deshalb gilt: so viel, wie nötig, so wenig, wie möglich.

Dass wenig Erziehung oft heilsamer ist als zu viel, heißt jedoch nicht, dass man sich mit Kindern nicht intensiv befassen sollte; zumindest falls man ihre Entwicklung positiv beeinflussen will. Drei Mittel wirksamer Einflussnahme sind...

  1. Vorbildfunktion
  2. Kommunikation
  3. Selbstverteidigung
Glauben Sie nicht, dass ein vorbildliches Verhalten Ihr Kind verpflichtet, dem Vorbild zu folgen. Zu seiner Selbstfindung kann es gehören, dass es das Gegenteil des Vorbilds tut. Wenn das Vorbild aber nicht nur Werkzeug ist, um das Kind zu steuern, sondern gelebter Wesensaus­druck des Erziehers, ist die Chance groß, dass das Kind später sagt: Der Alte hatte Recht.
6.1. Vorbildfunktion

Besser als Kindern zu sagen, was der Mensch tun sollte, ist es, sich selbst so zu verhalten, wie man es für richtig hält.

Befehle trennen. Kommunikation verbindet.
6.2. Kommunikation

Räum Dein Zimmer auf! Das ist ein Befehl, aber keine Kommunikation. Kommunikation heißt Informationen zur Verfügung zu stellen, damit sich der Informierte besser orientieren kann.

Im Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen spielt der Informationsaustausch über Gefühle, Motive und Sichtweisen der Beteiligten eine wichtige Rolle. Dazu bedarf es der Einsicht in das eigene Seelenleben und des nüchtern-beschreibenden Ausdrucks dessen, was man dort entdeckt.

Je weniger sich der Erzieher dem Kind als Wand darbietet, aus der Anweisungen her­vorbrechen wie Fledermäuse aus Karsthöhlen, und je mehr er Motive, Zweifel, Sicht­weisen und Schlussfolgerungen bezüglich der von ihm selbst für richtig befundenen Lebens­führung sichtbar machen kann, desto eher entwickelt das Kind ein Interesse an der bewussten Reflektion seiner Verhaltensmuster. Und je mehr es reflektiert, desto klüger werden die Muster sein, die es selbst für richtig hält.

6.3. Selbstverteidigung

Fürsorge heißt nicht, dass man dem Kind jeden Wunsch erfüllen müsste. Fürsorge heißt auch nicht, dass man auf Dauer beliebig verfügbar ist. Beliebige Verfügbarkeit ist allenfalls für Säuglinge ein geeignetes Maß an Elternschaft. Je älter das Kind wird, desto mehr nützt es allen, ihm nicht als Vollstrecker einer perfekten Mutter- oder Vaterrolle zu begegnen, sondern als realer Mensch mit Eigenheiten, Begrenzungen, Bedürfnissen und persönlichen Interessen.

Grenzen

Viele Erzieher glauben, man müsse Kindern deren Grenzen zeigen. Kluge Erzieher wissen, dass man Kindern bei Gefahr Grenzen setzen muss, dass man dem Kind aber nicht die Grenzen des Kindes, sondern die Grenzen des Erziehers zeigen sollte. Kluge Erzieher haben den Mut, auf die eigenen Grenzen zu verweisen, sie überlassen es aber dem Leben, Kindern zu zeigen, wo deren Grenzen sind. Sinn der Erziehung ist es nicht, Freiheit zu begrenzen, sondern Freiheit zu ermöglichen.

Dass man in die Irre geht, wenn man sich zum Herrscher aufschwingt, heißt nicht, dass man Diener werden sollte. Das Mittel der Wahl zur Abwehr der Dienstbotenrolle ist aber nicht erzieherische Manipulation, sondern unbefangene Selbstverteidigung. Stellen Sie fest, was Ihnen persönlich wichtig ist. Stehen Sie dazu.

Klein-Gernot und die Blumenvase

Es mag sein, dass Ihr Sprössling die Porzellanvase aus der Ming-Dynastie, die Ihr Urururgroßvater Marco aus China mitgebracht hat, gerne durchs Wohnzimmer kegeln würde...

Langfristig macht die zweite Variante das Leben leichter, weil Sie sich mit dem Kind nicht in einen Machtkampf darüber einlassen, was in seinem Inneren vor sich zu gehen hat, sondern Ihre faktische Macht dazu benutzen, im gemeinsamen Äußeren für sich einzustehen... und die Vase verlässlich zu retten.

Langer Rede, kurzer Sinn: Wenn Sie Ihrem Kind sagen: Bleib Dir treu und wenn Sie ihm vorleben, wie das geht, gibt es Milliarden Eltern, die es schlechter machen als Sie.